Schule des Rades
Hermann Keyserling
Die neuentstehende Welt
Das richtig gestellte Fortschrittsproblem
Logik der Geschichte
Beginnen wir mit einer genaueren Untersuchung des Verhältnisses der Theorie zur historischen Wirklichkeit. Alle Geschichtsbetrachtung, die sowohl den tieferen Zusammenhängen als den Tatsachen deren Bedeutung entsprechend Rechnung trägt, stößt auf die merkwürdige Antinomie, dass der Geschichtsprozess einerseits ein (im weitesten Wortverstande) logischer ist, dass aber andererseits Ideen und Theorien als solche nichts vermögen. Wie immer man die Logik der Geschichte verstehen mag: es besteht kein Zweifel, dass sich Geist seinen eigenen Gesetzen entsprechend in ihr auswirkt. Aber ebenso gewiss ist, dass die jeweils führenden Menschen, d. h. die eigentlichen Geschichtsfaktoren, sich der geltenden Ideen immer nur als Mittel bedient haben, dass ihr irrationales Wollen das Letztentscheidende war, und dass die, welche letzte Instanzen in jenen sahen, die Theoretiker und Ideologen, bei deren Verwirklichung jedesmal gescheitert sind. Nun, die Lösung dieses Widerstreits enthalten die folgenden Sätze: eine Idee wird nicht auf Grund ihrer Wahrheit zur historischen Macht, sondern auf Grund ihres repräsentativen Charakters. Sie muss zeitgemäß sein. Zeitgemäß ist andererseits das jeweils evidente, und evident ist etwas dann, wenn es gegebener psychischer Wirklichkeit als angemessener Ausdruck entspricht.
Bedenken wir das Zwingende der Frauenkleidermode worauf beruht es? Gewiss wird die Mode jeweils von einigen großen Schneidern gemacht
. Aber warum gibt es nur wenige solcher? Und warum finden ihre Schöpfungen sofort, wie selbstverständlich, allgemeinen Beifall? Weil das, was jene persönlich erfinden, dem entspricht, was alle dunkel ersehnen. Der große Schneider ist der, in dem der Rhythmus des weiblichen Reiz- und Gefallbedürfnisses, der ein genau so Gesetzmäßiges ist wie der nur irgendeines Naturphänomens, bewusst wird; er bildet nur dasjenige vor
, was alle aus sich heraus zu schaffen den Drang fühlen, doch aus Bewusstheitsmangel nicht zu schaffen wissen. Daher der Evidenzcharakter jeder Mode zu ihrer Zeit und zugleich ihre Vergänglichkeit. Jede vergangene Mode wirkt bis zu dem Tage sinnwidrig und muss es tun, da der Rhythmus des Abwechslungstriebs ihre Wiedergeburt verlangt.
Das Problem des Geistigen ist, formal und psychologisch betrachtet, sofern von Einleuchten und nicht abstrakter Wahrheit die Rede ist, in erster Instanz mit dem der Mode eins. Kein Kunststil und keine Ideologie ward je, seitdem es Menschen gibt, durch sachliche Kritik an sich erledigt: diese gewann vielmehr immer erst dann lebendigen Einfluss, wenn die Stunde des natürlichen Todes jener nahe war. Wenige Beispiele werden genügen, dies ganz klarzumachen. Das ganze so hochkultivierte Frankreich des 18. Jahrhunderts schwor auf Rousseau, obgleich dessen Grundgedanken zu einem erheblichen Teile falsch sind: dies lag daran, dass sie dem unbewussten Wollen jener Zeit, das im selben Sinn auf Selbstzerstörung aus war wie das der Weltkriegszeit, entsprachen. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts erschien die Lehre Hegels, wohl des schwerstverständlichen aller Denker, den wenige Jahrzehnte später auch tatsächlich keiner mehr verstand, den meisten Deutschen klar: dies lag daran, dass sie einen bestimmten realen Zustand der damaligen Psyche repräsentierte. Sie bezog den Zustand, in dem der Bedeutungsakzent von Hause aus auf dem Bewusstwerden des innerlich Wirklichen und dessen Erfassung durch den fortschrittlichen Intellekt lag, in einen Geisteszusammenhang ein, durch den das ohnehin Geschehende befriedigenden Sinn erhielt. Da nun Hegels Sinngebung ihrerseits, der Tiefe dieses großen Denkers entsprechend, die wahre Wurzel des Geistwesens belebte, so konnte seine Ideenwelt weiter aus sich heraus, in direkter Vererbung und Generationswechsel, die gewaltigen historischen Mächte der marxistischen und bolschewistischen Ideologien hervorbringen, welche heute, man widerlege sie so vollständig man wolle, Millionen evident erscheinen. Diese Evidenz ist eben nicht Funktion der abstrakten Wahrheit, welche vorliegen oder fehlen kann: sie hängt einzig davon ab, ob — genau wie im Fall der Mode — eine bestimmte Ideologie einem realen Zustand der Seele jeweils entspricht. Die lebendige Realität der Psyche im weitesten Verstand, nicht die Idee als solche, ist also auf allen Ebenen die letzte historische Instanz; sie gibt auch dem logisch Falschen jeweils Wahrheitswert. Von hier aus ahnt man denn schon den Sinn der eingangs formulierten geschichtsphilosophischen Grundantinomie: insofern die Ideen Exponenten historischer Wirklichkeiten sind, spiegelt ihre logische Entwicklung diese allerdings wider — aber sie ist sie nicht; deshalb muss jeder Ideologe scheitern. Ebendeshalb aber handelt jeder große Realpolitiker notwendig im Geiste der Idee, und mag er bewusst allein seinem Machtinstinkte folgen. Denn eben die Realität, mit der er rechnet, von der er nicht absehen kann, wenn er seine persönlichen Ziele erreichen will, ist der lebendige Sinn dessen, was die Idee nur spiegelt.