Schule des Rades

Hermann Keyserling

Südamerikanische Meditationen

IX. Die emotionale Ordnung

Sphäre der Gefühle

Denken wir von hier aus an Gana zurück, so dürfte, meine ich, auf Grund des Vorhergehenden ohne weitere Erläuterung einleuchten, dass die Welt der Gefühle unmittelbar aus derjenigen der Gana hervorwächst und direkt auf ihr fußt. Sie verhält sich zu dieser ähnlich, wie in der Mathematik eine Mannigfaltigkeit höherer Ordnung zu einer Mannigfaltigkeit niederer. Alle Elemente der Gefühlswelt sind Gana-entsprossen; deren Grundnormen gelten hier wie dort; viele Erscheinungsformen sind auf beiden Ebenen identisch. So stellen auch alle Gefühle, gleich allen Gana-Melodien, ein qualitativ Besonderes, Ausschließliches und Einziges dar; so sind auch Gefühle blind; so gibt es auch auf ihrem Gebiete keine Freiheit. Man hat bisher, durch den Eindruck der fortschreitenden Entwicklung des Großhirns dazu verführt, verkannt, dass das intellektuelle Höherstehen nicht das Eine und vielleicht nicht das Wesentliche ist, was den Menschen vom Tiere unterscheidet. Man hat verkannt, dass noch so hohe Intelligenz als zweckhaftes Anpassungsmittel unter anderen den Menschen keinesfalls aus dem Rahmen des allgemein-Animalischen heraushebt. Man hat endlich übersehen, dag das eigentlich und letztlich Autonome des Lebens, rein a priori geurteilt, in dem von der Außenwelt wesentlich Unabhängigen seinen typischen Ausdruck findet, also grundsätzlich in dem, was nicht Anpassung bedeutet. Deswegen ist die blinde Gana des Lebens Urausdruck. Das äußerliche Sehen ist schon Sonnen-bedingt. Von der Gana her nun muss Fortschritt, sofern dieser Begriff hier einen Sinn hat, unabhängig von aller Großhirnentwicklung und aller Intelligenzverfeinerung aufwärts führen. Eine Etappe dieses Weges umgrenzt der Delicadeza-Begriff. Doch den bisher erreichten Höchstausdruck dessen, was in anderer Richtung als der intellektuellen Fortschritts aus dem Urleben aufgestiegen ist, bezeichnet die emotionale Ordnung. Und dass es sich hier um ein vom Menschenstandpunkt nicht nur relativ, sondern absolut Höheres handelt, erweist die folgende Überlegung. Die Gana ist nicht nur blind, sondern als solche auch nicht direkt erlebbar; ihr Reich ist das der unbewussten Untergründe; sie ist kaum psychisch zu heißen, obgleich auch Psychisches ihr zugehört. Demgegenüber sind Gefühle rein psychische Gebilde. Es ist ferner ebenso ungegenständlich, von unbewussten Gefühlen zu reden, wie von unbewussten Gedanken, obgleich ihr Bewusst-Werden nicht zu ihrem Wesen gehört. Dies liegt daran, dass die besondere Qualität emotionaler Wirklichkeit mit ihrem persönlichen Erlebt-Werden steht und fällt. Die Welt der Gefühle ist wesentlich die des Er-lebens, ja sie ist die des Er-lebens par excellence; denn erst mit dem Bestimmen des Gefühls erhält das Wort den Sinn, welchen jedermann ihm unwillkürlich beilegt. Hieraus folgt denn das entscheidend Wichtige: das Reich der emotionalen Ordnung deckt sich durchaus und in allen Hinsichten mit dem, was Seele genannt wird. Macht man sich von metaphysischen und religiösen Vorurteilen frei, so entdeckt man kein Attribut der Seele, soweit es auf Feststellung dessen beruht, was jeder unwillkürlich als seelisch und seelenhaft begreift, und nicht auf willkürlicher Bestimmung, das nicht eben das Reich des Gefühls im Unterschied von dem der Gana sowohl als der Ratio beträfe. Und jedem Menschen bedeutet Seele unwillkürlich nicht nur ein anderes, sondern ein Höheres als der Verstand.

Dass dem so ist, sieht der Moderne wahrscheinlich am schnellsten und leichtesten ein, wenn er von dem ausgeht, was er heute unwillkürlich und naiv als seelenlos empfindet: dem vollkommen durchmechanisierten Amerikaner und dem Bolschewisten. Was beide kennzeichnet, ist die Rückbildung oder Bedeutungslosigkeit der Gefühlssphäre. Im religiösen und deshalb dogmatischen Russland soll es keine Gefühle geben; der Mensch soll nicht mehr sein als das rein äußerlich zu begreifende Atom der Kollektivität. Damit wird ihm alle individuelle Autonomie, als Tatsache wie als Wert, abgestritten. Er soll nur mehr ein für andere, kein für sich mehr sein noch haben. Folgerichtig bekämpft Sowjet-Russland alle spirituelle Religion als rohes Vorurteil, denn jede spirituelle Religion muss von der letzten Bedeutsamkeit des Innerlichen ausgehen. Folgerichtig erklärt es den europäischen Individualismus als zoologischen Zustand. Im intellektualistischen Amerika lehrt der Behaviorismus, der immer mehr zur nationaltypisch-amerikanischen Weltanschauung wird, dass alles Leben, als Tatsache wie als Sinn, vom Standpunkt des Beschauers zu begreifen ist; das heißt, eine letztlich bestimmende Innenwelt als Welt des Erlebens wird geleugnet, und ihre Ausschaltung, wo vorhanden, gilt als Fortschritts-Ideal. Die unglaublichsten Wege schlägt dort das Denken ein, um den Forderungen der Innenwelt, welche schließlich nicht überhört werden können, Rechnung zu tragen. So schlägt Walter Lippmann, welchen Statistik davon überzeugt hat, dass Selbstlosigkeit im großen und ganzen zweckmäßiger als Egoismus ist, vor, durch Experten von Fall zu Fall feststellen zu lassen, wann und inwiefern Opfer anzuraten sind. Dass der ganze Wert des Opfers eben in der persönlichen Entscheidung zur Selbstüberwindung, im sacrifice consenti liegt, entgeht ihm ganz. Das denkende Amerika leugnet heute, fast ebenso ausgesprochen schon wie Sowjet-Russland, die Autonomie der Seele. Die Folge dessen ist eben die Entseelung Amerikas. Diese aber führt zur Entmenschlichung und damit zum Gegenteil dessen, was das Fortschrittsideal letztlich meint. Auf Gefühl und nicht den Verstand bezieht sich der Menschlichkeitsbegriff, so wie ihn jeder unwillkürlich versteht. Von jeher ward nicht der Dumme, sondern der Gefühllose Unmensch oder entmenscht geheißen. Und wirklich: alle Fortschritte in der Humanität, wie Abschaffung der Folter, der Sklaverei, die Zuerkennung von Grundrechten an jeden Menschen, gerechtigkeitsgemäßeres Recht usw. beruhen ursprünglich auf wachsender Sympathie. Noch die moderne rein maschinelle und rechnungsmäßige Humanität hat ihre Wurzel im generösen Herzen der Vorkämpfer des 18. Jahrhunderts. Hieraus folgt, noch einmal, dass der Mensch sich selbst, noch so unbewusst, in erster Linie nicht als das denkende, sondern das fühlende Tier erlebt und bestimmt. Gefühlsmäßig weiß er sich schon im Märchen den übrigen Wesen überlegen, welche oft als klüger geschildert werden, aber mit seltenen Ausnahmen als herzlos. Und ebenso kalt werden die Naturgeister und niederen Götter vorgestellt.

Natürlich fühlen, mehr oder weniger, auch höhere Tiere. Doch was unter allen Wesen, die wir kennen, dem Menschen allein eigentümlich ist, ist die ursprüngliche und wesentliche Zentriertheit in der Gefühlssphäre. Von hier aus verstehen wir denn, warum der Mensch allein als Besitzer einer Seele gilt, und was damit ursprünglich gemeint war. Geist auch im tiefsten christlichen und indischen Verstande ist nicht das, was jedermann meint, wenn er von der Seele eines Menschen spricht; schon gar nicht, wo er diese unsterblich hofft. Geist wird ursprünglich, im Unterschied und Gegensatz zu Erde und Natur, als wirklich erlebt. Insofern fehlt ihm ursprünglich alles Persönliche; vom Standpunkt der Gefühle ist er kalt. Demgegenüber wird die Seele ursprünglich als persönlich-warm verstanden; kein Volk glaubt an eine Unsterblichkeit just der Seele, das sie nicht privat-persönlich vorstellte. Dies führt uns denn zum Unterschied der Seele (als der Sphäre der Gefühle) von der Gana zurück. Diese als Ur-Äußerung des Lebens besteht unabhängig vom Er-Leben. Seele hingegen steht und fällt mit letzterem. Insofern steht und fällt ihr Begriff auch mit vorhandenem persönlichem Bewusstsein, woraus folgt, dass die alten Philosophen gar nicht so Unrecht taten, Tieren die Seele abzusprechen. Seele ist auch nicht Empfindung, denn diese besteht für sich und setzt zu ihrem Dasein kein erlebendes zentralisierendes Subjekt voraus. Für sich ist sie ferner kalt. Demgegenüber steht und fällt das, was jeder unwillkürlich unter Seele versteht, mit dem Attribut der Wärme. Deswegen ward zum ersten- und bisher einzigen Mal in der Geschichte die Seele zur metaphysischen Substanz hypostasiert, als mit dem Christentum die persönliche Liebe zum ersten Attribut der Gottheit erhoben ward. Und wenn die Liebe allen Dichtern aller Zeiten als Prototyp seelischen Tuns und Leidens gegolten hat, so beweist das, scheint mir, abschließend, dass Seele wesentlich das ist, was trockene Wissenschaft den Organismus der Emotionen heißt.

Diese Erkenntnis nimmt der Seele nichts von ihrer Tiefe. Eine Abgrenzung der Gefühlssphäre gegen die der Empfindungen wird dies am schnellsten klarstellen. Alle Empfindung darf insofern oberflächlich geheißen werden, als ihr Bereich die Oberfläche von Leib und Seele ist und als sie zu ihrem Dasein von äußeren Einwirkungen abhängt. Diese Abhängigkeit gilt nicht für das Gefühl: Gefühl lebt aus eigenem Recht. Und es ist niemals oberflächlich, es ist immer tief, insofern es in der Tiefe und nur in der Tiefe lebt. Es kann stark oder schwach sein; Gefühl oberflächlich zu heißen, beweist Verkennen seiner Eigenart. Dass dies Verkennen häufig vorkommt, rührt daher, dass Gefühl von außen her durch die Empfindung gespeist wird, weswegen beide in einem bestimmten Punkt, als Ein- und Ausdruck, verschwimmen. So ist es möglich, als Empfindung zu erleben, was tatsächlich Gefühl ist, und umgekehrt. Es ist ferner möglich, sich durch gepflegte Empfindlichkeit vor dem persönlichen Gefühl zu schützen. Endlich kann Pflege der Empfindung zum Gefühle führen. Man gedenke der Rolle, welche Empfindlichkeit bei Brautleuten oder im Liebeswerben spielt und wie sie jede Bedeutung verliert, nachdem einmal verankertes Gefühl bestimmt; ist einmal dies der Fall, dann tritt die emotionale Ordnung gemäß ihrem Eigengesetz in Kraft.

Das Gefühlsleben und damit die Seele ist also ein letztlich Selbständiges. Und da alles ursprüngliche und erste Er-Leben Gefühls-Erleben ist, denn nur Gefühle ergreifen den ganzen Menschen, so kann es gar nicht anders sein, als dass sich der Mensch zutiefst mit seiner Seele identifiziert, denn sie ist wirklich seine persönlich letzte Instanz. Nun aber können wir die genaue Bestimmung geben, welche das geschichtliche religiös-metaphysische Dilemma löst. Falsch ist es, die Seele als tief dem Geiste zu, als meta-physisch zu verstehen. Ihre Tiefe liegt ganz und durchaus der Erde zu. Es besteht nicht ein Grund, persönliche Gefühle aus anderer Wurzel abzuleiten, als das organisch-psychische Leben überhaupt. Dies geht schon aus der durchgängigen Entsprechung des Emotionalen mit dem Gana-mäßigen hervor. Auch die Seele ist wesentlich blind; auch sie ist durchaus nichts Bildhaftes oder Vorstellendes. Das Missverständnis der Seele als eines Metaphysischen, dem auch manche tiefe sonst nicht Vorurteil-befangene Geister verfallen sind, erklärt sich vornehmlich aus der folgenden Erwägung heraus: da alles Er-Leben seinen ursprünglichen Ort im Reich der Gefühle hat, so ist natürlich auch seelisches Geist-Erleben möglich. Das heißt, auch die erdgeborene Seele kann zum Körper werden des metaphysischen Geists. Dementsprechend lehrten die alten Inder richtig, dass es auch über die Liebe einen Weg zum Geiste gebe. Behauptete das Christentum später, es gäbe nur den Weg der Liebe, so schränkte es wesentlich Richtiges nur ungebührlich ein. Viele der schönsten Geistverkörperungen auf Erden sind, in der Tat, nur im Körper der Gefühle möglich, so wie andere die Natur-Basis der Empfindlichkeit voraussetzen. Das herrliche antike Freundschafts-Ethos bedeutete nichts anderes als die Durchgeistigung der südamerikanischen amistad; die Prinzipien der Selbstverpflichtung, des Wertgefühls und der Kontinuität (im Sinn des esprit de suite) hatten sich da der emotionalen Natur-Ordnung eingebildet. Um gleiches handelt es sich beim Ideal der modernen Ehe. Gleichsinnig bedeutete die echtchristliche, die sogenannte himmlische Liebe, insofern sie vor allem und wesentlich den Feind mit einschloss und Überwindung aller Gana- und Delicadeza-Motive forderte, und insofern sie den Akzent auf das Ausströmende, das Geben-Wollende, die schenkende Tugend im Gegensatz zum Haben- und Nehmen-Wollen legte, ein rein Geistiges im Körper natürlicher Gefühlsmöglichkeit. Nicht anders stand es, endlich, mit der mittelalterlichen Treue: das Gefühl ewiger Gebundenheit sollte bestehen und bestimmen trotz des normalen Rhythmus von Anhänglichkeit und Verrat.

Die tiefste Ursache der Hypostasierung der Seele zu einem metaphysisch-Wirklichen ist aber die, dass Gefühl allein Glauben als Erdphänomen ermöglicht. Empfindung hängt von Eindrücken ab, Verstand relativiert; von beiden Funktionen her ist Behaupten von Wirklichkeit oder Statuieren eines Sinns von innen heraus unmöglich. Vernunft entscheidet aus Einsicht heraus, was eine doppelte Grenze bedingt: erstens die möglicher Vernunft-Einsicht, die alles nicht Rationalisierbare ausschließt; zweitens die, dass Vernunft vom Standpunkt des Lebens von außen her wirkt und niemals Er-Leben ist noch schaffen kann. Glauben nun ist unbedingtes Bejahen; Glauben hängt von keiner äußeren Wirklichkeit ab; Glauben erfolgt rein und von innen heraus. 1 Glauben geht aus dem tiefsten Erlebens-Kerne des Subjekts hervor und bindet dieses, wo vorhanden, absolut. Sein Prototyp ist das Glauben der Frau an den geliebten Mann. Solches Glauben nun ist die erste und normale Erkenntnis-Spiegelung alles Fühlens; wirft man die Frage der Wirklichkeit vom Standpunkt eines Fühlenden auf, so muss man sagen, dass Gefühl an seinen Gegenstand im Sinn seiner Eigenart — sei diese Liebe oder Hass — entweder glaubt, oder überhaupt nicht ist. Hier handelt es sich weder um Verblendung, noch um rosa oder schwarze Brillen, sondern einfach darum, dass das Gefühl primär ist und von innen heraus seine eigene Wirklichkeit schafft. Religiöses Glauben ist nun freilich ein geistiger Vorgang; in unserer nächsten Meditation werden wir ihn genau bestimmen. Aber alles Geistige verwirklicht sich auf Erden mittels eines Empirischen, und dies ist im Fall des Glaubens das Gefühl. Daher, noch einmal, die Hypostasierung der Seele, d. h. des Teils im Menschen, welcher glauben kann, zu einem Metaphysischen.

1 Vgl. meine ausführliche Betrachtung des Problems des Glaubens im Kapitel gleichen Namens meiner Unsterblichkeit (geschrieben 1906).
Hermann Keyserling
Südamerikanische Meditationen · 1932
IX. Die emotionale Ordnung
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