Schule des Rades

Hermann Keyserling

Die neuentstehende Welt

Der Weg zur Zukunftskultur

Zerstörung und Aufbau

Man braucht nicht Spenglers Voraussetzungen zu übernehmen, um anzuerkennen, dass die alte Kultur im Untergehen begriffen ist. Nur gilt dies nicht von der abendländischen allein: alle traditionelle Kultur auf dem Erdenrunde geht zugrunde. Warum dem also ist und was sich für positive Zukunftsmöglichkeiten daraus ergeben, sollen die Betrachtungen dieses ersten Kapitels klarzumachen versuchen.

Zunächst: was bedeutet Kultur? Eigentlich verstanden, nicht mehr und nicht weniger wie Lebensform als unmittelbarer Geistesausdruck. Diese kurze Bestimmung schließt ohne Vorurteil alles ein, was über Kultur überhaupt ausgesagt werden kann: dass sie Gebundenheit ist an eine lebendige Vergangenheit, und damit Verpflichtung; dass jede ihrer Äußerungen sinnbildlich ist in der doppelten Akzentuierung, dass alles Kulturhafte sowohl Sinn darstellt, als diesen in entsprechender Bildhaftigkeit verkörpert; dass sie ausschließlich ist und ebendeshalb äußerlich streng begrenzt; und dass sie ein wesentlich Einheitliches ist, weshalb jedes Einzelne an ihr das Ganze voraussetzt und auf dieses zurückweist. Kultur ist ein geistiger Organismus, welche Bestimmung wahr bleibt, ob nun Spenglers Kulturseelen- oder Frobenius’ Paideumatheorie oder irgendeine andere bisher aufgestellte standhält oder nicht. Aus der gleichen Bestimmung geht zugleich hervor, wann äußere Zivilisation, die sehr wohl Kultur sein kann, keine Kultur ist: dies gilt dann, wenn ihr Ausdruck nichts Innerliches bedeutet; wenn das vorhin Gesagte auf die gegebene Gestaltung nicht zutrifft. Gleiches kennzeichnet, mutatis mutandis, den Zustand der Barbarei. Was es mit den geistigen Organismen, die wir Kulturen heißen, letztlich für eine Bewandtnis hat, wird schwer je ganz verständlich zu machen sein, denn alles abstrakte Denken hat das persönliche Subjekt zur letzten Voraussetzung. Aber gleiches gilt von allen Lebensformen, nicht zuletzt von der individuellen Menschenseele, von der als von einer wohl, bekannten und gut akkreditierten Person zu reden schon Schopenhauer warnte. Auch diese ist von Hause aus ein Aggregat der divergierendsten Triebe und Tendenzen, kaum leichter zusammenzufassen als die verschiedenen Parteien des deutschen Volks, und das bewusste Ich ist durchaus nicht der normale Generalnenner für alle. Gelingt Vereinheitlichung, so erfolgt diese nur ausnahmsweise ohne Ausschluss eines beträchtlichen Teils der Psyche, der nun ein oder viele Sonderleben führt, auf andere Zentren als das Ich zurückbezogen. Sieht man von der Frage eines möglichen Subjektes ab, so liegen die Dinge bei Kollektivseelen nicht komplizierter und nicht unverständlicher, und von diesen stellen die Kulturseelen nur den möglichen Höchstausdruck dar, nicht anders wie die voll vereinheitlichte und durchgebildete Persönlichkeit gegenüber dem Urmenschen. Ja, sie liegen, formal betrachtet, überhaupt nicht anders. Keine undurchdringlichen Scheidewände trennen Psyche von Psyche, sowie Körper von Körper. Das Unbewusste aller hängt äthergleich zusammen. Jedes bewusste Zusammensein schafft zwangläufig eine richtige Einheit, welche die einzelnen zu etwas anderem, als sie vorher waren, umbildet. Was hier die Ehe schafft (man lese meinen Einleitungsaufsatz zum Ehe-Buch), ist nur der Höchstausdruck dessen, was in jedem persönlichen Gespräch, in jeder Konferenz erfolgt. So entstehen richtige Kollektivseelen in jedem Augenblick, und das Kollektive gewinnt gegenüber seinen Bestandteilen desto mehr die Oberhand, je vielseitiger und dauernder eine Beziehung ist und je mehr es als Ganzes anderen Kollektivitäten gegenübertritt. Deshalb handelt es sich bei der Annahme von Kulturseelen, wenn man den Tatbestand allein ins Auge fasst, überhaupt nicht um Postulate, sondern um eine mehr oder weniger glückliche Bezeichnung für unbezweifelbare Wirklichkeiten. Das allein ist es, worauf es für uns hier ankommt. Ganz unabhängig von der Richtigkeit der Spenglerschen oder Frobeniusschen Theorie sind Kollektivzustände und also auch Kulturen, gleichviel, ob sie an sich primäre oder sekundäre Bildungen darstellen, richtige selbständige Lebenseinheiten.

Als solche unterstehen sie natürlich dem Gesetz von Werden und Vergehen. Es gibt nichts Lebendiges, das nicht in ständiger Wandlung begriffen wäre, und nichts, dessen bestimmter Ausdruck nicht im Sinne möglicher Fortentwicklung innerlich begrenzt wäre. Kulturen vergehen einmal, wenn sie erschöpft sind, wenn der Sinn, den sie verkörpern, seinen äußersten Ausdruck gefunden hat, so dass sie erstarren müssen1. Das ist ihr natürlicher Tod, und auf diese Art Ende hat Spengler den Hauptnachdruck gelegt. Sie vergehen aber in der Regel schon früher, nämlich dann, wenn sie mit anderen Lebensformen in Berührung kommen, die ihre Einheit sprengen. An dieser Stelle wird nun besonders klar, wieviel zweckmäßiger es ist, den Sinn der Tatsachen unabhängig von bestimmt-festgelegten Theorien zu betrachten. Was immer Kulturen letztlich seien, sie bestehen in der Welt der Erscheinung kraft eines besonderen Gleichgewichtszustands ihrer Komponenten. Genau wie das Sosein eines bestimmten Einzelseelenzustands an die bestimmte Art des Zusammenhangs bestimmter psychischer Elemente absolut gebunden ist, genau so steht es mit den Kollektivseelen. Jede lebt, so wie sie ist, kraft des Vorhandenseins bestimmter Bestandteile in bestimmter Gewichtsverteilung. Sie kann durch deren Wandlung hindurchleben, sowie der einzelne durch die Wandlungen und Metamorphosen seiner Zustände hindurch mit sich identisch bleibt, aber hier wie dort nicht über einen bestimmten Punkt hinaus. Ist dieser überschritten, dann muss die Einheit zerfallen. Nun, von hier aus verstehen wir bereits, warum heute alle überkommene Kultur auf Erden im Sterben liegt und liegen muss: der psychische Zustand aller historisch bestimmten Menschen hat sich so weit verändert, dass er einer Vereinheitlichung im überkommenen Sinne nicht mehr fähig ist. Und zwar besteht diese Veränderung in der endgültigen Verschiebung des Bedeutungsakzents im Seelengefüge vom Unübertragbaren auf das Übertragbare. Alle bisherigen Kulturen hatten ihren Schwerpunkt im Irrationalen, dem Triebhaften, Gefühlsmäßigen, Alogischen, Eros­haften, und das Irrationale ist wesentlich unübertragbar. Hier fehlt von Monade zu Monade jeder mögliche Übergang. Insofern entsprechen primitive Kulturen wirklich ungefähr dem Bild, das sich der Mensch von einem Pflanzendasein macht: sie sind an Raum und Zeit gebunden, als Typen veränderungsunfähig, von außen her unübernehmbar. Der Geist im weitesten Verstand, vom Logos bis zum Intellekt, ist demgegenüber wesentlich übertragbar; verstandesmäßig gefasste Wahrheit ist jedem grundsätzlich gleich verständlich, Verstand durchbricht alle Grenzen, Verstehen — ein nicht weiter ableitbares Urkönnen — ist von Hause aus ein Verstehen des Fremdseelischen, wodurch es die sonst bestehende Ausschließlichkeit aufhebt. Je mehr sich der Geist nun entwickelt, welcher Prozess einen richtigen Wachstumsvorgang bedeutet, desto mehr nimmt das Übertragbare gegenüber dem Unübertragbaren an Bedeutung zu. Deshalb ist es schon nicht ganz berechtigt, bei der antiken Kultur auf ihr Ausschließliches das Hauptgewicht zu legen: wenn der damalige bekannte Erdkreis hellenisiert werden konnte, oder in religiöser Hinsicht hebräisiert; wenn wir alle seither am Griechen- und Judentum teilhaben, so ist dieser Umstand gegenüber der unübertragbaren Einzigartigkeit von deren ursprünglichem Zustand das Bedeutsamere. Trotzdem trifft Spenglers Hauptthese für alle bisherigen Kulturen zu, weil, um auf die Grundbestimmung des Anfangs zurückzugreifen, keine ihrer Formen anders denn als Ausdruck eines vorherbestehenden einheitlichen Geistes für sich lebensfähig war. Hellenisierung und Hebräisierung gelang nur insoweit, als der lebendige Griechen- und Hebräergeist entweder einen Kulturkreis unmittelbar eroberte oder, wie im Fall des Christentums, in Form lebendiger Vererbung einer neuen Synthese Teil ward. Dass sich das grundsätzlich für sich Übertragbare tatsächlich für sich allein übertrug, überhaupt ein selbständiges Leben führte, dafür gab es in der bisherigen Geschichte kein Beispiel. Denn die christliche Kultur setzte, um übernommen zu werden, Bekehrung voraus, die soziale des 18. Jahrhunderts Teilhabe am lebendigen Geist der damaligen europäischen Gesellschaft. Allgemein gesprochen: lebendige Tradition in irgendeiner Form war die Voraussetzung aller bisherigen Übertragung. Demgegenüber ist der heutige Menschheitszustand ein radikal veränderter. Der Intellekt, in analogem Sinne höher entwickelt, wie das Gehirn des Menschen gegenüber dem, was bei der Pflanze die Rolle des Nervensystemes spielt, hat sich von aller traditionellen Bindung emanzipiert, in ihm hat das Bewusstsein sich zentriert und die Endfolge dieser lange begonnenen Umlagerung ist die, dass das Menschenleben vom Übertragbaren als solchen seinen Charakter erhält. Das reale Zentrum des realen psychischen Organismus liegt heute anderswo wie dazumal, als die bisherigen Kulturen erwuchsen. Was das bedeutet, dürfte eine Betrachtung des Sinns der Technisierung der Welt am besten klarmachen. Es heißt die Frage falsch stellen, wenn man auf den barbarisierenden Charakter der Technik den Nachdruck legt. Ohne Zweifel widerspricht die unbegrenzte Anwendungsmöglichkeit, unabhängig von Raum, Zeit und allen sonstigen Bindungen, die jedem Produkt der reinen Technik eignet, dem bloßen Begriff einer möglichen Kulturerscheinung im überkommenen Sinn; was allerorts und jederzeit als Lebensform möglich ist, kann unter den bisher gültigen Voraussetzungen nicht unmittelbarer Geistesausdruck sein. Aber nicht hierin liegt das Hauptmoment: Kultur in ihrem idealen Verstand ist, wie die Geschichte lehrt, alles eher als eine notwendige Lebensform. Andererseits ist es ganz gewiss nicht wahr, dass der Zivilisationszustand von heute einen Abschluss bedeutet: nie, im Gegenteil, seit der Völkerwanderungszeit, erschien das Menschengeschlecht gleich jung; es sind ja gerade ihre jungen oder verjüngten Teile, welche heute den bestimmenden Fortschrittsfaktor verkörpern. Das Wesentliche ist, dass sich der geistige Organismus des Menschen nach der Intellektseite zu so sehr erweitert hat, dass wegen dieser Veränderung im positiven Sinn alle alten Kulturzustände vergehen müssen. Keine Vollkommenheit überlebt ein selbständiges Weiterwachsen ihrer Elemente, und ist das eine davon wesentlich um sich greifend und fernwirkend, so muss es das Veränderungsunfähige aufzehren. Ebendies illustriert der Siegeszug der Technik mit vollendeter Anschaulichkeit. Wo immer Technik hindringt, hält keine Lebensform des vortechnischen Zeitalters auf die Dauer stand. Heute beweisen es in Europa am deutlichsten gerade die Kreise Englands und Frankreichs, deren ausgereifte Kultur der Zersetzung am längsten widerstand, dass es schlechterdings nicht möglich ist, als Kinos und Radioliebhaber, als Rennfahrer, Flieger und selbstverständlicher Globetrotter an Lebensformen gebunden zu bleiben, deren Möglichkeit an engen inneren und äußeren Grenzen hing; ihre jüngsten Vertreter wirken, gegenüber ihren Vätern, als neue, traditionslose und unbelastete Menschen. Und in extremer Form tritt der gleiche Sachverhalt in der außereuropäischen Welt zutage. Während in Europa, dessen Kultur in ihrer Fortentwicklung die Technik schließlich gebar, ein Zusammenbestehen des Alten mit dem Neuen bis zu einem bestimmten Punkte immerhin möglich scheint, rasiert dort die Technik unaufhaltsam alle alte Tradition. Und dies gelingt ihr mit rasender Geschwindigkeit aus einem Grund, dessen Erkenntnis den Sinn des ganzen Prozesses vollends klarmacht: dass es sich beim Technischen nicht um Außerordentliches, sondern um Selbstverständliches handelt. Genau wie mathematische Wahrheiten wesentlich selbstverständlich sind, denn jedem Menschenkörper und -geiste sind sie immanent, so sind es auch alle technischen Möglichkeiten. Daraus erklärt sich, dass solche gerade kulturlosen Schichten und Völkern am unmittelbarsten und schnellsten einleuchten. Amerika hat sich am schnellsten technisiert, weil seine Bewohner am Anfang dieses Prozesses die kulturlosesten Abendländer waren; heute wiederum begegnet extreme Technisierung bei den jugendlichen Ostvölkern dem geringsten Widerstand. Mir wurde die wahre Sachlage an dem denkwürdigen Tage klar, da ich entdeckte, dass mein damals dreijähriger, technisch durchaus nicht sonderlich begabter Sohn ohne weiteres den Grundcharakter des Automobils verstand, welcher mir noch immer ein Mysteriöses bedeutet: technische Erfindungen sind wirklich wesentlich selbstverständlich, genau wie mathematische Wahrheiten. Man muss nur einmal auf sie gekommen sein. Dies zuerst und selbständig zu tun, ist gewiss nicht jedermanns Sache, aber jedermanns Sache ist Erfinden in keinem Fall: die Selbstverständlichkeit oder Abgelegenheit einer Erkenntnis bemisst sich überall an dem, wie vielen sie, vor sie hingestellt, ohne weiteres einleuchtet. Das Technische nun leuchtet einem größeren Prozentsatz aller Menschen ein, als irgendeine Kulturerrungenschaft vom Steinzeitalter an. Bald wird es keinen Menschen mehr von nicht unternormaler Begabung auf Erden geben, welchem Funkwesen nicht ebenso simpel erschiene wie das Einmaleins. Diese kurze Betrachtung dürfte den unmittelbaren Beweis dafür erbringen, dass alle vortechnischen Zustände auf Erden gerichtet und dass die nichts als schlechte Romantiker sind, die ein Zurück von der Technik predigen. Nicht allein, weil es, wo bis auf weiteres die Massen entscheiden werden, völlig ausgeschlossen erscheint, eine Entwicklung, welche diesen einleuchtet, aufzuhalten, sondern vor allem, weil es sich bei der Technisierung in erster Linie um ein Positives handelt, um einen Schritt weiter in der Unterwerfung der Natur durch den Geist; um eine Höherentwicklung des psychischen Menschenwesens.

Hiermit wären wir denn zum Grundsätzlichen zurückgelangt. Der technische Fortschritt ist nur ein Sonderausdruck der Verstandesentwicklung. Was jener bewirkt, gilt notwendig von dieser überhaupt. Das Verstandgeborene ist überall das eigentlich Verständliche, und alles Verständliche ist grundsätzlich auch selbstverständlich; jede gefundene neue Wahrheit bedeutet insofern nie mehr als das Columbus-Ei. Liegt der Akzent im Seelengefüge einmal auf der Verstandesseite, dann wird die Verständlichkeit zum Hauptmomente aller werbenden Kraft; was nicht erklärt werden kann, wird immer mehr als Vorurteil abgelehnt, es sei denn, es erweise auf anderem Wege seine Wirklichkeit, welches Erweisen seinerseits ein Verstandesbedürfnis befriedigt. Dies ist der Grund, warum unter modernen Massen typischerweise nur solche, deren Existenz vom für sie Unerklärlichen, zumal dem Wetter abhängt, wie Bauern und Seeleute am traditionellen Glauben festhalten, während Fabrikbevölkerungen ihn immer mehr verleugnen. Der gleiche Umstand erklärt, warum Gott so besonders gründlich im religiösen Russland entthront werden konnte und die marxistische Geschichtsauffassung, die das Primitivste und Rationalisierbarste zugleich allein berücksichtigt, allen kürzlich noch in den frühesten Glaubensformen Befangenen so einleuchtend erscheint. Alles Irrationale ist wesentlich unerklärlich; schafft der Verstand das Kriterium der Wirklichkeit, so muss jenes so lange als unwirklich erscheinen, bis er entwickelt genug ist, auch dessen Sinn zu verstehen. Was an irrational erwachsenen Lebensformen ist nun vom Standpunkt des bloßen Intellekts nicht vorurteilgeboren, vorurteilgetragen? Ein Brahmane, der Übersee reiste, verlor vor nicht allzu langer Zeit noch seine Kaste. Mit vollem Recht: das feine Gewebe von Vorurteilen, das den traditionellen Brahmanen­typus schafft, hält keinem frischen Luftzug stand. Weniger extrem, doch dem Sinne nach nicht anders liegen die Dinge bei allen bisherigen Kulturtypen, sie alle sind das Erzeugnis von Vorurteilen. Selbstverständlich nur vom Standpunkt derer gesehen, deren bewusstes Leben vom Intellekt allein bestimmt wird. Aber sie setzen heute die Massen zusammen und bis auf weiteres liegt auf diesen der historische Bedeutungsakzent. Dies aber wieder aus dem gleichen Grund der gesteigerten Verstandesentwicklung. Ruht einmal auf dem übertragbaren der Hauptnachdruck, dann steigert sich zwangsläufig dessen Bedeutung proportional der Zahl. Da nun gerade die große Zahl für das übertragbare der Technik, des mechanistisch-materialistischen Denkens usw. am meisten empfänglich ist, so ergibt dies einen Zirkel, welcher allein schon genügt, um in der modernen Welt dem, was die Massen vertreten, die ausschlaggebende Macht zu sichern. Verknüpfen wir nunmehr diese letzten Erkenntnisse mit der anderen, dass jede Kultur der Ausdruck eines konkreten Seelenzustands ist. Ist letzteres der Fall, so kann es Kultur in abstracto nur insofern geben, als ein sie kraft seines psychologischen Zustands verkörpernder konkreter Typus dominiert; in der Tat hat jede bisherige so lange allein bestanden, als ein sie vertretender Mensch lebte; starb dieser aus, so war es jedesmal mit ihr zu Ende, mochte die biologische Grundlage auch unverändert bleiben. Welcher Typus nun verkörpert den modernen Massengeist? Es ist der Chauffeur; er ist der bestimmende Typus dieses Massenzeitalters nicht minder, wie es der Priester, der Ritter, der Kavalier in anderen war. Der Chauffeur ist der technisierte Primitive. Technische Begabung ist dem Orientierungsvermögen des Wilden nahe verwandt; die Technik als solche ist das Selbstverständliche, ihre Beherrschung ruft im Menschen, je primitiver er ist, desto stärker, Freiheits- und Machtgefühl wach: unter diesen Umständen versteht es sich recht eigentlich von selbst, dass die Mehrheit der Menschen sich heute am Chauffeurtypus orientiert, dass jeder Knabe zunächst Chauffeur (er sagt oft Ingenieur, meint aber zunächst den Chauffeur) werden will und die ersten repräsentativen Typen der neuentstehenden Welt, mit Ausnahme der geistigen Führer, überall, unter noch so verschiedenen Namen, dem einheitlichen Chauffeurtypus angehören. Schon der smarte Amerikaner war gegenüber dem Europäer in erster Linie Chauffeur, aber er war es nicht rein, denn er erwuchs in einem weniger primitivierten Zeitgeist als die heutige Jugend, deren bestimmende Weltanschauung, ob direkt oder mittelbar, dem Urzustand des Schützengrabenlebens entstammt. Aber der Fascist ist nichts anderes als der italienische Chauffeurtypus, der Bolschewist der russische, und erst recht bloßer Chauffeur ist der durchschnittliche fortschrittliche Asiate. Daher deren aller Traditionsfeindschaft und primitive Gewaltliebe. Aus welchen Erwägungen unter anderem ein sehr Wichtiges folgt, nämlich dass es verfehlt ist, historische Bewegungen an erster Stelle nach ihrer Weltanschauung zu beurteilen. Der antike Mensch und später der mittelalterliche Ritter stellten wohl recht vollständige Verkörperungen dessen dar, wozu sie sich bekannten. Gleiche Kongruenz hat, was in Anbetracht der Höhe der religiösen Ideale selbstverständlich ist, kein glaubensbedingter Typus je zur Darstellung gebracht. Im Fall des Bolschewismus nun hat der Erfolg, in Russland mit seiner (kommunistischen) Theorie am wenigsten zu tun: fast ganz beruht dieser darauf, dass dank ihr der Chauffeur-Typus ans Ruder gekommen ist, der, gerade in Russland allen anderen praktisch weit überlegen, sich nicht verdrängen lassen wird, zu welchem Ende er natürlich die Weltanschauung stützen muss, der er seine Vorherrschaft verdankt, ob sie ihm sonst etwas bedeutet oder nicht, nicht anders wie Renaissance-Päpste trotz alles persönlichen Unglaubens das Christentum schirmten. Aus dem gleichen Grunde wird Russland wesentlich (vom Europäerstandpunkt) bolschewistisch bleiben, auch wenn einmal eine andere Weltanschauung und ein anderes Regierungssystem die heute herrschenden verdrängt haben werden, denn der bolschewistische Typus wird auch dann am Ruder bleiben. Gegen einen lebendigen Typus ist eben alle abstrakte Widerlegung machtlos. Ist einer zur Macht gelangt, weil er dem Zeitgeist entspricht, dann kann nur seine Entartung oder sein Aussterben die Lage ändern, welcher Prozess bisher in jedem Falle äußerst lange Zeiträume erfordert hat. Die Reihe des Aussterbens ist nun heute offenbar nicht am Chauffeur, sondern an den alten Kulturtypen. Sterben sie aber aus, dann stirbt die alte Kultur überhaupt. Weil jeder allgemeine Zustand sich nur durch bestimmte konkrete Typen fortsetzt, gleich wie die Generationen durch die sich folgenden Individuen, deshalb vergeht mit der lebendigen Tradition auch ihr Sinn. So ist die ägyptische Kultur verstorben, obgleich der Fellah der gleichen Rasse angehört, welche einstmals Pharaonen hervorbrachte; so verstarb die arabische, trotzdem ihre Blutunterlage noch heute lebt. Heute geht alle alte Kultur auf dem Erdenrund zugrunde, weil der neue bestimmende Menschentypus ihre Tradition verleugnet.

Beim Sterben der alten Kultur auf Grund der Verstandesentwicklung handelt es sich also um ein richtiges Fatum, denn es bedeutet kein Geringeres, als die Ersetzung früherer Menschentypen durch neue, die kraft ihrer Anlage das Frühere nicht mehr fortsetzen können. Man betrachte nur Europas Jugend von heute: ihr Unverständnis für das, was ihren Vätern alles bedeutete, ist so groß, wie vielleicht seit Menschengedenken bei keinem Generationswechsel, oder aber ihre Interessiertheit gleicht dem der Amerikaner für unser Mittelalter: dies allein beweist, wie radikal sich der psychische Gesamtzustand verändert hat. Aber das Sterben des Alten hat eine noch tiefere Ursache, als die bisher betrachteten, und sie erst erklärt das Katastrophenartige des diesmaligen Endes — seit dem Ende der Antike war keine Umwälzung gleich katastrophal. Durch Umlagerung der Psyche im Sinn die alte Einheit sprengender Verstandesentwicklung und der Akzentverlegung auf diese hat das Bewusstsein den Zusammenhang mit der lebendigen Tiefe vorläufig verloren. Da nun das Leben im Sinn wurzelt, so ist es damit für das moderne Bewusstsein sinnlos geworden. Dies aber hat ein wachsendes Übergewicht des Selbstzerstörungs- über dem Aufbautrieb zur Folge. Leben ist in jedem Augenblick Geborenwerden und Sterben, Zerstörung und Aufbau zugleich, so wie die Melodie in jedem Augenblick nur als Anklingen und Verklingen zugleich der Töne, die sie ausmachen, empirisch verstanden werden kann2. Worauf der Endnachdruck liegt, hängt vom Sinn des Prozesses ab. Von außen her gesehen insofern, ob dessen Erfüllung innerhalb gegebener Grenzen ein Ende oder Weiterleben verlangt; vom Standpunkt des Bewusstseins insofern, ob eine gegebene Lebensrichtung für dieses Sinn verkörpert oder nicht. Wird sie als Sinnerfüllung empfunden, dann behalten die Aufbautriebe die Oberhand; wenn nicht, so siegen die Todestriebe. Da nun das intellektualisierte Bewusstsein, wie wir sahen, den Zusammenhang mit seiner lebendigen Tiefe verloren hat, so muss das Leben dem Menschen sinnlos erscheinen, denn nur auf das Tiefste und Letzte bezogen hat das Äußerliche, das ja nie gut ausgeht, Sinn. So ist es alles eher als ein Wunder, dass diese Zeit im Zeichen des Völkerselbstmords steht. Alle Typen der Vergangenheit scheinen unmittelbar darauf bedacht, durch Fehlhandlungen ihr eigenes Ende herbeizuführen. So wie Deutschland seit 1890 buchstäblich nichts unterließ, was seinen Untergang beschleunigen musste, genau so handeln alle verjährten Typen auf dem Erdenrund. Man betrachte das Geschehen der letzten zehn Jahre von diesem Gesichtspunkt aus und man wird staunen darüber, wie zielsicher das Unbewusste, wo das Leben in seiner bisherigen Gestaltung sinnlos ward, alle Absichten des Bewusstseins durchkreuzt und dort Tod herbeiführt, wo dieses Besserleben meint. Das Leben in seiner bisherigen Gestaltung ist eben unter den neuen psychologischen Voraussetzungen sinnlos geworden. Nur die neuen Typen können es als Sinnerfüllung empfinden. Eben daher denn, umgekehrt, die Vitalität des Chauffeur-Typus und die ungeheure Gewalt der Bewegungen, die von ihm getragen werden, wie die des Bolschewismus und Fascismus. Und von hier aus können wir auch etwas tiefer in das dunkle Wesen der sogenannten Kulturseelen eindringen und dabei genauer bestimmen, was es mit deren Sterben und Neuwerden für eine Bewandtnis hat. Der Begriff einer Kulturseele ist synonym mit dem eines bestimmten Sinneszusammenhangs, welchem die Einzelausdrücke des Lebens jeweils eingegliedert sind und den sie verkörpern. Dieser Sinn ist, wo vorhanden, das Primäre; er schafft den Tatbestand; von dieser Seite der Frage wird das dritte Kapitel dieses Buches ausführlich handeln. Kann ein Sinn sich im vorhandenen Materiale nicht mehr ausdrücken, so geht er verloren, gleichwie ein Gedanke verloren geht, wenn die Worte, die ihn ausdrückten, auseinanderfallen, gleichwie die Seele, wenn der Körper zergeht. Wie kommt es nun zur Einbildung neuen Sinnes in die Erscheinungswelt? Deren empirische Voraussetzung ist, genau wie bei der Erdverkörperung einer neuen Seele, die Kreuzung vorherbestehender Lebenseinheiten. Von dieser Kreuzung hängt der empirische Charakter des Neuen unbedingt ab; anders als mit vorhandenen Mitteln ist Sinnesverwirklichung überall unmöglich. Wo die Charaktere der Eltern nun von Hause aus unvereinbar sind, da bilden sich zunächst, genau wie bei der Kreuzung disparater Rassen, charakterlose Produkte, die man, je nach den Umständen, unter die Begriffe der Barbarei, des Alexandrinismus, des Eklektizismus, Synkretismus oder der bloßen Zivilisation des Wildverbliebenen bringen mag. Neue Kultur erwächst dann, wenn aus der Mischung das Äquivalent einer neuen fixierten Rasse ward. So war die lebendige katholische Kirche das Endprodukt des spätantiken Synkretismus. Aber neue Kultur kann unmöglich schnell erwachsen, und sei ihr geistiger Vater selbst ein Gott. Große Einzelne mögen sie in ihrer Person vorwegnehmen, die Gesamtheit folgt überaus langsam nach. Sie kann lange nur in einseitiger Ausbildung der schon im Sinn der Zukunft ausgebildeten Teile ihres Wesens Erfüllung erleben. Daher die gewollte Primitivierung und Vereinseitigung aller heutigen Jungen. Daher wiederum die Vitalität der futuristischen Fascisten und Bolschewisten. Deshalb dürfte dem Osten, woselbst die Rezeption des westlichen Geists eine ungeheure psychische Bastardierung eingeleitet hat, ein langwieriges psychisches, wenn nicht politisches Chaos unvermeidlich bevorstehen. Sobald kann er sich zu einer neuen Kultur unmöglich durchringen. Hier haben wir Europäer es besser, denn wir brauchen nicht annähernd so viel Fremdes zu assimilieren, um neu zu werden.

1 Vgl. die Ausführungen dieser Gedanken in Schöpferische Erkenntnis S. 250.
2 Vgl. die genaue Ausführung dieses Gedankens im Tagungszyklus Werden und Vergehen im Leuchter 1925.
Hermann Keyserling
Die neuentstehende Welt · 1926
Der Weg zur Zukunftskultur
© 1998- Schule des Rades
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