Schule des Rades

Hermann Keyserling

Mensch und Erde

Der erdbeherrschende Geist

Himmelreich auf Erden

Diesen Gedankengang kann ich erst im Schlussvortrag zu Ende führen. Meine heutige Aufgabe ist eine andere. Sie erschöpft sich darin, zu zeigen, inwiefern der Geist an sich zum Erdenleben gehört. Aus der Ur-Zauberei hat er sich mählich herausdifferenziert. Sein äußerlicher Ausdruck ist die souveräne, weltunabhängige, weltüberlegene, schöpferische Initiative. Verkörpert und vertritt der Mensch ihn ganz, dann führt er in reiner Freiheit fort, was die Natur in Form der Gebundenheit leistet. In allen Stellungen, auf allen Ebenen behauptet sich das Leben zunächst durch Anpassung, alsdann durch Umwelt-Beherrschung. Denn insofern es verwandlungsfähig ist, ist es den äußeren Umständen grundsätzlich immer überlegen, so gefährdet es sei. Hier klafft überhaupt kein Bruch zwischen Naturwerden und Geistesschaffen. Auch der Geist muss zunächst sich anpassen, d. h. verstehen. Die Naturgesetze, die Regeln der Zauberei muss er in erster Linie anerkennen. Wo er dies nicht tut, oder wo er missversteht, dort unterliegt er. Daher die weltliche Ohnmacht aller spirituellen Riesen bis auf diese Zeit — sie wussten alle nicht, worauf es zum Heil dieser Welt an erster Stelle ankommt. So war es auch ein reines Missverständnis Jesu, dass er die Schwäche über die Macht stellte. Wo nun aber der Geist verstanden hat, da ist er mit einem Male Herr. Denn da gelangt das an sich Ohnmächtige in den Besitz der irdischen Machtmittel. Zunächst muss der Mensch als Geistträger erkennen, um zu leben. Als Natur ist ja der Mensch schlechter angepasst als alle anderen Wesen, seine Schöpferkraft liegt nur mehr auf psychischem und geistigem Gebiet. Er heilt nicht mehr von selbst, er braucht Arznei. Ihm wachsen keine Flügel, er muss Luftschiffe bauen. Aber in dieser Nützlichkeitsfunktion erschöpft sein Geist sich nicht; sie stellt nur seine unterste Region dar. Die Differenzierung des Geistes zu einem schlechthin Selbständigen — hier verweise ich wieder auf Scheler — hat dem wesentlich Erd-Überlegenen ein irdisches Organ erschaffen. Wohlgemerkt: ein irdisches Organ. Ohne Gehirn, ohne Solarplexus, ohne Drüsen vermag er nichts. Er vermag auch nichts ohne irdische Ausdrucksmittel. Im Höchstfall ist dies das Wort, das aber seinerseits wiederum an die irdischen Eigengesetze von Sprache, Grammatik und Syntax gebunden ist.

Allein im Mittel dieses unbezweifelbaren Irdischen wirkt sich ein Naturüberlegenes und insofern nicht-Irdisches aus. Zwar nicht mehr in Naturverkörperung, wie in der schönen Zauberer-, Märchen- und Mythenzeit. Dafür aber in unbedingter Eigengesetzlichkeit. So soll es sein, so heißt es jetzt, gleichviel wie es ist. Die ethischen und ästhetischen Normen erscheinen in sich selbst gegründet. Die Logik, die Mathematik bedarf keiner Erfahrungsbeweise. Die Religion gar spottet alles Irdischen. Hier setzt denn immer erneut der ewige Konflikt zwischen Natur und Geist ein. Die Triebe wissen nichts von idealer Norm, und wir Menschen sind zum größeren Teile noch Naturwesen. Aber es ist möglich, die Natur zu überwinden, zu durchgeistigen. Es ist möglich, ideale Kunst zu schaffen. Es ist möglich, die Wahrheit um ihrer selbst willen zu wollen. Es ist möglich, Güte unabhängig von aller Belohnung anzustreben. Und da muss die Natur sich beugen. Der Geist ist gewiss vom Erdenstandpunkt ohnmächtig, wie jede Vorstellung von sich aus ohnmächtig ist. Aber wird eine solche lang genug fixiert, so setzt sie sich auf irgendeine rätselhafte Weise von selbst in Wirklichkeit um. So ergreift der Geist, konsequent kontempliert, auf die Dauer vom Seelischen und Körperlichen Besitz. Dann gelangt seine eigene Strahlkraft zur irdischen Wirkung. Dann wird ihm die Erde zum bloßen Material. So wird denn die Paradoxie der Lehren Christi, Laotses und aller Tiefen verständlich, dass das Weiche letztlich mächtiger sei als das Harte, oder der Arme mehr als der Reiche. Auf die Dauer besiegte der Geist Christi das Römische Reich. Für die Dauer sind die geistigen Geister, als solche naturnotwendig irdisch schwächer als jeder Rohling, die eigentlichen Herrscher. Nicht nur der Intellekt, nicht nur der in Trieben und Leidenschaften verkörperte Geist ist also erdbeherrschend: auch im Geist als dem Inbegriff absoluter Spiritualität liegt es, zur Erdenmacht zu werden. Daher die Lehre Christi, dass das Himmelreich auf Erden zu verwirklichen sei. Daher die noch so langsame Zunahme von Liebe und Güte und Wahrhaftigkeit auf Erden. Gewiss sind sie immerdar, jeden Augenblick gefährdet. Nur wo irdische Institutionen sie stützen, halten sie sich überhaupt, und diese verderben ihrerseits zwangsläufig, wieder und wieder, ihren Sinn. Doch selbst wenn eine Zunahme der Vergeistigung auf Erden bisher nicht nachweisbar wäre: möglich ist sie. Sie ist möglich, weil der Mensch selbst letztlich Geist ist. Je mehr er sich über die Natur erhebt, je mehr er persönlich-bewusst im Reich des Sinnes Wurzel fasst, desto mehr zeigt sich dasselbe auf allen Ebenen, wozu die Sprache das Urbild schafft es sei ein Gedanke intuiert, und die nötigen Sätze, Worte und Buchstaben, sie alle rein irdischen Ursprungs, sammeln und ordnen sich von selbst.

Hieraus folgt denn zweierlei. Erstens dass es ein Missverständnis ist, in der Erdbeherrschung ein Minus zu sehen. Gewiss zerstört der Ein- und Durchbruch des Geistigen vieles, denn in seinen niederen Ausdrücken ist es lebensfeindlich und seine Initiative durchkreuzt nur zu oft das weisere von selbst. Aber ganz abgesehen davon, dass heute, geologisch gesprochen, nun einmal Menschenzeit ist, weswegen alles Nachtrauern sogenannten naturnäheren Zuständen ein Missverständnis gerade des Menschentums bedeutet, liegt die wahre Aufgabe darin, den niederen Geist dem höheren dienstbar zu machen. Das ist ja der Sinn des Anspruchs auf Primat aller Religion, aller Ethik, aller Philosophie. Und dank der wesentlichen Freiheit des Geistes ist er erfüllbar. — Zweitens aber folgt aus unseren heutigen Betrachtungen, wie mir scheint, nunmehr als sichere Erkenntnis, was der Eingangsvortrag nur als These aufstellen konnte: dass der Mensch in einer Hinsicht ebenso real nicht von dieser Welt ist, wie er andererseits unlöslich zu ihr gehört. Hieraus erklärt sich sein Fall aus dem Naturreich. Hieraus sein unausrottbares, unaufhaltsames Streben nach Überweltlichem. Die wahre Wurzel des Menschen ist metaphysisch.

Hermann Keyserling
Mensch und Erde · 1927
Der Leuchter · Achtes Buch
© 1998- Schule des Rades
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