Schule des Rades
Hermann Keyserling
Südamerikanische Meditationen
X. Die Traurigkeit der Kreatur
Freudigkeit
Wenden wir uns von hier aus zum eigentlichen Thema dieser Meditation zurück. Zuerst war die schwebende Traurigkeit. Aus dieser erwuchs das tragische Lebensgefühl. Jetzt sind wir in der Lage zu verstehen, inwiefern das letzte und höchste Stadium die Freude ist. Freudigkeit ist in dieser Welt, so wie sie einmal ist, wenn man sie so sieht und erlebt, wie sie tatsächlich ist, dem Menschen dann erst möglich, wenn Geist letztbestimmend geworden ist in ihm und er sich mit dessen Normen und Zielen identifiziert. Dies aber setzt voraus, dass das passive Ich gesprengt ward oder sich auflöste. Der in passiver Einstellung Ich-überbetonte ist der unselige Mensch. Die Sprengung oder Auflösung des passiven Ich gelingt aber andererseits nur vom übermächtig gewordenen Geiste her. Vom Geiste her, welcher reine Initiative und deshalb unbindbar durch die träge Gana ist. Wer nun wahrhaftig durchgeistet ward, der ist erlöst. In der Tat: wer die Ur-Angst, wer den Sicherungstrieb in sich überwand, wer den Ur-Hunger in sich disziplinierte, wer an nichts mehr haftet und durch den Sieg innerer Freiheit über die Verfallenheit diese aufhob — welche Hölle sollte den noch festhalten? Der ist ipso facto aus jeder Hölle heraus; was da noch äußerlich wie Hölle aussieht, ist Fegefeuer. Und je mehr dieses Feuer ihn läutert, desto mehr verwandelt sich, ganz von selbst, das Leid in Freude. Am Ende winkt vollkommene Seligkeit.
Es ist möglich, dass ich in Südamerika mehr Traurigkeit und Leid hineingesehen habe, als dort tatsächlich lebt. Doch was bedeuten alle Tatsachen der Welt gegenüber dem Sinnbild, welches Eigenstes zum Leben weckt? Mir wurde drüben klar, wie viel meiner früheren Freudigkeit auf Überschichtung beruht hatte; oder auf nicht-Sehen-Wollen der Wirklichkeit, wie sie ist. Wäre ich nicht in jene fernen Breiten gezogen und gezogen worden, vielleicht wäre ich nie auf den Pfad zu der letzten Freudigkeit gelangt, auf welchem ich seither wandele. Und wäre ich dort von meiner eigenen Welt nicht abgeschieden gewesen, so dass ich mich mit der meinem Bewusstsein völlig fremden Welt, die mich bedrängte, auseinandersetzen musste, ich hätte schwerlich verstanden, dass es der Hingabe gerade dazu bedarf, um zur letzten Selbstbestimmung zu gelangen. Der Weg über das Ur-Leid hinaus führt nicht direkt zur Leid-Überlegenheit. Die erste Etappe von der Traurigkeit der Kreatur zur Seligkeit der Vereinigung mit dem schöpferischen Geist besteht in der Umkehr von der Angst vor dem Leiden in den Mut zum Leiden. Aller Weg zur Freude führt durch das auf sich genommene bejahte Leid hindurch.
Die religiöse Überlieferung aller Zeiten behält recht. Die Ergebnisse unserer letzten Meditation erteilen auch aller Geschichte, wie sie tatsächlich verlaufen ist, Sinn. Mut und Glaube sind die ersten geistbedingten Kräfte. Wird geistige Wirklichkeit alleinbestimmend, dann ist die Gana-Welt diszipliniert, die Unterwelt in Bahnen festgehalten, wo sie dem Geistig-Guten dient, und die Hölle damit besiegt oder zerstört. Dies bedeutet das Sinnbild des Python-tötenden Apoll. Dies bedeutet das Sinnbild vom Christus, welcher der Schlange den Kopf zertritt. In Südamerika ist es bisher an einem Ort allein zum Mitbestimmen echt-metaphysischen Bewusstseins gekommen: in Mexiko. Dementsprechend ist die mexikanische tristeza die einzige, welche tragisches Lebensgefühl zur Komponente hat. Doch Erdteil-charakteristischer Weise ist dort das Sinnbild der religio an ein Jenseits ganz anders, als irgendwo sonst auf Erden. Es ist die gefiederte Schlange. Das Tier, das auf dem Bauche kriecht und Erde isst, will auffliegen. Das kann es aber nur zu kurzem Flug. So gleicht die südamerikanische Spiritualität als Allgemeinerscheinung bis heute dem Lasso, welcher, ausgeworfen, platt auf die Erde zurückfällt, oder der Anaconda, welche blitzschnell hinausschnellt, um also bald in brütende Apathie zurückzusinken.