Schule des Rades

Hermann Keyserling

Die neuentstehende Welt

Einführung

Originalität

Der Nachwelt erscheinen Zeitgenossen, soweit sie am allgemeinen Leben teilhaben, allemal als eines Geistes Kinder. Wie groß die jeweiligen Unterschiede und Gegensätze immer seien: sie gehören als komplementäre Teilausdrücke einer höheren Einheit zueinander. Was nun die Nachwelt immer wieder erkennt, sollte die Gegenwart nachgerade vorwegnehmen können. So leite ich dieses Buch denn mit dem Anspruch ein, dass sein Inhalt, soweit er wahr und wertvoll ist, mehr bedeutet als den Niederschlag meines persönlichen Denkens: er ist der Teilausdruck einer überpersönlichen Geistesbewegung.

Wie dieser Satz allgemein zu verstehen sei, führt das vorliegende Buch selbst in seinen ersten Kapiteln aus, überdies, von etwas anderer Fragestellung her, meine Einführung zu Berdjajews Sinn der Geschichte. Hier will ich von ganz Bestimmtem handeln. Vergleichen wir die Geister miteinander, die dieser Zeit nachweislich lebendige Impulse historisch wirksamen Charakters mitgeteilt haben; z. B. Spengler, Frobenius, Freud, Jung, Coué, Bergson, Le Bon, Lenin, Mussolini, Wells, Bernard Shaw: so sehr sie sich voneinander unterscheiden, auf so verschiedenen Gebieten sie tätig und wirksam sind — jeder einzelne von ihnen hat manches von dem, was die anderen vertreten, auch einmal vertreten, wenn nicht explizite, dann doch implizite; und zwar letzteres gerade dort am meisten, wo er unmittelbar Entgegengesetztes vertrat, denn in dieser polar geordneten Welt hängen Gegensätze so notwendig zusammen, dass, wer bestimmten Positives setzt, dessen Negativ recht eigentlich persönlich mitsetzt. So dass die Gelehrten der Zukunft sicher noch einmal Prioritäten nachweisen werden, von denen sich die Objekte ihres Studiums nichts träumen lassen. Höchstwahrscheinlich werden sie dabei sogar Entlehnungen feststellen wollen, die unter den Lebenden, falls diese je darauf kämen, bitterste Fehden auslösen müssten. In Wahrheit liegen die Dinge so, dass die, welchen Neues einfällt, genau so unentrinnbar dem Sinn nach Zusammenhängendes vertreten, wie sich die anderen auf Grund der gleichen Bildung ähneln. Auch auf geistigem Gebiet macht die Natur keine Sprünge. Neuerer ist der, der von gegebener Basis aus eine kleine Wegstrecke aufwärts oder vorwärts schritt.

Wer seiner Zeit voraus war, war es immer nur um wenige Generationen, was im Zusammenhang keinen großen Unterschied bedingt, und seine Richtung war in der Vergangenheit jedesmal vorgebildet. Damit fällt denn die bloße Möglichkeit absoluter Originalität. Um Neues zu sagen oder zu tun, muss einer das Vorhandene, bewusst oder unbewusst, kennen; deshalb hat keiner auf Gebieten, für die der Fortschrittsbegriff gilt, von den Uranfängen abgesehen, je Neues geleistet, bevor er gelernt hatte; deshalb bringen junge Zivilisationen, die sich im Rahmen alter betätigen, lange Zeit hindurch nichts Neues hervor, so begabt ihre Vertreter auch seien. Kennt oder verkörpert einer jedoch die Grundlage des möglichen Neuen, dann vertritt er keinesfalls nur-Eigenes. Und hierzu kommt für den Fall historischer Bedeutsamkeit ein Weiteres. Führen kann seine Zeit oder die Nachwelt der allein, der ihr so Naheliegendes vertritt, dass es den anderen von deren Voraussetzungen aus einleuchtet, denn jeder folgt nur dem, welcher die Ziele seines eigenen Unbewussten ausdrückt. Diese Erwägungen dürften denn endgültig klarmachen, nicht allein warum alle schöpferischen Menschen gleicher Zeit, so oft sie sich bei entsprechender Begabung gleichen Gebieten zuwenden, auf Gleiches oder dem Sinn nach Zusammenhängendes kommen, sondern dass sie darauf kommen müssen. Spenglers Grundgedanken sind nicht allein Frobenius selbständig (und früher) eingefallen, ich weiß von mehreren Forschern, von denen Gleiches gilt. Ebenso vertreten Fascismus und Bolschewismus, abstrakt betrachtet, nur mit verschiedenen Vorzeichen Gleiches, und sicher sind diese beiden polar entgegengesetzten Bewegungen aus verschiedenen Wurzeln unabhängig voneinander erwachsen. Ebenso ist der Couéismus eine besondere Abart dessen, was ich Sinnesverwirklichung heiße, treiben heute die verschiedensten Philosophenschulen Sinnesphilosophie.

Hieraus folgt denn, dass die Prioritätsfrage vom Standpunkt des Lebens ohne wesentliches Interesse ist; was einem einfiel, hätte auch anderen einfallen können, wo dies nicht faktisch geschah. Und sie verliert alle Bedeutung, sobald man sich über das Folgende klar ward: Keiner kann wirksam vertreten, was ihm nicht persönlich gemäß ist, denn die Lebenskraft eines geistigen Impulses beruht einzig auf dem wer, nicht dem was1. Deshalb kann jeder nur mit den Gedanken Lebendiges erschaffen, die ihm persönlich entsprechen. Die nun sind unzweifelhaft die seinen, ob sie ihm persönlich einfielen oder ob er sie übernahm, denn Erfinden und Verstehen bedeuten metaphysisch Gleiches; der Vorzug des ersteren liegt allein auf empirischem Gebiet, wo aller Sinn im Metaphysischen seinen ideellen Ort hat. Dass dem so ist, beweist alle an Unoriginellen vorgenommene Gegenprobe. Solche können gewiss buchstäblich plagiieren und nachmachen. Aber lebendig wirken können sie mit Fremdem nicht. Mittels des Fremden sagen sie doch immer Eigenes, sei es, dass sie das übernommene auf durchaus eigene Weise missverstehen, oder dessen lebendigen Geist durch Zerstörung des ihm einzig angemessenen Körpers töten, oder das Einzelne aus dem richtigen Zusammenhang herausreißen. Nur deshalb gelingt es späterer Forschung so leicht, den eigentlichen Urheber bedeutender Gedanken festzustellen.

Wenn sonach die Frage der Originalität im üblichen Verstand bei wesentlichen Geistern ohne Bedeutung ist, worauf beruht dann die Sonderbedeutung des Einzelnen? — Von der Begabung können wir hier absehen, deren Voraussetzung ist Selbstverständlichkeit; dass Unbegabte Außerordentliches leisten könnten, ist eine widersinnige Annahme. — Die Sonderbedeutung des Einzelnen beruht, wo sie vorliegt, darauf, dass dieser kraft seiner Sondereinstellung und -anlage bestimmte allgemein bedeutsame Möglichkeiten der Fortentwicklung besser als die anderen zu erkennen und in Gedanken und Handlungen auszudrücken vermag, so dass er insofern die Rolle eines Organs der Gesamtheit spielt; historisch betrachtet liegen die Dinge durchaus nur so und nicht anders, denn die Einzigkeit des Einzelnen an sich verkörpert für andere keinen Wert. Nur das Auge vermag zu sehen, nur das Ohr zu hören. Daraus folgt aber weiter, dass die Bedeutsamkeit an die richtige Erkenntnis der Grenzen des Gebiets, das ein gegebenes Organ wahrzunehmen und zu beeinflussen gestattet, und damit der Grenzen der eigenen Anlage eindeutig gebunden ist. Weil die wenigsten Begabten ihren natürlichen Wirkungskreis2 richtig erkennen, deshalb, nicht weil sie zu einseitig wären, zählen in der Menschheitsgeschichte so wenige; indem sie mehr oder anderes unternehmen, als in ihnen liegt, beeinträchtigen sie selbst ihr mögliches Schöpfertum, denn die Produktivität einer Anlage beruht ganz auf der richtigen Einstellung in bezug auf den Kern der Persönlichkeit und die ihm zugängliche Umwelt3. Einseitig ist unabwendbar jeder, denn keiner ist zu allem gleich geschickt, und jedes Licht wirft seinen korrelativen Schatten. Erkennt aber einer seine Grenzen richtig und stellt sich also ein, dass er nur von den Voraussetzungen aus schafft, die er tatsächlich lebendig besitzt, dann verhält er sich zur menschheitlichen Gesamtheit wie das Auge zu der des Leibes und kann deshalb recht eigentlich nicht umhin, für alle Gültiges und Förderliches zu leisten. Dass nicht allein die meisten Schaffenden, sondern erst recht die allermeisten Kritiker diesen Sachverhalt verkennen, sei hier nur neben, bei bemerkt. Diese scheinen bisher der elementaren Wahrheit völlig unbewusst, dass Möglichkeiten und Grenzen organisch zusammenhängen, weshalb z. B. der Insichgekehrte nicht unmittelbar nach außen zu wirken vermag, da seine Anlage Erleben und nicht Ausdrücken bedingt, und umgekehrt der nach außen zu Gekehrte allein das gleiche, was jener für sich erlebt, auf andere übertragen, ebendeshalb aber nicht im selben Maß und Sinn als Erlebnis besitzen kann, und dass beide in gleicher Tiefe wurzeln mögen4. Und es fehlt ihnen weiter ganz die elementare Einsicht, dass nur das Positive für die Gemeinschaft zählt, weshalb es nicht allein widersinnig, sondern auch Zeichen mangelnden Verantwortungsbewusstseins ist, wenn sie bei den seltenen Geistern, die überhaupt Wesentliches zu geben haben, immer wieder das betonen, was sie nicht leisten können. Denn dadurch beeinträchtigen sie deren positive Wirkung.

Aus diesen allgemeinen Erwägungen ergibt sich der besondere Charakter der folgenden Untersuchung. Nachdem ich zeitlebens unentwegt bestrebt war, meinen natürlichen Wirkungskreis richtig zu erkennen und mich innerhalb seiner richtig einzustellen, glaube ich heute so weit zu sein, dass ich im großen ganzen nur das vertrete, was ich wirklich bin, und die Dinge nur in der Perspektive betrachte und zeige, die ich wirklich beherrsche. Ebendeshalb glaube ich allen zum Organ dienen zu können. Aber ich bin eben nur ein Organ unter anderen und deshalb nur Bestimmtes so zu erfahren fähig, dass ich es als Aufgabe betrachten darf, es anderen zu zeigen. Die vorliegende Arbeit hat die psychologischen Untergründe von Geschichte und Kultur zum Gegenstand. Deshalb betrifft sie, weite Wegstrecken entlang, notwendig Gleiches, wie die von Spengler, Frobenius und Jung. Aber andererseits finde ich kaum, und wenn, dann nur nebenbei Veranlassung, mich mit deren besonderen Anschauungen zu befassen, denn mein Problem erfordert die Beantwortung der Fragen jener nicht; überdies fühle ich mich zur eigentlichen Stellungnahme unberufen, denn mir fehlt die ursprüngliche Anlage zum Kulturmorphologen und Seelen­paläontologen, und bei wem solches auf irgendeinem Gebiete gilt, dessen Kritik ist auf diesem ohne Bedeutung.

Meine Fragestellung erfordert auch keine Behandlung des eugenischen und des Rassen-Problems. Wie wenig ich deren große Bedeutung verkenne, beweist mein Aufsatz Von der richtigen Gattenwahl im Ehe-Buch; aber die Gesichtspunkte, zu denen ihre angemessene Lösung führt, ändern nichts an der Gültigkeit meiner Feststellungen, soweit sie richtig sind; ja hier ruht der primäre Bedeutungsakzent unzweifelhaft auf diesen, weshalb die Rassehygieniker, so sie Gutes erreichen wollen, sich an ihnen werden orientieren müssen. Meine Fragestellung erfordert endlich keine Behandlung des Schicksals im Sinn kosmisch-astrologischer Vorherbestimmtheit. Mag die seinem Begriff entsprechende Realität noch so erwiesen sein, die Kausalreihen und möglichen Zielsetzungen, welche ich vertrete, bestehen trotzdem; jene im Sinn bestimmter Koordinaten des Fatums, diese als Wege seiner Erfüllung im Guten. Ich befasse mich hier ausschließlich mit dem, was mir im selben Verstande liegt, wie das Sehen dem Auge. Mein Erkennensbereich ist eine besondere Seite der Gesamtwirklichkeit: die Sinne oder Logos-Seite. Was ich Sinn heiße, liegt dem Leben als schöpferisches Prinzip unter allen Umständen zugrunde, ob der jeweilige Tatbestand nun kollektiv-psychologisch, morphologisch, rassenbiologisch und astrologisch so oder anders am besten zu beschreiben sei; fasse ich den Sinn richtig, so besteht meine Fassung unabhängig von der Richtigkeit aller Behauptungen jener Disziplinen zu Recht. Ferner bin ich, meiner Anlage nach, kein Gelehrter und kein Theoretiker. Sinneserfassung, mein eigenstes Vermögen, operiert, wie das Schlusskapitel näher begründet, unabhängig von allem Theoretisieren und durch alle nur möglichen Tatbestände hindurch. Hier ist sie mir überdies nur die Vorstufe zu möglicher Sinnesverwirklichung. Damit gelange ich denn zur Hauptsache.

So gut ich introvertiert-kontemplativer Einstellung fähig bin — hier schreibe ich prometheisch und nicht epimetheisch, nicht pathisch, sondern schöpferisch eingestellt, hier liegt mir der Nachdruck nicht auf dem kosmischen Schicksal, dessen Wucht mir wohl mehr als den meisten persönliches Erlebnis ist, sondern der menschlichen Freiheit. Ich schreibe nicht, um darzustellen, was ist oder werden kann, sondern damit das Bestmögliche werde. Und dies zwar im historischen Verstand. Insofern schreibe ich gewissermaßen als Staatsmann. Nur um große Zusammenhänge und Menschheitsziele ist es mir zu tun. Deshalb behandle ich hier das Problem des Einzelnen nur insofern, als das Ziel der Menschheitserneuerung nur über den einzigen Einzelnen zu erreichen ist, weil der erforderliche Ansatzpunkt in der Tiefe der Seele liegt. Wer mir daraufhin ungenügende Berücksichtigung des Einzelnen um seiner selbst willen vorwirft, der hat ganz recht, nur sollte er bedenken, dass kein Feldherr jemals eine Schlacht gewann, dem es auf den Einzelnen und nicht ausschließlich auf den Sieg des Volkes ankam, und dass die Anlage zum Feldherrn mit der zum Seelsorger nur bis zu einem gewissen Grad zusammenbestehen kann. Ich habe versucht, in dieser Arbeit ausschließlich das Gebiet möglicher Forschung zu behandeln, das meiner Begabung liegt, und strikt innerhalb der Grenzen zu verbleiben, die ihre grundsätzlich praktische Fragestellung von sich aus setzt.

Wer sonach von diesem Buche etwas haben will — und wozu sollte er es sonst lesen? —, der möge die zielbedingten Grenzen seiner möglichen Bedeutsamkeit von Hause aus gelten lassen. Er verlange vom Apfelbaum keine Apfelsinen. Akzeptiert er nun aber die gegebene Problemstellung als eine mögliche und zugleich die Arbeitshypothese, dass meine Art, die Dinge zu sehen und zu behandeln, ihm zum Organ für sein eigenes Leben dienen kann, dann wird, des bin ich überzeugt, seine Mühe nicht unbelohnt bleiben. Geht er insonderheit von der Voraussetzung aus, dass ich mich nur deshalb möglichster logischer Schärfe befleißige, weil Verstehen den Zustand verwandelt, und dass meine Theorien nicht Selbstzweck, sondern einzig dazu da sind, den Sinn der gegebenen Wirklichkeit dem Verstande fassbar zu machen und damit der praktischen Verwirklichung tieferen Sinns den Weg zu bereiten, dann muss die Lektüre ihn persönlich weiter bringen. Falsche Fragestellungen werden sich dann in ihm erledigen und dadurch Kräfte frei werden. Freilich aber muss er das Buch vom Anfang bis zum Ende, in der richtigen Reihenfolge, durchlesen. Diese ergab sich mir aus psychologischen Erwägungen. Ich zeige zuerst den Weg der Zukunftskultur, alsdann verdeutliche ich den Sinn des neuen Zustands, in den die heutige Entwicklung schicksalsmäßig einmündet. Darauf bestimme ich den richtigen Fortschrittsbegriff überhaupt, wobei die Rolle der freien Initiative gegenüber dem Von-selbst-Werden ihre genaue Abgrenzung erfährt. Zuletzt, nachdem die Durchleuchtung des Besonderen das Verständnis des Grundsätzlichen vorbereitet hat, bestimme ich die Art und die Bedeutung schöpferischen Denkens überhaupt, das fortan jeder für sich selber ausüben möge.

Zum Schluss sei noch darauf hingewiesen, dass diese Schrift mit zwei anderen einer Schaffensperiode angehört und dass, wer mich vollkommen verstehen will, diese gleichfalls zu lesen nicht versäumen möge. Davon soll Menschen als Sinnbilder, in der u. a. am Beispiel Spenglers der Sinn möglicher Prophetie und an dem Jesu der magischen Wirkens verdeutlicht wird, noch im Frühjahr 1926 erscheinen, und Wiedergeburt, welche die metaphysischen Voraussetzungen meines gesamten Denkens und Schaffens, somit auch dieser Schrift, als solche ausarbeitet, im Herbst.

1 Vgl. die genaue Erklärung dieses Tatbestands im Kapitel Was wir wollen der Schöpferischen Erkenntnis.
2 Vgl. die genaue Bestimmung dieses Begriffs im gleichnamigen Aufsatze des 10. Hefts meines Wegs zur Vollendung.
3 Vgl. die Studie Schopenhauer als Verbilder in Menschen als Sinnbilder (erscheint im Frühjahr 1926). Ferner über die Einseitigkeit als Sinnbild und Ausdrucksmittel der Allseitigkeit den Zyklus, Spannung und Rhythmus im Leuchter 1923.
4 Über diese grundlegende Wahrheit klären C. G. Jungs Psychologische Typen am besten auf. Ich selbst habe die Frage 1910 zuerst am Beispiel des Verhältnisses der germanischen zur romanischen Kultur (jetzt in Philosophie als Kunst abgedruckt) erläutert.
Hermann Keyserling
Die neuentstehende Welt · 1926
Einführung
© 1998- Schule des Rades
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