Schule des Rades

Hermann Keyserling

Südamerikanische Meditationen

XII. Divina Commedia

Vorstellung schafft Wirklichkeit

Sintemalen der Geist ein inspirierendes Sinn-Prinzip ist, das sich von sich aus allem einbilden kann, ist das Ziel grundsätzlich erreichbar. Doch welcher Weg führt zu ihm? — Greifen wir auf einen anderen Gedankengang unserer vorhergehenden Meditation zurück. Der Ur-Ausdruck des Geistes ist das Bild. Und das Ur-Bild war nicht Ab-Bild sondern Sinn-Bild. Dieser Satz fordert Ergänzung in einer anderen Dimension. Das Ur-Bild war nicht Nach-Bild sondern Vorbild. In der Genesis heißt es:

Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde,
nach seinem Bilde schuf er ihn
.

Das bedeutet: das Geistesbild war da vor dem Menschen, dem Geistverkörperer. Dies war ursprünglich wahr. Doch das ist heute noch genau so wahr. Aus dem Bilde als Vorbild ist alle geistgeborene Wirklichkeit entstanden. Auf alle Unzulänglichkeit reagiert das russische Volk unwillkürlich mit dem Ausruf Besobrasie! Besobrasie heißt Bildlosigkeit. Dieser Ausruf entspringt der Ahnung dessen, dass, falls das Vorbild da wäre, sich ihm die Gegebenheit von selber anpassen würde. So sind zunächst alle historischen Wirklichkeiten Bild-geboren. Überall gab es Götter-Bilder vor Menschen-Taten. Alles geschichtliche Geschehen hat seinen Ursprung real im Mythos. Aller Mythos ist Vorbild. Im Mythos stellt sich jede völkische Möglichkeit erstmalig dar, und im Fall aller Volkheitsvollendung hat sich die Wirklichkeit dem vorherbestehenden Mythos angeglichen. Bei Völkern sollte es nicht heißen:

an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen,

sondern an ihren Mythen sollt ihr sie erkennen, denn alle Ernten sind Fragen des Jahres und der Jahreszeit, der Mythos hingegen gilt und wirkt so lange, als eine Volkheit lebt. In Argentinien vollzieht sich eben jetzt, vor unseren Augen, was sich in Europa in sagenhafter Vorzeit ereignete. Knapp ein halbes Jahrhundert ist es, zur Zeit da ich dies schreibe, her, dass José Hernandez den Martin Fierro dichtete. Heute ist diese Gaucho-Erzählung National-Epos. Jeder Einwanderer gibt sich seiner Seelen-Stimmung hin, übernimmt von ihm die Grundlebenswerte der neuen Heimat. Es hat nichts zu bedeuten, dass der Gaucho, welchen dieses Gedicht verherrlicht, schon ausgestorben ist; auch auf die Sondergestalt des Gaucho überhaupt kommt es nicht an. Dieser verkörpert als Vorbild in archaischer Form das eigene Seelenbild des werdenden argentinischen Menschen, das ihm zugleich sein Zukunftsideal bedeutet. So schafft und bildet dieser konkrete Mensch aus schier beliebigem Blut sich selbst nach dem Vor-Bild seines anerkannten Helden, nicht anders, wie Gott der Herr den Menschen nach seinem Bild erschuf.

Und das Vorbild wirkt also schöpferisch, ohne dass der Mensch als Naturwesen anderes dabei zu leisten hätte, als sich ihm hinzugeben. Der Geist, vom Standpunkt der Erde unwirkliches Bild, unbindbar, außerstande, selbst zu binden, der Geist, dessen Dauseinsebene die Komödie ist, vermag es, ohne binden zu müssen, ohne Zwang, die zähe Wirklichkeit der Gana zu durchdringen und zu bewältigen. Dies gilt auf allen Ebenen; nur deshalb nannte ich die historische zuerst, weil sie die übersichtlichste ist. Auf allen Ebenen bewirkt ein klares Vorbild, aufmerksam und nachhaltig vorgestellt, für sich allein, ohne weiteres dazu-Wollen und dazu-Tun, dass die Natur sich von selber bildgerecht entwickele und anderen Bahnen folge, als sie von sich aus eingeschlagen hätte. Es ist dies das Mysterium magnum der Geistesverwirklichung. Coué hat es für das moderne Bewusstsein mechanisiert, und damit banalisiert und bagatellisiert. Doch vergisst man allen ledigen Couéismus, dann kann man sich der Coué’schen Formeln ungeschädigt bedienen. Es ist wahr: Vorstellung als solche schafft Wirklichkeit. Dies gilt auf höchster Stufe von der religiösen Versenkung und der Yoga. Auch hier ist nicht Willensanspannung und Übung an sich das, was verwandelt, sondern die passive Hingabe. Ersterer bedarf es nur als Vorstufe, zur Disziplinierung der Gana und der Nerven. Ist letztere einmal erreicht, dann ist zu geistigem und geistlichem Ende überhaupt keine Anspannung mehr vonnöten, sondern nur noch Entspannung.

Was nun von der Yoga gilt, gilt von jeder möglichen Zielsetzung überhaupt. Napoleon war kein Willensmensch sondern ein Mensch supremer Vorstellungskraft. Aus der Vorstellung des Ziels an sich folgt die Tatsache, dass es erreicht wird. Aus dem klaren Entschluss als solchen folgt der Erfolg. Der Unklare und Unentschlossene erreicht nichts, weil er die Gesetze des Geists verkennt. Anstrengung und Arbeit bedeuten nie mehr als einen Weg, dessen der Inspirierte im Höchstfall ganz entraten kann. Dann redet er sinngerecht, wenn er ein Ziel erreicht, von Offenbarung oder von Gnade, welche ihm zuteil ward. Das Wesen des geheimnisvollen Vorgangs erkennt man am besten nicht an denjenigen seiner Erscheinungsformen, welche unwillkürlich mit erdschwerem Erreichnis zusammengeschaut werden, sondern an solchen, bei denen solch’ Missverstehen ausgeschlossen erscheint. Seit dem Weltkrieg könnten es alle wissen, dass ein gutgewähltes Schlagwort für den Verlauf der Geschichte mehr bedeuten kann, als alle Richtigkeit, alle Tüchtigkeit und aller Beweis. Das ist, weil die richtige Bezeichnung als Bild automatisch bestimmte Seelenvorgänge auslöst. Napoleons Armeen eroberten die Welt, weil Napoleon wie kein zweiter die Kunst wirksamer Armeebefehle meisterte. Der Bolschewismus wurde möglich, weil Lenins Dekrete so gefasst waren, dass sie buchstäblich einer Ent-Schöpfung der Welt gleichkamen. Und so geht aller Fortschritt und alle Wandlung im Großen auf reine Bild-Wirkung zurück. Millionenmal wichtiger als die positive Leistung eines großen Mannes war allemal seine Legende. Vielleicht am meisten bewirkt haben die Einsiedler, welche gar nichts taten, außer gelegentlich ein Wort zu äußern oder eine sinnbildliche Handlung zu vollziehen. Das ganze Christentum geht auf wenige Worte und wenige Sinnbilder zurück. Auf ähnlich Imponderablem und Inkommensurablem beruht die wesentliche Wirkung jedes großen schöpferischen Geists. Die Meisterwerke als solche bedeuten am wenigsten. Die der Allergrößten sind allesamt vergessen, sofern jene überhaupt welche schufen. Die ganz Großen waren einfach da und wirkten als Vor-Bilder. Der wahrhaft Große bildet den beliebigen Situationen, in denen er sich befindet, unwillkürlich seinen eigenen Sinn ein und macht sie dadurch zu Sinnbildern dessen, was er allein ist und weiß und will, welche Sinnbilder dann von sich aus die Welt verwandeln. Mehr Wichtiges auf Erden geht auf ein Lächeln, eine Gebärde, ein kurzes Gespräch unter wenigen zurück, als auf die Züge von Millionenheeren. In unserer ersten Meditation bedachten wir die Möglichkeit, die Weltschöpfung fortzusetzen: dies geschieht auf eben diesem unmerklichen Weg. — Schauen wir nunmehr alle Gedankengänge, die wir im Laufe dieser Meditation anstellten, zusammen, dann dürfen wir uns endgültig zum folgenden allgemeinen Satz bekennen: es bedarf keines anderen, als eben des Schau-Spiels, um Wirklichkeit zu schaffen.

Technisch gehören Asket und Komödiant der gleichen Daseinsebene an. Wer sich einem Bilde hingibt, der identifiziert sich mit ihm, und rückwirkend verändert ihn das Bild. Ob dies auf der Ebene der Darstellung einer Rolle geschieht, oder im Sinn realen Anders-Werdens: der Vorgang ist formal und prinzipiell der gleiche. Er ist auch der gleiche hinsichtlich der erforderlichen Disziplinierung und Konzentration: bis ein Schauspieler seine Gebärde ganz beherrscht, muss er kaum weniger Yoga treiben, wie der religiöse Überwinder. Endlich und vor allem aber ist der Weg des Übens an sich schon Schau-Spiel. Der Yogi spielt seine Rolle, bis dass er wird. Alle Meditationstechnik ist ritualistisch und zeremoniell. Alle beginnt mit Distanzeinhaltung zur ursprünglichen Natur. Hier bieten die Exerzitien des Heiligen Ignatius das Prototyp, die von der Voraussetzung ausgehen, dass Nach-Erleben bestimmter Bilderfolgen in der Phantasie entsprechende Wirklichkeit schafft. Der geschilderte Weg des Bildvorhaltens ist aber nicht nur der Weg des Asketen und des Komödianten — es ist auch der traditionelle Weg des Zauberers. Ist uns dies klar geworden, dann erkennen wir zunächst, dass ein gerader Weg von der Urzauberei zur modernen Weltgewaltigkeit führt. Als deus ex machina trat der Geist zuerst schaffend und wandelnd in die Natur ein; er überlistete und bannte sie mit Mitteln, für welche ihr jede Handhabe fehlt. So wurde sein Wirken auch am längsten verstanden. Aber auch die wissenschaftliche Formel ist zutiefst eine Zauberformel: ein bloßes Besprechen zwingt die Natur, ihren Lauf zu ändern. Dann aber ermessen wir, dass alle Selbstvervollkommnung und Spiritualisierung erst recht auf Zauberei beruht. Von hier aus erhellt sich denn der zunächst so seltsam scheinende Weg, der von der Ur-Lüge zum Wahrheitsstreben führt. Einen Trieb nach Wahrheit, so wie er den Forscher beseelt, gibt es ursprünglich nicht. Das Erdhafte kennt nur Erkenntnis als Mittel der Selbstbehauptung. Aber auch der Geist kennt ursprünglich nur sie. Als ein Selbständiges lebt er aus eigenem Recht. Fern davon, sich den Tatsachen anpassen zu wollen, beginnt er sein Wirken auf der Erde vielmehr, wo er sie überhaupt berücksichtigt, mit Täuschung und Vorspiegelung. Später meint er freilich Wahrheit; doch nie meint er äußere Wahrheit als Entsprechung von Vorstellungen und Dingen, sondern innere Wahrheit als eigentlichen Ausdruck des Eigenen; nur deswegen konnte jede neue Religion ihre erdfremde Offenbarung als die Wahrheit verkünden. Das Wahrheitsideal nun hat heute noch mit wissenschaftlicher Exaktheit und empirischer Wahrhaftigkeit nichts gemein: es bezieht sich einzig und allein auf die Erfüllung des Gebotes Werde, der du bist. Damit fällt der Begriff der Wahrheit mit dem der Sinn-Erfüllung zusammen. Deswegen strebt der Mensch nach Wahrheit als nach dem Licht: er strebt nach dem Licht, nicht um zu wissen, sondern um zu sein. Er will Licht werden. Er will Licht werden, weil Licht ihm Geist bedeutet, weil er sein tiefstes Wesen als geistig fühlt und weil er sich selbst ganz verwirklichen will. Er will Licht werden, weil der Geist als Schau mit dem als actus purus, als Mut und Glaube für sich zusammenfällt, und weil er insofern nicht er selbst sein kann, wenn Sinn und Ausdruck sich nicht auch im Verstand der Wahrheit decken. Daher allein das Wahrhaftigkeitsgebot. Es ist sinnwidrig auf der Ebene der Delicadeza; es ist gleichgültig in bezug auf die äußere Natur, denn zutiefst geht den Menschen nichts Äußerliches an. Auf der Ebene sozialen Lebens ist es vor allem ein Gebot der Zweckmäßigkeit vom Standpunkt von Verwaltung und Justiz. Nie jedoch frommt Ver-stellung und Ver-rücktheit in bezug auf den eigenen Geist. Da führt Unwahrhaftigkeit im Grenzfall zum Geistes-Tode. Da ist Wahrhaftigkeit der eine Weg zum Leben.

Von hier aus können wir zum letzten Verständnis dessen gelangen, wie Schau-Spiel und Selbstverwirklichung, zusammenhängen. Alle Komödie ist Sinnerfüllung. Doch es kommt darauf an, welcher Sinn bestimmt: ob ein von außen übernommener, ein Phantasie-erschaffener oder schließlich der lebendige und wahrhaftige schöpferische Sinn des eigenen Geists. Ist letzteres der Fall, dann ist das Schauspiel als solches Selbstverwirklichung. Denn dann stellt dieses nicht dar, was ist, sondern was werden will und soll. Gleichwie das Auge nur nach außen blicken kann, so führt nur Projektion des Inneren nach außen zu dessen Realisierung, für sich sowohl als für die anderen. Durch Introspektion erfuhr noch keiner auch nur theoretisch, wer er ist, denn sie erweist bestenfalls den Zusammenhang der Gegenwart mit der Vergangenheit, nie jedoch den mit der Zukunft, auf die allein es bei dem einsinnig-vorwärtsstrebenden Charakter des Lebens praktisch ankommt. Realisierung der Zukunft ist nur möglich durch Darstellung dessen, was man von sich nicht weiß. Dies wird eben durch die Darstellung wirklich. Auch hier heißt es: es werde Licht. Die Darstellung transponiert einen gegebenen Zustand aus dem Virtuellen ins Aktuelle, legt ihn damit fest in der Erscheinung, und dadurch erst wird sichtbar, was er ist. Daraus aber ergibt sich zugleich die Möglichkeit, über ihn hinauszugelangen.

C. G. Jung hat gezeigt, dass ein typischer Weg psychologischer Entwicklung darin besteht, die Dinge von der Objektstufe auf die Subjektstufe, zu heben: der Mensch beginne damit, sein Innerliches außer sich zu erleben und im Fortschritt der Integration beziehe er es in sich zurück. Eben dank dem kann der Mensch weitergelangen, als er war. Andererseits: so allein vermag er’s; nachdem er einen Zustand herausgestellt, wird dieser ihm zu neuem inneren Ausgangspunkt. So muss der Mensch sich wieder und wieder darstellen, um voranzukommen. Der junge Schriftsteller muss schreiben, nicht bloß denken, um der zu werden, der er ist; er muss nicht allein schreiben, sondern drucken: denn nur über die Festlegung im Unvollkommenen hinaus kann er einmal Vollendung erreichen. Solche Festlegung schafft auf der Ebene des realisierten Geistes alle Etappen und Stufen. Hier wurzelt schon der Sinn des Entschlusses, des Versprechens. Unbindbar von außen her, kann sich der Geist freiwillig, binden. Einmal auf bestimmte Weise gebunden, ist er zu neuer Selbstdarstellung fähig, welche ehedem unmöglich war. Er sieht sich, so wie er ist, und nun ist sein dunkler Grund bereit, Neues zu gebären. Das Herausgestellte aber wird alsbald zum Vorbild, ob in positivem oder negativem Verstand, gleichviel. Unter allen Umständen bedeutet die bloße Tatsache der Herausstellung Hinausgewachsensein. So muss der Geist Welt auf Welt schaffen, um er selbst zu werden. Alles Herausgestellte verkörpert für sich einen neuen Anfang. Es wird zu neuem Vor-Bild für seinen eigenen Schöpfer und wirkt auf diesen zurück. In diesem Sinne sind alle Völker die Söhne und nicht die Väter ihrer Taten. In diesem Sinn sind alle reifen Geister die Früchte ihrer Unvollkommenheiten. In diesem Sinn sind alle Heiligen die Kinder ihrer Sünden. In diesem Sinn bedarf jeder seines eigenen Werks, um weiterzukommen: nachdem er sein Werk geschaffen, ist er anders und mehr, als er früher war. Und das gleiche Werk kann einen neuen Ausgangsort für alle schaffen, die es als Vor-Bild annahmen…

Hermann Keyserling
Südamerikanische Meditationen · 1932
XII. Divina Commedia
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME