Schule des Rades
Hermann Keyserling
Mensch und Erde
Der sich wandelnde Planet als Einheit
Klaviatur der Wirklichkeit
Liegt eine nachmenschliche Epoche im Bereich der Möglichkeit? Zu einem Urteil hierüber fehlen alle Voraussetzungen. Die unwahrscheinlichsten Überraschungen sind möglich. Die Schrumpfungstheorie der Erdkruste kann heute als erledigt gelten. Dass die Erde überhaupt veralte, ist recht zweifelhaft. Dacqué glaubt zweierlei: erstens, dass der Mensch einmal natursichtig und des Zauberns fähig war; sicher kann der heutige Mensch weder Mythologien ersinnen, noch auch aus wildem Stamme Haustiere und Nutzgetreide schaffen. Zweitens, dass neue Fähigkeiten im Erwachen sind; das sei der Sinn des Neuauflebens des Okkultismus in jeder Form. Ich enthalte mich jeder Prophezeiung, da ich nicht weiß. Aber anderes weiß ich: kommt eine neue Zeit, dann wird sich die Einheit des sich wandelnden Planeten so erweisen, dass dann auch neue Wesen hochkommen. Es muss sich der Mensch auch anatomisch wandeln, wenn er qualitativ anderes vermögen soll, als was er heute kann. Ohne physische Organe ist nichts auf Erden manifestationsfähig. Hier tut es die Psyche als solche freilich nicht. Der Geist sei so überirdisch wie er mag: zu seiner Manifestierung bedarf er des Zusammenwirkens von Gehirn, Solarplexus, Drüsen verschiedenster Art. So leugneten die alten Inder, die doch mehr als irgendein Volk von der Höherentwicklung der Psyche verstanden, dass diese anders wie durch Veränderung der Physis zu erreichen sei. Es ist tatsächlich ein Denkfehler, zu glauben, dass der Körper auf Erden irgendeinmal auszuschalten sein wird. Eine Veränderung der Typen ist nun für die Zukunft genau so möglich, wie sie es von jeher war. Sie ist weder mehr noch auch weniger möglich, weder mehr noch auch weniger wahrscheinlich. Und kommt es dahin, so wird es auch wieder so zugehen wie jedesmal: neue Herrenrassen
werden als Eroberer auftreten. Und dieses Entstehen wird vollkommen unerklärlich erscheinen. Bernard Shaws Darstellung in Back to Methusalah — the thing happens — gibt hier gewiss, von der Erde aus beurteilt, das sinngemäßeste Bild. Sehr möglicherweise wird ungeahnt vieles von dem, was heute natürlich zugeht, künstlich erfolgen; denkende Vögel staunen gewiss darob, dass wir Flugzeuge erfinden, anstatt Flügel zu kriegen, und sehen insofern wohl auch auf uns herab. Aber dieses Künstlichwerden vieler Prozesse wird am Gesamtbild gar nichts ändern. Immer, dar werden es die Erdkräfte sein, mittels derer alles nur Mögliche geschieht. Wir naturfremden
modernen Menschen arbeiten ja nicht mit weniger, sondern mit sehr viel mehr Naturkräften — Elektrizität, Magnetismus, strahlender Energie — als irgendein Naturwesen vor uns. Ich wage es auszusprechen: besiegte einstmals Zeus die Titanen, dann mag sehr wohl noch einmal eine geologische Epoche alleinbestimmenden Geistes kommen.
Sie mag kommen: doch am Gesamtbilde wird, von der Erde aus beurteilt, auch das nichts ändern. Nie wird der Mensch, solang er als Erscheinung Mensch ist, dem Zusammenhang mit der Erde entrinnen. Immerdar und für alle Zeit wird der sich wandelnde Planet eine wesentliche Einheit bleiben. Der Mensch herrscht heute vor, weil dies dem Planetenschicksal entspricht. Zusammen mit der Erde wird sein Geschlecht eines Tages untergehen. Heute früh behandelten wir die spirituelle Seite der Idee des Vaterlands. Ja, warum erreicht der Mensch seinen Höhepunkt immer allein in inniger Einheit mit der Mutter Erde? Nun, eben weil der sich wandelnde Planet eine Einheit ist. Die Erde selbst privilegiert den Bodenständigen — den Bauern und Edelmann. Nur wer für das Land lebt, nicht allein von ihm, den allein erkennt sie letztlich an. Den Entwurzelten verurteilt sie zum Tode. Proletariat und Intellektuelle sterben immer wieder aus. Nur wer die Vergangenheit anerkennt, hat auf Erden Zukunft. Nomaden haben nie irdisch Dauerhaftes erschaffen: nur wer die Erde anerkennt, wird von ihr anerkannt. Die Mongolen in China, die Germanen in Europa gingen, soweit sie nicht ausstarben, in den bodenständigen Völkern auf. Auch die Deutschentypen, die von jeher Eroberer waren, sind nämlich Nomaden: darauf, nicht auf mangelndem Nationalgefühl, beruht ihr schicksalsmäßiges Aufgehen in fremden Völkern, wo sie sich nicht in Form kolonialer Parasitenbildungen künstlich abschließen. Nomaden mögen sich gleich Sanddünen über die Landschaft wälzen: zu guter Letzt siegt immer deren eigener Geist, verkörpert in ihren bodenständigen Söhnen.
Dies führt uns denn, zum Schluss, zu zwei Erwägungen von aktueller Bedeutung. Wir leben am Beginn eines neuen und dieses Mal erdumspannenden Nomadenzeitalters; dem des dominierenden Chauffeurs. Doch nicht der Chauffeur — das sehen wir jetzt — kann die Zukunft für sich haben. Heute findet Ähnliches statt, nur eben auf dem ganzen Planeten, wie in Europa während der Völkerwanderung. Es ist also eine Übergangszeit. Diese leitet die ökumenische Menschheitsära nur ein. Es muss ein neues lebendiges Verhältnis zur Mutter Erde erwachsen sein, bevor neue menschliche Höhepunkte möglich werden. — Die zweite Erwägung, die ich zum Abschluss anstellen wollte, ist die: unsere noch so kurzen Betrachtungen haben, wie mir scheint, den Widersinn des abstrakten Idealismus erwiesen. Gewiss, wer über die Erde hinaus will, der wende sich von ihr ab. Doch wer immer im guten auf ihr und mit ihr wirken will, hat sie und ihre Gesetze in Ehrfurcht anzuerkennen. Er muss auf der Gesamtklaviatur der Wirklichkeit zu spielen lernen, so er Wesentliches leisten will. Sinn und Ausdruck, Sinneserfassung und Realpolitik müssen sich da entsprechen. So findet die erwiesene Lebensfeindlichkeit des Ideologen ihre planetarische Erklärung. Es ist gerecht, nicht ungerecht, wenn der Verkenner des Kairós alle Male scheitert. Er scheitert niemals unschuldig, sondern schuldig.