Schule des Rades

Hermann Keyserling

Südamerikanische Meditationen

XI. Der Einbruch des Geistes

Imagination

Im Anfang war die Erinnerung. sintemalen das Licht des Geistes zuerst das dichte Gewebe der Gana durchleuchtete, vermochte es nicht mehr, als Vorhandenes zu erhellen. Das ist der wahre Sinn von Platos Mythos von der Anamnesis. So sind Völker und Einzelne noch heute desto gedächtnistreuer und nachahmungsbegabter, je näher sie der Ur-Blindheit stehen. Die Imitativität der Südamerikaner ist ebenso groß, wie ihr Mangel an Vorstellungsvermögen und Einbildungskraft. Und das erste selbständige Vorstellungsvermögen äußert sich nicht so, dass der Mensch freiwillig vorstellen kann, sondern dass Bilder als massive Wirklichkeiten vor ihm stehen. Der Primitive hat keine Imagination, sondern sie hat ihn. Dieser Projektionsmechanismus erklärt die Ur-Identifizierung des inneren Lichtes mit der Sonne. Gleichsinnig fällt primitives Selbstbewusstsein noch heute mit dem Ansehen seitens anderer zusammen. Und doch war und ist schon das erste Produkt innerer Schau wesentlich nicht Nach-Bild, sondern Vor-Bild; nichtsdestoweniger ist schon die erste Erinnerung Imagination. Nur war und ist alle früheste Schöpferkraft schwach gegenüber den Kräften und Gesetzen der Materie, der sie sich einbildet. Zuvörderst vermag der Geist nur zu antworten und zu folgen. Die erste Originalität war die des Nacheiferers, welcher sich mit seinem Vorbilde identifiziert und seine Einzigkeit dadurch beweist, dass er unwillkürlich alles ein wenig anders macht, als sein Meister; das erste Eigene äußerte sich im Körper mnemischer Wiederholungsmechanismen. So scheint früheste Erinnerung mit dem äußeren Eindruck zu verschwimmen. In Wahrheit gibt es zwischen beiden keinen Übergang. In Wahrheit scheidet eine unüberbrückbare Kluft Vorstellung und Eindruck, so sehr jene von diesem gespeist werde und so oft jene diesen als unbewusst mitwirkendes Vorurteil mitbedinge. Denn innere und äußere Bilder gehören verschiedenen Daseinsebenen und verschiedenen Dimensionen an. Noch heute gibt es zwei wesensverschiedene Arten von Malern. Die einen hängen durchaus vom Modell ab; kaum können sie den Blick von ihm abwenden, um zu malen. Andere vermögen nur rein von innen heraus zu schaffen. Mir geht es so, dass ich ein vor Jahrzehnten gesehenes Gesicht oft ohne weiteres in künstlerischer Verwandlung wiedergeben kann, während ich nicht allein unfähig erscheine, einen mir sitzenden Menschen befriedigend zu konterfeien, sondern desto schärfere innere Bilder habe, je mehr Zeit mich von dem äußeren Eindruck trennt.

Als bestimmtes Erlebnis ist jedes Bild natürlich ein Spiegelungsphänomen. Und da sich Äußerliches und Innerliches im Spiegel des Bewusstseins berühren und verschmelzen, und beide zusammen das urtümliche Erleben ausmachen, so ist im Einzelfalle selten klar zu erkennen, was Vor- oder Nach- oder Abbild ist. Doch wesentlich kommt es darauf nicht an. Wir müssen von der Fragestellung ausgehen, dass im Anfang die Finsternis war und die Blindheit und die Zusammenhanglosigkeit. Das innere Licht brach aus anderer Sphäre in diese hinein. Dann erst konnte es Zusammenschau und innere Bilder geben. Die sogenannten Ur-Bilder, welche Tiefenpsychologie heraufholt, sind kein wahrhaft Urtümliches: sie sind die ersten Produkte der Geist-Belichtung des Urtümlichen, welches für sich finster und blind ist. Daher das Geistwidrige dieser Bilder. Sie spiegeln belichtete Gana; im Anfang beleuchtet der Geist nur, er verwandelt nicht. Und da das Gana-Leben von völlig anderen Gesetzen regiert wird, als das Geistige, so versteht sich das Anti-Rationale und Befremdliche, Absurde und Phantastische der frühesten Bilder von selbst. Erstaunlich ist allein, dass es nicht nur in frühen, sondern auch noch in späten intellektualisierten Zuständen bewährte Traum- und Urbild-Deuter gibt. Dies beweist, wie nahe die Schicht des dritten Schöpfungstags noch dem durchgeistigtesten Bewusstsein liegt.

Von hier aus können wir den Sinn des Mythos: im Anfang war das Wort verstehen. Das war der Mythos vom Geist in seinem intellektuellen Aspekt, dessen Schöpfer nach Art aller Spezialisten die Bedeutung der Sondererscheinung gegenüber dem allgemeinen Sinne überbetonten. Es hätte heißen sollen: im Anfang war das Bild. Das Wort ist nur ein Sonderausdruck des Bildes. Das Ur-Bild war nicht Ab-Bild, sondern Sinn-Bild. Es gibt keine Vorstellung im Unterschied vom Eindruck, die nicht in erster Linie Sinnbild wäre. Hiermit wären wir zur exakten Bestimmung dessen gelangt, was Geist von aller Natur scheidet und was bedingt, dass jener als Einbrecher oder als deus ex machina — je nachdem wie man es ansieht — in diese eintrat und nicht bloß als neue Qualität unter anderen. Geist ist in allen seinen Aspekten primär Sinn; er gehört im gleichen Verstand einer anderen Sphäre an, als alle Natur, wie dies die Bedeutung eines Gedankens tut gegenüber den Buchstaben, welche ihn ausdrücken. Insofern liegt im Sinnvollen des Geistgeborenen oder Geistbedingten überhaupt kein besonderes Problem und es beruht einzig auf dem professionellen Vorurteil der Denker, dass Sinn-Geben nur Nach-Deuten sein könne, wenn sie über das Bedeutende der Träume und den Tiefsinn der Sprache staunen. Die Bilder des Traumes, soweit sie von innen heraus entstehen, können gar nicht anders als bedeutend sein; denn auf dem Gebiet des Geistes gilt der Satz: der Sinn schafft den Tatbestand und nicht umgekehrt. Und so muss die Sprache als Erstausdruck geistigen Inne-Werdens tief-sinniger sein als alle dem Nach-Denken entsprossene Theorie. Von hier wird denn ganz klar, inwiefern innere Bilder und Eindrücke inkommensurabel sind, so oft sie im äußeren Ausdruck verschwimmen: jene drücken primär Sinn aus; diese sind für den Menschen letzte Instanzen. Und von hier aus wird ferner klar, warum das es werde Licht der Schöpfung sich gerade auf die Erinnerung bezieht. Am genauesten gäbe den Ur-Vorgang des Welt-Inne-Werdens das deutsche Ur-Wort Be-Sinnung wieder, denn dieses enthält die drei Komponenten Erinnerung, Zusammenschau und Sinngebung. Aber da Epimetheus überall da war vor Prometheus, d. h. das Nach-Denken vor dem Voraus-Denken, so war die erste Zusammenschau notwendig rückblickend. Noch heute trauen ja die meisten nur dem Historiker und nicht dem Propheten, obgleich dieser allemal mehr weiß, und obgleich sein Wissen, als ein unmittelbares Inne-Sein, gewisser ist als das von jenem nur erschlossene.

So war denn im Anfang das Sinn-Bild; ein gegenüber allen Eindrücken Fremdes und Befremdliches. Kein Wunder daher, dass alle Sprache erstes Wissen um den Zusammenhang der Welt Offenbarung heißt: der Ausdruck impliziert, dass der betreffende Bild-Zusammenhang ursprünglich nicht in der Natur enthalten war. Und ebensowenig verwunderlich ist, dass das Wort ursprünglich Ausdruck des Geheimnisses und nicht des Klargewordenen war, denn gerade im Anfang trat sein Sinnbild-Charakter am reinsten zu Tage. Dementsprechend war im Anfang das Wort als Rune, als Ideogramm oder als Mantram, mithin als Sinnbild; es war nicht das Wort als Nachbild und Orientierungsinstrument, und schon gar nicht das Wort als Verdauungsmittel der Welt als Speise für den Intellekt, welch letzteres von allen wissenschaftlichen Begriffen gilt. Gleichsinnig war alle früheste Schrift Bilderschrift und erfordert ihr bloßes Lesen mehr Geist-Konzentration, als das Verstehen wissenschaftlicher Theorie. Der Fortschritt, welchen das wachsende Abstraktionsvermögen verkörpert, liegt einzig und allein auf der Linie des Spezialistentums. Die französische Sprache wird gleichzeitig immer klarer und immer ärmer, als die spanische und deutsche, je mehr Jahrhunderte hingehen. Ihre Neigung, das Allgemeine für wichtiger zu halten als das Besondere, lässt fortschreitend mehr konkrete Bezeichnungen überflüssig erscheinen. Das ist kein Vorzug: die wachsende Eindeutigkeit ihrer Begriffe macht es ihr immer schwerer, das sinnentsprechend auszudrücken, was wesentlich vieldeutig ist oder in ähnlichem Sinn aus vielen Bestandteilen besteht, wie ein Ton bestimmter Klangfarbe aus verschiedenen Ober-, Mittel- und Untertönen. Und so liegt die ideale Grenze des Abstraktionsprozesses überhaupt nicht in der vollkommenen Geistspiegelung der Wirklichkeit, wie sie erlebnismäßig ist, sondern im vollständigen Absehen von dieser zugunsten der Elemente, welche rein mathematischer Behandlung fähig sind; diese gehören aber gerade nicht der Dimension des Sinnes d. h. dessen an, worum allein es verstehen-wollendem Geist zu tun ist. So würde der vollständigst denkbare wissenschaftliche Weltbegriff das Weltall weniger erschöpfen, als es der primitivste Mythos tut, denn das gerade schlösse er aus, was das Ziel geistigen Wahrheitsstrebens ist. Dass die Dinge so liegen, erweist die eine kurze Erwägung, dass Weltbegriffe, als je richtiger sie sich erweisen, desto unverständlicher und unbefriedigender werden; sie führen geradezu vom Licht dem Dunkel und nicht vom Dunkel dem Lichte zu. Die Wissenschaft entstand aus Gewissheitsbedürfnis; sie soll exakt sein; ihre Gesetze sollen unbedingt gelten. Heute nun löst sich alles ehedem Bestimmte immer mehr ins Ungefähr auf. Das begann mit der exaktesten aller Wissenschaften, der Mathematik. Ein höherer Mathematiker wäre fähig, einem normalen Menschen auf die Frage, wieviel zweimal zwei ausmacht, zu erwidern: in erster Annäherung dreizehn. Von Notwendigkeit und Zwangsläufigkeit ist nur mehr im Verstand besonderer Zuständlichkeiten die Rede; Naturgesetze gelten nur noch insoweit, als sie denen der großen Zahlen und der Statistik entsprechen. Die Relativitätstheorie erledigt jedes einfürallemalige und eindeutige Bezugszentrum. Materie gibt es nicht mehr; doch auch dass es spezifisch Psychisches gibt, kann Wissenschaft nicht mehr fest behaupten, denn überall kann sie, die vom Qualitativen absieht, Übergänge feststellen. 1

Diese eine Überlegung erweist, dass sogar das geistige Wahrheitsideal nicht in der Richtung wissenschaftlichen Abstrahierens liegt. Und man wähne ja nicht, dass das Behauptete voll der philosophischen Phänomenologie der Edmund Husserl und Martin Heidegger nicht gälte. Wohl ist diese Philosophie als bloße Richtung richtig eingestellt: sie zielt auf den konkreten Sinn; ihr Universales ist ein Konkretes d. h. erlebnismäßig Wirkliches, insofern Hegels konkretem Universalen ähnlich — So wenig Hegel und Husserl sonst miteinander gemein haben. Doch auch die Phänomenologie sieht im Ergebnis denkerischer Abstraktion das Ziel, und jede solche Abstraktion, mag sie im übrigen noch so fehlerfrei geübt werden, verdürftigt die Wirklichkeit. So wäre eine Lehre vom Sinn, welche der größte Phänomenolog (im Verstand der genannten deutschen Schule) aufstellte, am Maßstab des Welt-Verstehens gemessen, ein ebenso Überflüssiges, wie es irgend eine unverständliche Gleichung vom Standpunkt konkreten Erlebens ist. So sind die frühesten Philosophien, im Vergleich mit späten, gerade darum die tieferen und sinngerechteren, weil sich geringere Abstraktionstechnik in ihnen äußert. Die Metaphysisches betreffenden Begriffe Alt-Indiens sind keine Produkte deuterischer Zurückführung, sondern Sinnbilder für erlebte Zustände. Im höchsten Grade gilt gleiches von den wenigen Ur-Begriffen Alt-Chinas: diese schließen wesentlich nicht aus, wie es wissenschaftliche Begriffe tun, sondern sie schließen ein. Das ist, weil sie reine Sinn-Bilder sind. Sie definieren nicht, sondern sie bedeuten. Praktisch aber informieren sie nicht über Gegebenes, sondern sie evozieren persönliches Verstehen.

1 Ich möchte zur klaren Orientierung über diesen schicksalsmäßigen Zug der Wissenschaft vor allem und beinahe einzig und allein die Schriften Bertrand Russells empfehlen. Russell hat drei Vorzüge: erstens ist er der schärfste Logiker dieser Zeit, zweitens der durch Tradition am wenigsten voreingenommene Denker; endlich ohne jedes Organ für Erleben weshalb seine Erkenntnisse wirklich rein sind.
Hermann Keyserling
Südamerikanische Meditationen · 1932
XI. Der Einbruch des Geistes
© 1998- Schule des Rades
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