Schule des Rades

Hermann Keyserling

Die neuentstehende Welt

Philosophie und Weisheit

Verstehen verwandelt

Wenn also tiefere Sinneserfassung allein, wie die vorhergehenden Kapitel dieses Buchs erwiesen, zu einer neuen Kultur führen kann, so bedeutet das nicht, dass das Heil von einer neuen bestimmten Lehre, einer neuen Theorie kommen wird. Wer dies erwartet, der missversteht die Lage von Grund aus. Das wissenschaftlich-theoretische Zeitalter liegt heute vielmehr unwiederbringlich hinter uns, weil dessen Begriff vom Geist ein zu enger, spezialisierter war. Es handelt sich um die Herbeiführung eines inneren Zustands, in dem der seiner Tiefe bewusste Geist sich wieder unmittelbar auszuwirken vermöchte, ich sage wieder, weil er solches im wissenschaftlichen Zeitalter gerade nicht konnte. Insofern kann man sagen, dass nicht die Weisheit im Unterschied zur abstrakten Philosophie zu bestimmender Macht zu erheben nottut, sondern den lebendigen Weisen, d. h. den vollkommen geistbewussten und geistbeherrschten Menschen im Unterschied von der abstrakten Disziplin. — Aber wenn nun Weisheit insofern ein Zuständliches ist, wie kann sie gelehrt werden? Ist sie nicht reine Begabungs-, d. h. Begnadungssache? Sie kann unter der einen Einschränkung, welche für alles gilt, nämlich dass nur der entsprechend Befähigte vom Lernen profitiert, allerdings gelehrt werden. Der Zustand des Weisen ist der des richtig Eingestellten. Das ist es, was ihn von anderen wesentlich unterscheidet, nicht Abgeklärtheit, Toleranz, Gelassenheit und was der Attribute mehr sind, welche Vorurteil als für den Weisen unerlässlich postuliert; diese können ebensogut vorhanden sein wie fehlen, denn zur Grundcharakteristik gehören sie nicht. Der Zustand des Weisen ist, noch einmal, wesentlich der des richtig Eingestellten. Eine falsche Einstellung nun lässt sich grundsätzlich immer durch Umstellung in eine richtige verwandeln, weil der Logos das Prinzip der Initiative und Übertragbarkeit ist. Verstehen verwandelt. Allerdings ist manche Einstellung so fest fixiert, dass es praktisch schwer hält, wenn nicht unmöglich ist, sie in eine andere umzusetzen: grundsätzlich ist es, da Verstehen überhaupt verwandelt, immer möglich, weil die Psyche ein Sinneszusammenhang ist, als solcher beliebiger Zentrierung fähig, und die Erkenntnis falscher Einstellung diese organisch erledigt. Den Beweis dessen hat die Psychoanalyse und insonderheit Adlers Individualpsychologie endgültig erbracht. Im gleichen Sinn ist Vertiefung zwar praktisch oft unerreichbar, grundsätzlich jedoch immer möglich, weil in jedem die letzte Tiefe lebt und es nur darauf ankommt, sie bewusst zu machen. Da nun die Veränderung eines Menschheitszustands praktisch nichts anderes bedeutet, als dass deren Begabteste anders werden und dann den Ton angeben, so verringern die vorher gemachten Einschränkungen die historische Möglichkeit überhaupt nicht. Die erforderliche Umstellung und Vertiefung — und die heiße ich Erziehung zur Weisheit — kann also erfolgen.

Aber allerdings bedarf es dazu anderer Methoden, als im Fall der Wissenschaft. Weisheit bedeutet, von einer anderen Seite her betrachtet, die Fähigkeit zur Magie, d. h. zur direkten Beeinflussung und Wandlung des Lebens durch den Geist. So kann sie nur mit magischen Methoden gelehrt werden. Über diese kann ich mich hier nicht ausbreiten. Doch für den Zweck dieses Kapitels im Zusammenhang des ganzen Buchs dürften wenige allgemein orientierende Beispiele genügen. Warum pflegte Kungfutse zu sagen:

Wer nicht strebend sich bemüht, dem helfe ich nicht voran. Wer nicht nach dem Ausdruck ringt, dem eröffne ich ihn nicht. Wem ich eine Ecke zeige und er kann es nicht auf die anderen drei übertragen, dem wiederhole ich nicht?

Weil nur Selbsttätigkeit des Geistes und der Seele Verwandlung einleitet. Man darf den Menschen nie mehr sagen, als erforderlich ist, damit sie von selbst dahin kommen, wohin sie kommen sollen; wie ein Gedicht sich von einem Haufen Lettern an erster Stelle dadurch unterscheidet, dass nicht alle verwandt sind und nicht in beliebigem Satz, so hängt alle lebendige Wirkung unter anderem vom richtigen Verhältnis zwischen Reden und Schweigen ab. Ebendeshalb darf man dem Menschen, wenn man ihm lebendige Impulse einbilden will, nie so viel erklären, dass er den Sinn des Gesagten in sein Gedächtnis ablagern kann — denn dort verliert es seine wandelnde Kraft1 — und auf Einwände nie so weit eingehen, dass dadurch die suggestive Wirkung des Behaupteten abgeschwächt wird. Lebendige Zeugung ist eben ein wesentlich anderes als gelehrte Diskussion. Für den, der ein bestimmtes praktisches Ziel im Auge hat, ist diese unter allen Umständen wertlos: ihm kommt es ja nicht darauf an, wer theoretisch recht hat, sondern was er erreichen will. Deshalb ist das Leitwort der so weisen englischen Politik nicht Verständigung, sondern: never explain and never apologize; indem man sich nicht auseinandersetzt, sondern die Spannung aushält, überträgt man seinen eigenen Zustand, sofern dieser überlegen und gefestigt genug ist, zwangsläufig suggestiv. Aus den gleichen Gründen insistiert der Weise unter Umständen auf dem, worauf es ihm am meisten ankommt, gerade nicht, weil er aus Erfahrung weiß, dass ein hingeworfenes Wort oft mehr zündet, als ein eingehämmertes. Aus den gleichen Gründen bedient er sich andererseits besonders gern des Paradoxes, weil dieses, wie ich in meiner Behandlung des Problems der Fernwirkung im Natürlichen Wirkungskreis (Weg zur Vollendung, Heft 10) gezeigt habe, als Explosiv wirkt. Doch genug der Beispiele; ich mag nicht zu viel aus der Schule der Weisheit plaudern. Überdies ist der Zweck dieser erkenntniskritischen Betrachtungen im Rahmen eines politisch-psychologischen Buchs bereits erfüllt. Sie sollten einzig zeigen, inwiefern der traditionelle Zustand der geistigen Eliten kein solcher herrschenden Geists, sondern im Gegenteil, geistiger Ohnmacht war, und inwiefern eine radikale innere Umstellung nottut, falls der Geist das bewirken soll, was er allein heute bewirken kann. Sie sollten ferner andeuten, wie die erforderliche Umstellung, Vertiefung und Höherbildung praktisch erreichbar ist.

Zum Schluss will ich nur noch einmal in kurzen klaren Sätzen zusammenfassen, inwiefern Wiedergeburt aus dem Geist im Großen überhaupt erfolgen kann. Da es sich um eine Änderung des Zustands handelt, kommen neue Theorien, neue Glaubensformen, neue Lösungen des Welträtsels überhaupt nicht in Betracht. Dieses Mal wird auch kein neuer Messias die Welt erlösen. Da der Fortschritt nur vom initiatorischen Geist, von gesteigerter Freiheitsbetätigung und Verantwortungs­aufsichnahme her erfolgen kann, so kann keinerlei anderes, sei es eine übernommene Theorie oder ein geglaubter Gott, dem Einzelnen irgend etwas abnehmen. Fortan muss jeder selbst sein eigener Erlöser sein wollen. Dies gilt, wie ich ausdrücklich betonen möchte, auch unter der Voraussetzung, die ich persönlich teile, dass höhere Mächte letztinstanzlich entscheiden, denn das Gebiet möglicher Freiheit bleibt unter allen Umständen des Menschen ausschließliches Entscheidungsbereich2. Fortan kommt es auf jeden Einzelnen an. Erst wenn genügend Einzelne ihr persönliches Problem gelöst haben, kann sich mittelbar daraus eine molekulare Umlagerung der Gesamtheit ergeben. Die Frage darf grundsätzlich nicht: Was wird werden? oder Was soll man tun?, lauten, sondern in jedem Falle einzig Was soll ich tun? Dass auch in Zukunft aller bestimmende Fortschritt von einzelnen Großen eingeleitet werden wird, und diese vielleicht mehr bedeuten werden denn je, ändert nichts an der allgemeinen Lage des Problems. Die richtigen Großen werden nur dann zu Führern aufsteigen, wenn es bereits eine richtig orientierte Minderheit gibt. Wie Bismarck sagte:

Der Mann ist gerade nur so groß, wie die Welle, die unter ihm brandet.

Doch nun mag man fragen: wenn dem also ist, wenn auf den Einzelnen, jeden Einzelnen alles ankommt, was soll dann dieses Buch? Nun, wenn es richtig gelesen wird, d. h. nicht von vornherein kritisch reflektierend, sondern meditativ, zwecks vollständiger innerer Assimilierung, dann wird es, sofern es mir gelang, den richtigen Ausdruck zu finden, in jedem Leser von selbst die Wandlung und Umstellung einleiten, deren er persönlich bedarf. Sei es im Sinne besserer Erkenntnis der Gegebenheit, mit der er zu rechnen hat; sei es im Sinne tieferen Verständnisses für sein eigenes geistig seelisches Problem. In beiden Fällen wird die falsche Fragestellungen erledigen und damit den Weg für neue sinngemäßere freimachen. Marc Aurel schrieb:

Betrachte nur die Dinge von einer anderen Seite, als du sie bisher ansahst, denn das heißt eben: ein neues Leben beginnen.

Dieses Wort verträgt die folgende Paraphrasierung: Zeige die Dinge nur von einer anderen Seite, und damit beginnen alle, die sie also wahrnahmen, von selbst ein neues Leben. Ihren Weg positiv finden müssen alle unter allen Umständen selbst, nicht anders, wie keiner einem anderen das Atmen abnehmen kann. Mehr als den Prozess des Selbstfindens ihres Wegs in anderen einzuleiten und zu beschleunigen, steht in keines Lehrers Macht. Wo immer einer mehr leisten wollte, indem er Methoden angab, welche allen gleichmäßig nützen sollten oder bestimmte Ergebnisse voraussagte, hat er nicht befreiend sondern bindend gewirkt. In dieser Wende aber kommt schlechthin alles auf gesteigerte Selbstbestimmung an.

1 Vgl. die genaue Beweisführung im Kapitel Was wir wollen der Schöpferischen Erkenntnis.
2 Vgl. über den Unterschied herausgestellter und lebendiger Erkenntnis die Studie Erscheinungswelt und Geistesmacht in Philosophie als Kunst.
Hermann Keyserling
Die neuentstehende Welt · 1926
Philosophie und Weisheit
© 1998- Schule des Rades
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