Schule des Rades

Hermann Keyserling

Südamerikanische Meditationen

XI. Der Einbruch des Geistes

Leben und Sinn

Faust zweifelte eine Weile, ob er das johanneische im Anfang war das Wort nicht durch im Anfang war der Sinn ersetzen sollte. Und er tat recht, letztere Fassung zu verwerfen. Wissenschaftlich haltbare Theodizeen kann es nicht geben, denn keine Frage nach Ursache und Ursprung, führt über engumgrenzten Erkenntnisraum hinaus. Vor allem aber haben Schöpfungsmythen nur Sinn von der Erde her gesehen. Denn Schöpfungsmythen bedeuten nicht Erklärung, sondern erste Erinnerung, und Erinnerung gibt es nur von Phänomenen. Nur sie entstehen und vergehen in dem absoluten Verstand, wie sie sich ereignen muss, damit von Schöpfung und Geburt die Rede sein könne. Sinn nun ist niemals Phänomen; er verhält sich zum Erscheinenden grundsätzlich so, wie die Bedeutung eines Gedankens zu den Buchstaben, welche ihn ausdrücken. Deswegen konnte die erste Erinnerung vom Einbruch des Geists nur dessen Ur-Erscheinung festhalten. Die aber war das Bild. Als inneres Bild brach Geist als Novum in die Schöpfung ein.

Zwischen dieser Qualität und anderen gibt es keinen Übergang. Aber es gibt überhaupt keine Übergänge zwischen Qualitäten als solchen, und von der Anerkennung dieser Tatsache her allein ist Welt-Verstehen möglich. Es gibt keinen Übergang vom Nicht-Geist zum Geist. Es gibt auch keinen Übergang vom Leblosen zur niedersten Lebenserscheinung. Wissenschaftliche Abstraktion glaubt mehr und mehr das Gegenteil behaupten zu dürfen. Nicht nur in seinen Urelementen, auch in den Formen und Wegen seines Seins und Werdens scheint das uns zugängliche Weltall in hohem Grade einheitlich. So sieht man, nachdem Mathematik und Sprache, die doch so völlig Verschiedenes sagen oder sagen können, schon lange auf eine Ur-Logik zurückgeführt wurden, neuerdings Bestrebungen am Werk, auf Grund der Tatsache, dass das qualitativ Verschiedene in der Natur, vom Blickpunkt der Wissenschaft betrachtet, auf verschiedener Anordnung des Gleichen beruht, alle Wirklichkeit auf Ordnungsprinzipien zurückzuführen, womit denn freilich der Unterschied von Geist und Materie verschwämme. Mit geringerer Vergewaltigung der (erlebten Wirklichkeit ließe sich sämtliches Geschehen auf den Generalnenner eines Assoziations­gesetzes bringen. Dieses (freilich recht unbestimmte) Gesetz, das bisher nur für Ideen und Vorstellungen anerkannte Geltung hat, beherrscht nämlich die Grunderscheinungsformen des Geistigen, Seelischen, Lebendigen und Toten. Nicht nur Erinnerung, auch Liebe, auch Vererbung beruht auf Assoziation; nicht nur der Präzedenzfall, dessen anerkannte Bedeutung die Grundlage aller möglichen Jurisprudenz ist, sondern auch elektrische Spannung, Gravitation und chemische Affinität. Die ganze Gana-Welt und alle emotionale Ordnung, hängt assoziativ zusammen. Und das Unlebendige bildet hie und da organisches Geschehen bis ins Einzelne vor. Es genüge der Hinweis auf das eine Beispiel, dass Glyzerin bisher nur einmal, in einem Fass in Moskau, spontan kristallisierte, dass seither aber durch Befruchtung mittels der Abkömmlinge dieser Kristalle überall Glyzerinkristalle zu züchten sind, welche sonst nie wieder erstehen. Doch die Wirklichkeit der Welt steht und fällt gerade mit der unzurückführbaren Verschiedenheit der Qualitäten, und diese Wirklichkeit allein geht uns Erlebende an. Es war verständlich, dass ein Pythagoras in seiner Entdecker-Leichtfertigkeit in der Zahl nicht nur eben den quantitativen Aspekt äußerer Wirklichkeit, sondern das Wesen aller Wirklichkeit erkennen wollte. Heute sollte und könnte jedermann es wissen, dass das Formale nie das Wesen betrifft, dass der Weg des Zustandekommens über den Sinn des Geschehenen nichts aussagt, und dass wahre Erkenntnis nicht mit der Zurückführung auf ein Allgemeines, sondern mit der richtigen Bestimmung des Einzigkeitscharakters des Einzigen beginnt.

Soviel gilt allgemein. Im Fall der Verschiedenheit zwischen dem, was geistig und dem, was nicht geistig ist, fehlt nun aber jede Kommensurabilität, weswegen der bloße Versuch, das Geistige im Zusammenhang der Natur zu begreifen, eine Absurdität darstellt. Denn die Welt des Sinnes ist eine rein innerliche, eine wesentlich innerliche. Sie existiert nur in bezug auf erlebende Subjekte. Und dies gilt nicht etwa nur in dem äußerlichen Verstand, der für alles Erfahrbare gilt, dass für den, welcher nichts bemerkt, nichts da ist, sondern in dem, dass der reale und für sich bestehende Zusammenhang der geistigen Welt, vom Bewusstsein her geurteilt, in der Dimension des Subjektiven und Transsubjektiven, und nicht in der des Objektiven und Objektivierbaren liegt. Wie inneres Bild und Schau unlöslich zusammenhängen, so tun es Sinn und Verstehen, Güte und guter Wille, Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Ohne entsprechenden inneren Akt ist Geistiges nicht da. Will man durchaus ein zusammenhängendes Weltbild, welches Geist und Nicht-Geist einschlösse, konstruieren, dann gibt es nur ein nicht unbedingt falsches Bild: dem äußerlich-natürlichen Kosmos in der Dimension der reinen Intensität, im rechten Winkel gleichsam zu derjenigen der Extension, ein rein innerlicher Sinnes-Kosmos eingebildet. Doch selbst die spirituellste Religion behauptet nicht, dass diese Einbildung vollbracht sei: sie wird nur als Sinn und Ziel der Schöpfung hingestellt. Und bis heute jedenfalls kann von einer totalen Be-Sinnung der Welt keine Rede sein. Sogar der Mensch erscheint in nur sehr geringem Grad durchgeistigt. Eine durch keine Erfahrung zu rechtfertigende petitio principii liegt darin, aller Wirklichkeit Geist als Seinsgrund zugrunde zu legen. Wollen wir wahrhaftig und ehrlich sein und bleiben, dann müssen wir uns dabei bescheiden, dass es Erscheinungen gibt, die einen geistigen Hintergrund haben, insofern ihr Seinsgrund Sinn ist, und andere, von denen dies nicht gilt.

Überhaupt sollten die Zeiten eines vorausgesetzten Monismus endlich um sein. Die Einheitsforderung kann vernünftigerweise, sobald anderes als Geistiges in Frage steht, ausschließlich auf die ratio cognoscendi gehen, denn nichts, aber auch gar nichts berechtigt uns dazu, dem Einheitlichen in der Natur größere Bedeutung beizumessen als der Vielfalt. Aus diesen, Grunde geht es auch nicht an, den Unterschied zwischen Geist und Leben zu verwischen. Ich selbst habe an vielen Stellen gezeigt (in gemeinverständlichster Zusammenfassung im Schlusskapitel Spiritualität von Amerika), dass das Leben im Unterschied von dem, was wir leblos heißen, nur vom Sinne her zu begreifen ist; von der Einzelzelle an, welche nur von der Rolle her, die sie im Gesamtkörper spielt, zu verstehen ist, bis zu den geistigsten historischen Gestaltungen. Und zweifellos gehört alles Lebendige insofern mit allem Geistigen einer Ordnung an. Dies gilt auch insofern, als alles Lebendige in der Dimension des Subjektes autonom ist und dass ein subjektiv-Innerliches das Leben zum Leben macht. Doch unsere Betrachtungen über Gana, Delicadeza und emotionale Ordnung erwiesen, dass sogar im Fall des Menschenlebens tiefste Schichten und weiteste Sphären nicht Geist-bestimmt sind, sofern das Wort Geist einen gegenständlichen Inhalt haben soll. Sinnhaft ist auch dieses Leben, aber vom Standpunkt geistigen Sinnes ist es vielfach widersinnig. So müssen wir anerkennen, dass zwischen dem Sinn, welcher das organische und das Gana-Leben regiert, und dem anderen, der sich in rein geistiger Erscheinung äußert, ein Qualitätsunterschied in ähnlichem Verstand besteht, wie zwischen sonstigen unzurückführbaren Qualitäten — und darauf kommt es an. Diese Unterscheidung ist für das Weltverstehen wichtiger als die Feststellung, dass Leben und Sinn, verglichen mit dem für unsere Begriffe Nicht-Lebendigen, einer gleichen Ordnung angehören.

Und ebensowenig, wie es statthaft ist alles Leben auf Geist zurückzubeziehen, geht es an, das Leben zum Generalnenner zu erheben. Weder ist eine Vorstellung im gleichen Verstand lebendig, wie ein Organismus, noch sind beide in identischem Verstande sinnhaft. Ein Ideal ist ein anderes als ein Mensch, und beide sind keine Götter. Die Tatsache, dass es dem Menschen sinnvoll erscheint, sein Leben für ein Ideal hinzugeben, beweist, dass das Leben für seine Vorstellung nicht letzte Instanz ist. Was drüber liegt, kann er allein als Sinn begreifen. Doch das vereinheitlichende Wort erledigt die tatsächlichen Verschiedenheiten nicht mehr, als die mögliche Zurückführung aller Substanzen auf Elektronen und Protonen die Verschiedenheit der chemischen Elemente aufhebt. Ich selbst habe, da ich noch jung und dumm war, in der Zurückführung alles Daseienden auf ein Prinzip und seiner Einordnung in ein System eine wertvolle Leistung erblickt. Heute verwerfe ich jeden Versuch einheitlicher Erklärung oder Zurückführung, der dem geringsten Qualitätsunterschiede nicht gerecht wird. Wie das Leben entstanden ist und was das Leben ist, das werden wir niemals wissen. Wie der Geist entstanden ist, und was der Geist für sich ist, das werden wir auch nie wissen. Und könnten wir’s erfahren, so würden wir es nicht verstehen. Und könnten wir’s verstehen, so würden wir dadurch nicht weiser. Doch wir können wissen, welche Fragestellung zu keiner Einsicht führt. Wir können verstehend erleben, wie alles Erfahrbare in uns und in bezug auf uns zusammenhängt. Und wenn wir uns tief in uns selbst hineinversenken, so können wir uns erinnern, wie einmal alles ward.

Hermann Keyserling
Südamerikanische Meditationen · 1932
XI. Der Einbruch des Geistes
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME