Schule des Rades
Hermann Keyserling
Südamerikanische Meditationen
IX. Die emotionale Ordnung
Generosität
Um dieser dem Verstand so schwer einleuchtenden emotionalen Ordnung nahezukommen, beginne ich besser nicht mit ihrer Grundlage, sondern mit solchen ihrer Äußerungen, die wir Europäer, oder genauer: wir europäischen Männer unwillkürlich in Funktion geistiger Ideale deuten. Und wieder sei ein konkretes Beispiel vorangestellt. In Buenos Aires gibt es erstaunlich viele Existenzen, welche zunächst den Prishiwalschtschiki Alt-Russlands, deren Urbild Gogol in den Gestalten Bobdschinskys und Dobschinskys so klassisch gezeichnet, gleichen, d. h. lebenslänglichen Gästen oder Nassauern
. Tatsächlich werden sie von ihren Freunden ausgehalten. Doch dies geschieht aus einem so echten und schönen Freundschaftsgefühl heraus, wie es die nordische Welt seit ihrer Kommerzialisierung überhaupt nicht mehr kennt; es geschieht aus so selbstverständlicher Neigung, dass sogar der einigermaßen einsichtige Fremde hier die Frage des Schmarotzertums ebensowenig aufwirft, wie bei der Frau in bezug auf den ihren Unterhalt bestreitenden Gatten. Wo einem in Europa äußerlich Ähnliches begegnet, da ist es nicht Ausdruck von Sympathie, sondern von Kastengeist; unter allen Umständen von geistgesetzter Bindung. Die englische loyalty z. B. ist ein ebenso Geistgeborenes, wie eine metaphysische Überzeugung oder eine Spielregel; es gehört zum Wesen besagter Bindungen, dass sie unabhängig vom Gefühl gelten. Nichts dergleichen in Südamerika. Loyalität, Verlässlichkeit, Treue im europäischen Verstande gibt es dort nur ausnahmsweise. Dafür aber spielt das Gefühl an sich in allen Lebensbeziehungen eine solche Rolle, dass sich daraus eine Allgemein-Atmosphäre ergibt, in welcher die Eigengesetze des Gefühls sich selbstverständlich auswirken, intellektualistische, moralistische und utilitarische Erwägungen dagegen gar nicht gedeihen.
Den Weg vom Schmarotzer, welcher kein Schmarotzer ist, über den echten Freund zu den sublimsten Ausdrucksformen des gleichen Grundverhältnisses findet auf Grund des Gesagten jeder leicht für sich. Mir nun verhalf gerade der absonderliche Sonderfall zur Einsicht in das Allgemeine und Grundsätzliche. Es gibt eine völlig irrationale Ordnung, welche sich, wo sie besteht, mit der Selbstverständlichkeit — eines Naturgesetzes auswirkt, doch auf geistige Werte an sich nicht zu beziehen ist, obschon sie zum Vehikel höchster Sinnesverwirklichung dienen kann. Wird sie jedoch auf Werte bezogen, dann stellt sich als einzig mögliches Verbindungsglied der Begriff des Sollens
ein. Alle höhere Ethik lehrt: der Mensch soll geben, ohne wiedernehmen zu wollen. Die sinngemäße Fassung des Gleichen, soweit es wahr ist, lautet anders: wo immer echte Freundschaft oder Liebe bestimmt, ist es absurd, Gegenleistung zu fordern. So muss man es sagen, denn Sollen
kann es auf nichtrationalem Gebiet nicht geben. Und niemals bindet solches Sollen wie ein Gesetz, denn keine Gewalt, die Zuwiderhandlungen strafen könnte, steht auf Erden dahinter. Der diesbezügliche Urteilsfehler ist eins der Hauptgebrechen des Christentums. Unmöglich kann Sünde oder strafwürdiges Verbrechen sein, was nicht von Einsicht und Wille abhängt. Und ausgerechnet hier ewige Pein als Strafe für Verfehlung zu statuieren, ist wohl die übelste Äußerung formal-juristischen Verstandes, nur dadurch entschuldbar, dass das Unbewusste die Unmöglichkeit der Durchführung des Gesollten durch ungeheuerliche Strafandrohung zu kompensieren sucht. In Wahrheit liegen die Dinge so: Gefühl strömt seiner Natur nach aus; sein Dasein steht und fällt mit Geben; sein ganzer Sinn liegt darin, auch wo es, von außen her betrachtet, ein Genießen oder Erleiden ist. Liebe vergelten wollen, bedeutet tiefste Kränkung. Hier liegt kein Sittengesetz
vor, es ist so, vom ersten Erwachen des ersten echten Gefühles an. Zur Verdeutlichung ein schönes, wenngleich übertriebenes Beispiel: eine Brasilianerin hatte sich blitzartig, mit jener überschwenglichen sich überstürzenden keine Grenze kennenden jede Vorsicht vergessenden Leidenschaft, welche für Südamerika charakteristisch ist, in einen Mann verliebt. Wie dieser ihr tags darauf Blumen brachte — erschoß sie ihn: sie sah schon darin eine Absicht, sie zu bezahlen, d. h. als Hure zu behandeln. Doch es ist nicht nur beleidigend, es ist unmöglich, Gefühl zu vergelten
; es kann nur erwidert werden; das allgemeine Naturgesetz des Ausgleichs oder der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung äußert sich auf dem Gebiet der Gefühle so, dass jeder den Anspruch auf Sym-Pathie, d. h. auf Mit-Erleiden, Mit-Klingen erhebt. Daher der tödliche Hass, in welchen verschmähte Liebe so leicht umschlägt. Die Frage des Interesses im üblichen Sinn hingegen kann sich gar nicht stellen. Deswegen hat echtes Gefühlsleben seinen einen völlig eindeutigen Exponenten im Désinteressement, alias in der Generosität (ich brauche hier zwei Fremdworte zur genauen Bestimmung des Sinns, da es eine eindeutige deutsche Bezeichnung des Gemeinten nicht gibt; auf französisch würde générosité, auf spanisch desprendimiento genügen). Wieder ist hier mit der Kategorie des Sollens gar nichts anzufangen: man soll nicht desinteressiert sein, denn keiner kann solches befehlen, sondern wer da fühlt, der ist desinteressiert; fühlt einer nicht, dann ist er es selbstverständlich nicht, und Gefühle sind auch nicht zu kommandieren. Goethe sang:
Wenn ich dich liebe, was geht’s dich an?
So muss jeder fühlen, der auf gleiche Art und in gleichem Grade liebt. Und ebenso selbstverständlich mag einer aus Hass zu einem anderen sich selbst morden, oder um Rache zu üben, sich und die Seinen ruinieren. In allen diesen Fällen handelt es sich um das ursprüngliche Fehlen jeder Interessiertheit. Mag ein Liebhaber im übrigen noch so begehren und besitzen wollen, als Fühlender ist er notwendig uninteressiert. Daher die typische Erscheinung, dass der erstmalig in Liebe Schwelgende kein Begehren kennt. Bildet sich nun Geist positivem Gefühle ein, dann entsteht im Höchstfall Sublimes, welches leicht den Eindruck des Heiligen, ja Übernatürlichen weckt. Es ist übernatürlich
, da es irrational und insofern unerklärlich ist. Tatsächlich aber gehört das für den Heiligen Charakteristische als Daseinsform zum Wesen jedes echten Gefühls. In diesem Sinn sind z. B. die Franzosen wesentlich generös, trotz aller Kälte und Härte, die sie im Verfolgen ihrer Ziele und Interessen beweisen: sie sind nur an der Oberfläche ein intellektuelles, in ihrer Tiefe jedoch ein emotionelles Volk. So eng und hart sie erscheinen, wo sie sich ihrer Logik verschreiben, die in bezug auf ihre Seele, genau besehen, ein Äußerliches und Minderwertiges ist: wo immer sie aus Gefühl handeln, sind sie wirklich desinteressiert. In dieser Generosität liegt auch die Natur-Wurzel der christlichen Liebe. Sobald echte Liebe im Spiel ist, will der Mensch rein schenken, um keinen Preis verkaufen, rein geschenkt bekommen, um keinen Preis verdienen; daher, in spiritueller Transposition, das Primat der Gnade vor der Gerechtigkeit. Der Mensch will da alles hingeben, was er hat und ist, und fühlt sich missverstanden und zutiefst verletzt, wenn seitens des geliebten Wesens auch nur das geringste Verdienst darin gesehen wird. Aus dem gleichen Grunde ist im Zusammenhang des hier Betrachteten auch der Opferbegriff verfehlt. Die Griechen wussten noch, was Vaterlandsliebe bedeutet; den gefallenen Kämpfer bekränzten sie und freuten sich für ihn, ob sie auch selber weinten. Heute hat das Vorurteil, dass alles den Gesetzen von Verstand und Vernunft folgen muss, den meisten ihr eigenes Erleben undeutlich gemacht.
Diese Uninteressiertheit versteht Verstand am leichtesten aus der Erwägung heraus, dass Gefühl wesentlich blind ist. Es ist blind wie die Sonne, nicht wie die Nacht; es strahlt aus, doch erlebnismäßig genügt es sich selbst als bloßes Dasein; über sich selbst hinaus sieht es nicht und kann es nicht blicken. Es bedeutet ein grundlegendes Missverständnis, Gefühl mit irgendeiner Vorstellung und irgendeinem Bild in organischen Zusammenhang zu bringen; zum Wesen des Gefühls gehört gerade, dass es an sich von Vorstellung nicht abhängig ist; solche dient vielmehr dem Gefühle nur zum Anlass, sei es im Sinn des Auslösungsmittels oder des entsprechenden Gegenstands. Das typische Idealisieren des Geliebten beruht darauf, dass allein Idealisieren die Entsprechung herstellt. Insofern ist es durchaus logisch, obgleich der Vorgang völlig irrational ist, dass eine Liebe sterben kann, weil der Gegenstand dem Idealbilde nicht entspricht. Dies hat gar nichts mit echtem Wertgefühl zu tun. Hier gilt die Logik des Verses aus Chamissos Frauenliebe und -leben
:
Dass du mich liebst
Macht mich mir wert,
oder die des Gedankengangs: ich könnte diesen oder diese unmöglich lieben, wenn er oder sie nicht vollkommen wäre. Dass dem so ist, leuchtet vielleicht am leichtesten aus der Erwägung heraus ein, dass jeder Geliebte, ob Weib, ob Mann, ganz naiv von der doch ungeheuerlichen Voraussetzung ausgeht, einen unermeßlichen Wert zu verkörpern, für den keine Hingabe und kein Opfer zu groß ist. Wenn Gefühl wählt — wie etwa das Weibchen den Stärksten, das Männchen die Schönste vorzieht, und beide durch bestimmte moralische Eigenschaften angezogen, durch andere abgestoßen werden — so beruht das nicht auf Urteil, sondern auf unmittelbarer Entsprechung. Sonst müssten der Starke und die Schöne nicht längere Zeit werben, bis dass die Gefühlsbindung einsetzt: in beiden Fällen handelt es sich um die Herbeiführung von Verfallenheit. Schlechterdings widervernünftige Normen gelten auf diesem Gebiet, was denn, wo der Mensch nur verstandes- und vernunftgemäß zu denken vermag, zu den widersinnigsten Assoziationen führt. So glaubt ein Mann z. B. die Stärke seines Gefühls für eine Frau dadurch zu beweisen, dass er sie mit Juwelen besät — wo allenfalls Betonung des Unwesentlichen materiellen Werts das emotionell Gemeinte ins Intellektuelle richtig übersetzen würde. Zwischen Gefühl und Vorstellung besteht nie eine notwendige Verknüpfung, weil Gefühl an sich blind ist. Hier bezeichnet das materielle Interesse, welches echtes Gefühl nicht kennt, nur einen Sonderfall: wesentlich ist auch Interesse nichts anderes als ein Bild.