Schule des Rades

Hermann Keyserling

Mensch und Erde

Der sich wandelnde Planet als Einheit

Geopsychologie

Man erfasst und erlebt nur, was zur persönlichen Merkwelt gehört. Und dies gilt nicht allein in dem allgemeinen biologischen Verstand, auf den hin Uexküll den Begriff einer Merkwelt geprägt hat, in dem Verstand, dass jeder Organisationstypus, also auch die Spezies Mensch, auf bestimmte Art, welche einerseits Erfahrung ermöglicht, andererseits aber der Möglichkeit unübersteigbare qualitative Grenzen setzt, dem kosmischen Ganzen eingefügt erscheint; es gilt auch nicht allein im abstrakten Kantischen Verstand, wonach der Erkenntnis transzendent bleiben muss, wozu sie nicht spezifische Organe besitzt: es gilt ganz konkret dahin, dass jede gültige Erkenntnis zu ihrem Gewinn sowohl als ihrer Vermittlung eine ganz bestimmte Veranlagung voraussetzt. Der Begriff eines Denkers, der kraft seines Denkens über alles Gültige auszusagen befugt wäre, ist insofern ein Unbegriff. Denken als solches ist, um mit Kierkegaard zu reden, existentiell nur auf logischem Gebiet, und auch dort kann es von sich aus nur soweit über die Wirklichkeit entscheiden, als der Satz Spinozas gilt:

ordo et connexio idearum idem est ac ordo et connexio rerum.

Und dieser gilt nur auf beschränktem Gebiet. Die Weltoffenheit des Menschen so zu verstehen, dass der genügend begabte Denker als solcher über Sein und Nichtsein, über So- und Anderssein zu entscheiden hätte, ist vollkommen verfehlt. Alles Wirklichkeitserfassen setzt vielmehr eine konkret-erlebnismäßige Beziehung zur betreffenden Wirklichkeit voraus, und die ist immerdar an bestimmte konkrete Begabung gebunden. Desgleichen setzt alles Weitergeben bestimmter Erkenntnis spezifische Ausdrucksbegabung voraus. So kann einzig die Meinung des religiös primär Erlebenden über das Religiöse auf Beachtung Anspruch erheben, und auch hier dann allein, wenn er befähigt ist, seine Erfahrung auch solchen verständlich wiederzugeben, die nicht die gleiche Anlage besitzen. So ist jedes Urteil über das Wesen des Unbewussten dessen, der keine primär verstehende Beziehung zu ihm hat, ohne jedes Interesse. Von dieser Grundvoraussetzung aller Erkenntnisgewinnung und -vermittlung geht nun die Wahl bei der Berufung unserer Tagungsredner erst- wie letztinstanzlich aus. Die Sache an sich gilt hier gar nichts, weil sie an sich nichts gilt; nur die Korrespondenz von Person und Sache gibt in Darmstadt das Recht zum Vertreten eines bestimmten Standpunkts: denn handelt es sich nicht um den natürlichen Standpunkt, so ist er usurpiert, auf Grund des Gesetzes, dass jeder nur das kann, was er unwillkürlich kann. Unter diesen Umständen mag man wohl die Frage aufwerfen, wie gerade ich den Vortrag Der sich wandelnde Planet als Einheit übernehmen durfte. Denn dass gerade Geologie das eine Gebiet ist, das ich als Fachmann studiert habe, befähigt mich gewiss nicht dazu. — Nun, ich durfte den Vortrag übernehmen, weil ich primär gerade die Einheit, auf welche das Thema hinweist, erlebe. In dieser Behauptung liegt kein Werturteil und folglich auch keine Anmaßung: ich bin einfach, sagen wir, ein Laubfrosch. Andere Frösche mögen diesen an Größe und Sprungkraft und Klangfülle der Stimme übertreffen, dem Laubfrosch allein ist es Kraft seiner Natur gegeben, das kommende Wetter dem Menschen verständlich anzuzeigen. Mir ist die Einheit der Landschaft als psycho-physische Wesenheit primäres Erlebnis. Deshalb konnte ich das Reisetagebuch schreiben. Deshalb erfasse ich so leicht den Geist (nicht notwendig den Wortlaut) einer Sprache, wenn ich mich auf deren Herrschaftsgebiet befinde. Deshalb gelingt es mir manchmal sogar, die Sonderart von Tieren eines bestimmten Typus, die einer bestimmten Landschaft entsprechen, a priori zu konstruieren. Ich habe einfach das Organ zu unmittelbarer Aufnahme einer Wirklichkeit, die Andersbeanlagte nur konstruieren können. Und diese Wirklichkeit ist andererseits tatsächlich die primäre vom Standpunkt des Erdendaseins: deshalb musste der erste Vortrag nach der allgemeinen Einführung sie behandeln. Weil es sich bei ihr um eine richtige Gegebenheit handelt, kann man sie natürlich nur an Ort und Stelle erfahren. Sie beschließt als höhere, bedingende Synthese alles Sonderliche auf einmal ein: Klima, Erdbeschaffenheit, Gestaltung, Farbe, Sprache, Gedanken. In der Wüste entstand in meinem Geist von selbst der von den Juden und Arabern her historisch bekannte Wüstengott. In China erfasste ich die Welt von selbst im Rahmen chinesischer Denkkategorien. Indiens Geist verstand ich sofort, als ich den ersten Tempelzeremonien beiwohnte — aber nicht vorher. Jede Landschaft (im soeben bestimmten weitesten, alles in sich begreifenden Verstand) schafft in der Tat einen auf bestimmte Art erlebenden Menschen. Von Reches Forschungen her (vgl. sein Buch Moana) wissen wir neuerdings, dass das Welterleben des Polynesiers von der Zeit und nicht, wie bei uns, dem Raume ausgeht, von der Farbe und nicht der Gegenständlichkeit. In den Tropen stellen sich nordische Probleme nicht; daher Buddhismus wie hinduistischer Polytheismus. Seelenweite setzt typischerweise Landschaftsweite voraus. So ist der Russe weit, der Europäer eng, der taleingepferchte Schweizer als Volkstypus borniert. Die Engigkeit kann andererseits wieder die Voraussetzung feiner Differenzierung sein: die Kultur Griechenlands und seither die Europas wäre aus weiteren Verhältnissen nicht erwachsen. Der Komponenten dieser primären Landschaftseinheit sind so viele, und die Gewichtsverteilung ist so verschieden von Fall zu Fall, dass sich über das Angedeutete hinaus kaum Allgemeines sagen lässt. Selbstverständlich kann das Übergewicht eines Faktors oder mehrerer Faktoren auch die Landschaftseinheit zeitweilig scheinbar sprengen. Doch für die Dauer siegt immer und überall der Landschaftsgeist. Gleichwie die großen Meeresströmungen den Durchschnitt der seit Jahrzehntausenden wehenden Hauptwinde widerspiegeln, so beleben die gleiche Landschaft, solange sie sich gleich bleibt — als die Sahara noch Wald war, galt das für sie heute Gültige natürlich nicht — für die Dauer immerdar gleiche Organisationstypen. So wächst die Pflanze Mensch in Italien von jeher triebstärker als sonst in Europa. So bewohnt Ägypten noch heute die traditionelle ägyptische Kuh, obgleich sie, nach Frobenius, drei Male nachweislich vollständig ausstarb. So entwickeln sich die Amerikaner unaufhaltsam dem indianischen Typus entgegen. Was neuerdings die Sonderdisziplinen der Geopolitik, der Geopsychologie usw. erforschen, sind solche Resultanten. Die sind ganz groß und ganz einfach und immer eindeutig. Wie auch fremde Tiere überall den ortsüblichen Wechsel einhalten, obwohl sie ihn nie früher sahen; gleichwie Wandervögel, obwohl meist von den jüngsten geführt, überall die althergebrachten Heerstraßen einhalten, so bewähren sich, seitdem es kriegführende Völker gibt, die gleichen strategischen Punkte und Linien. Denn auch der Mensch lebt in bezug auf seine Umwelt. Wo er nicht von Hause aus angepasst erscheint, dort passt er sich an. Er kann als Steppen-, Wald-, Meer-, und Wüstenwesen nicht der gleiche sein. Er muss jeweils anders denken, anderes wollen. Über den Zusammenhang der organischen Periodizität mit den Erdeinflüssen, so des Frauenlebens mit den Mondphasen, der Fruchtbarkeit mit der Erdbebenhäufigkeit zu reden erübrigt sich: er ist allgemein bekannt.

Und diese Einheit äußert sich jedesmal in der Korrelation sämtlicher Komponenten. So auch der verschiedenen Lebewesen. Hier ist Symbiose recht eigentlich Urphänomen. Denn sie ist das eigentliche Charakteristikum der Beziehung der Bakterien zu den höheren Lebewesen, die sie bewohnen; nur ausnahmsweise treten sie schädigend auf. Medusen und Taschenkrebse kooperieren. Der Klee ist zur Befruchtung auf Bienen angewiesen. Die Tiere hängen zu ihrer Existenz vom Dasein der Pflanzen ab. Diese Korrelation ist so vollständig, dass von jedem Wesen als Ansatzpunkte aus ein gleich vollständiges Weltbild zu gewinnen wäre, wie wir’s vom Menschen her zu schaffen gewohnt sind. Es fiele nur mehr oder weniger pessimistisch aus, je nach der Stellung des Geschöpfs. Wir bestimmen den Sinn des Insektendaseins vom lebenden Menschen her: sicher hätten die Leichenkäfer und -würmer ein ebenso gutes Recht, unseren Daseinsrhythmus danach zu beurteilen, was er für sie bedeutet — danach aber wäre die Leiche des Menschen Vollendungszustand. Man lese Maeterlincks Schilderung des Gangs der Leichenverwesung: es ist erschütternd, wie genau da jede Phase zum besten bestimmten Gewürms und Gekreuches vorausbestimmt erscheint, wie selbstverständlich eine Art die andere ablöst. Und von hier aus versteht man denn auch ganz, wieso die vielen exzentrischen Weltbilder, die Philosophen aushecken, doch existenzberechtigt sind — dass sie es sind, beweist ja die Zahl derer, denen sie einleuchten. Sie sind zweifelsohne in den meisten Fällen verrückt im buchstäblichen Sinn des Worts. Aber die Menschen selbst, die sie erfanden, sind eben verrückt vom Weltzentrum aus gesehen. So haben sie recht, indem sie Verrücktes vertreten.

Hermann Keyserling
Mensch und Erde · 1927
Der Leuchter · Achtes Buch
© 1998- Schule des Rades
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