Schule des Rades

Hermann Keyserling

Die neuentstehende Welt

Philosophie und Weisheit

Aktionszentrum der Persönlichkeit

Wie ist nun Sinneserfassung überhaupt möglich? So fragt die Wissenschaft von ihrem exzentrischen Standort aus mit Recht. Vom Leben aus gesehen, entbehrt die Frage des Sinns. Es gibt Sinneserfassung, sie ist ein Urphänomen; der Sinn ist als schöpferischer Grund des Lebendigen zwar nicht logisch, wohl aber experimentell erweisbar1, so wie das Licht an der Tatsache, dass es beleuchtet, erweisbar ist, mag es physik-chemisch so oder anders zu erklären sein. Allenfalls mag man den Terminus Sinn beanstanden, doch das ist eine grammatikalische, keine Wesens-Frage, deren Entscheidung in dieser oder jener Richtung am Sachverhalt nichts ändert. Auch Wissenschaft geht ja, wie sie sich auch stelle, von der Tatsache möglicher Sinneserfassung aus, nur bezieht sie deren Ergebnisse, ihrer besonderen Einstellung gemäß, nicht auf den wirklichen Verstehensmittelpunkt zurück, sondern ein äußerlich-belegenes Projektionszentrum. Dies gilt auch von aller modernen wissenschaftlichen Philosophie. Bezieht diese, mit Kant, alle Wirklichkeit auf das erkennende Subjekt, so hypostasiert sie den Theoretiker im geistigen Menschen zu dessen Ganzheit. Führt sie das, was ich Sinn heiße, auf Ideen oder Werte oder ein transzendentes Sollen zurück, so erklärt sie geistig primär Gegebenes durch Postulate oder sekundäre Bildungen. Aus diesen zwei Beispielen nun erhellt allein schon, dass die moderne Philosophie mit dem, was die Menschheit von jeher unter Weisheit versteht, nicht auf einer Ebene belegen ist. Diese, die primär nicht erklärt, sondern weiß, übersieht von Hause aus den Zusammenhang aller nur möglichen Ergebnisse der Wissenschaft.

Und deren primäres Wissen als primäre Sinneserfassung ist offenbar, wo es zum Aktionszentrum der Persönlichkeit ward, gegenüber der Philosophie im modernen Verstand nicht nur das Ursprüngliche, sondern auch das vom Standpunkt des Lebens Höhere. Denn es allein vermag dessen Ganzheit unmittelbar vom Geist her zu beseelen; es allein vermag Geist unmittelbar dem Leben einzubilden.

Der Welt einen neuen geistigen Impuls mitteilen kann einzig, dies leuchtet jetzt schon ein, die Philosophie als Weisheit. Diese hat eine grundsätzlich andere ursprüngliche Einstellung als die Wissenschaft, und ihre Erkenntnisse liegen auf anderem Niveau. Sie beziehen sich nicht auf die Grundprinzipien möglicher Theorie, sondern die letzten lebendigen Voraussetzungen alles Vorstellbaren. Deshalb sind sie nur ausnahmsweise logisch zu beweisen. Dafür sind sie an ihrer Wirkung als gültig zu erweisen. Weisheit ist ihrem Wesen nach keine theoretische, sondern eine vitale und praktische Angelegenheit. Ihre erste Instanz ist deshalb nicht Erkenntnistheorie, sondern der gesunde Menschenverstand, d. h. die Fähigkeit, alle naheliegenden Dinge in der richtigen Perspektive zu sehen. Und ihre letzte Instanz ist nicht eine abstrakte Ontologie, auch die nicht, die als die absolut richtige gelten könnte, sondern das unmittelbare Schauen des kosmischen Zusammenhangs in solcher Perspektive, dass seine sämtlichen Komponenten in dem Bedeutungsverhältnis zueinander erscheinen, welches wirklich besteht. Da nun das Leben selbst in seiner Wurzel Sinn ist, so ergibt sich hieraus ein Weiteres, was die Gleichung Wissenschaft-Weisheit endgültig aufhebt. Weisheit bedeutet schöpferische Macht. Der Logos ist das sinngebende Prinzip. Alles Leben ist ein ständiges Be—Leben des an sich Sinnlosen oder der Körper sekundärer Sinnesinstanzen von geistigem Quelle her. Wie dieser allein das physische und psychische Leben im Gang erhält, so vermag er allein auch, wo er sich zum bewussten Geist entwickelte, das Gegebene zu verändern, denn nur durch neue Sinngebung wird aus den ewig gleichen Naturelementen Neues. Genau so vermag jeder mittels der gleichen 25 Buchstaben des Alphabets, sofern ihm Neues einfällt, Neues zu sagen. Aber auch nur dann; die Buchstaben als solche bergen keinen Sinn. Solange nun Sinn bloß mit dem Verstand erfasst wird, erschöpft sich dessen Macht auf der Ebene herausgestellter Theorie; daher die Ohnmacht aller Ideen und Theorien als solcher. Zentriert das Bewusstsein sich jedoch in ihm, dann wird er zur Lebensmacht. Dann wirkt er sich ebenso unmittelbar in der Verwandlung der Erscheinung aus, wie das Geisteszentrum, das den dem Bewusstsein unterworfenen Teil des Körpers beherrscht, unmittelbar dessen Bewegungen lenkt. Von hier aus erscheint denn selbstverständlich, dass ein großer Mensch für den Fortschritt mehr bedeutet als der Inbegriff alles dessen, was unter den Begriff einer Sache fallen kann. Jeder Mensch, in dem das Wort überhaupt Fleisch wurde, ist dank dem eine lebendige Geistesmacht, was keine Theorie als solche ist. Auf das Sachliche kommt es in Wahrheit an letzter Stelle an. Auch die schönen Sachen, die man Philosophie, Religion, Weisheit, Politik usw. heißt, gibt es ja gar nicht wirklich, sofern unter Wirklichkeit unmittelbare Wirkungsfähigkeit verstanden wird: es gibt nur lebendige Menschen in jedesmal einzigen, wenn auch im Rahmen von Typen abstrakt zu begreifenden Einstellungen. Darum ist es vom Lebensstandpunkt so gleichgültig, wie die Dinge der Welt rein theoretisch liegen. Worauf es ankommt, ist, dass der Sinn einerseits tief erfasst, anderseits dem Leben so vollständig als möglich eingebildet werde.

Hermann Keyserling
Die neuentstehende Welt · 1926
Philosophie und Weisheit
© 1998- Schule des Rades
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