Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Okkulte

Von der richtigen Einstellung zum Okkulten

Unbezwingbarer Systematisierungstrieb

Die richtige innere Einstellung des Beobachters ist sonach, im Fall okkulter Versuche, eine Grundvorbedingung von deren Gelingen. Dies gilt nun nicht allein in Rücksicht auf die Versuchsperson, sondern in gleichem Maße in Rücksicht auf den Experimentator selbst. Soweit dieser mit jener zusammenfällt, liegt die Tatsache auf der Hand; hierzu wurde das Notwendige bereits gesagt. Jetzt müssen wir aber einen Schritt weitergehen. Erkenntnis entsteht nicht durch Anschauung allein, sondern durch deren Vermählung mit dem entsprechenden Begriff. Wirklich neue Erfahrung erfordert deshalb auch neue Begriffe; eine Zurückführung auf bekannte gelingt nur dann, wenn das besondere Neue immerhin in einen bekannten allgemeinen Zusammenhang hineingehört. Sehr vieles vermeintliche Übernatürliche hat sich dergestalt auf schon erforschtes Natürliches zurückführen lassen. Jedoch nicht alles; und auf diesen Rest kommt alles an. Hier gilt nun hinsichtlich des Verstehens genau das gleiche wie für die Anschauung: verhindert Voreingenommenheit in diesem Fall das sachgemäße Erleben, so in jenem das richtige Verstehen; jedes Vorurteil, jede petitio principii, jede vorzeitige Erklärung macht es unmöglich. Denn auch diese schaffen innere Festlegungen, welche die Einordnung eines Neuen als solchen in das Bewusstsein ausschließen. Jeder weiß, wie fest Vorurteile binden. Wer auf bestimmte Theorien einmal eingeschworen ist, erscheint physiologisch unfähig, irgend etwas außerhalb von deren Rahmen zu verstehen — das Neuerfahrene wird entweder entsprechend vergewaltigt oder innerlich abgelehnt. Ebendeshalb schreitet die Erkenntnis so überaus langsam fort. Es vergingen Jahrhunderte, bevor das Bewusstsein der Mehrzahl die noch so erwiesene Tatsache, dass die Erde sich um die Sonne dreht, akzeptierte; Jahrzehnte, bevor der noch so widerlegte naturwissenschaftliche Materialismus ins Wanken geriet. Genau im gleichen Sinne ist Vorurteil der eigentliche Grund, weshalb es bisher noch nicht gelungen ist, das Okkulte ins Bereich wissenschaftlicher Erkenntnis hineinzubeziehen. Es muss auf bekannte Begriffe zurückzuführen sein, postulieren die meisten; die besten, so Charles Richet in seinem Traité de métapsychique (Paris 1922, F. Alcan), welches Buch insofern einen Markstein im Fortschritt der Wissenschaft vom Parapsychischen darstellt, als sein Verfasser den Mut zur Feststellung aufbringt, dass eine Reihe ungewöhnlicher Erscheinungen, so Telästhesie im weitesten Verstand, Telekinesie und Zukunftsschau als Vorkommnisse nicht mehr bezweifelt werden können, enthalten sich jeder Erklärung. Nun ist Erklärungsenthaltung ohne Zweifel viel besser als verfrühte Deutung1. Ich stehe nicht an, zu behaupten, dass wir hauptsächlich deshalb so wenig vom Hintersinnlichen noch wissen, weil den jeweilig Erlebenden zum Abwarten die Einsicht oder der Charakter fehlte — denn an unmittelbarer Erfahrung des Metaphysischen ist das Menschheitsbewusstsein als Ganzes, wie schon bemerkt, viel reicher als an solcher des schwerzugänglichen Physischen, vom Radium bis zu den Vorkommnissen im fernen Weltenraum. Plotin hatte zweifelsohne sehr reale übernatürliche Erlebnisse. Aber dass diese im überaus komplizierten abstrakten Rahmen, in die er sie einfasste, ihren realen geistigen Ort haben, bezweifle ich desto mehr, als er diesen Rahmen zum allergrößten Teil aus dem Zeitgeist übernahm; wahrscheinlich beging er den gleichen methodischen Fehler wie Hegel, der seine grandiose Intuition des historischen Geisteszusammenhangs in ein verfehltes panlogistisches System zusammenpreßte, weil er sich fälschlich einbildete, Kants Erkenntnisrahmen gelte auch für das, was er meinte, nicht allein für die äußere Natur2. Gleiche Fehler haben die Nichtphilosophen unter den Schauern des Hintersinnlichen natürlich in ungleich höherem Grade noch begangen: je ungeschulter ein Geist, desto schwerer verzichtet er auf sofortige und abschließend-vollständige Deutung seines Erlebens. Daher der unbezwingbare Systematisierungstrieb fast aller Mystiker und Okkultisten. Nur deren allergrößte haben auf Erklärungen des begrifflich Undurchdrungenen verzichtet, alle anderen vielmehr ihr neues Erleben unverzüglich in überkommene Theorien eingeordnet, nur im einzelnen berichtigend oder ergänzend; dies gilt besonders von den heutigen Theosophen und Anthroposophen. Nun mag es wohl sein, dass einige dieser Theorien zutreffen — werden sie vom Erlebenden gläubig vorausgesetzt, so fehlt, von wegen der Eigenart des Psychischen, die methodische Möglichkeit, dies festzustellen; denn die Voraussetzung verändert sofort das Erlebnis selbst. Ebendeshalb sind die meisten Okkultisten Fanatiker gerade ihrer Theorien, geht mystisches Erleben in der Regel mit Dogmenglauben und scholastischem Denken zupaar3. Aber ebendeshalb wissen wir, noch einmal, so überaus wenig von dem, was in Anbetracht der reichen Erfahrung, welche der Menschheit in diesen Dingen schon zuteil geworden ist, längst geistig durchdrungen sein sollte; vielleicht noch nie sind diese Erlebnisse so verarbeitet worden wie neue natürliche Erfahrungen — kein chemischer Körper wäre in seiner Eigenart je erkannt worden, wenn man mit ihm so umgegangen wäre, wie mit Erscheinungen psychischen und geistigen Ursprungs, d. h. unter feststehenden inneren Voraussetzungen. Nichterklären ist also jedenfalls besser als falsch und voreilig erklären. Andrerseits kann es bei jenem selbstverständlich nicht bleiben, denn ohne Begriffe gibt es kein Verstehen. Da stellt sich denn die Frage: Wie gelangt man zu richtigen Begriffen? Die prinzipielle Antwort hat die Geschichte der Wissenschaft längst erteilt: unsere richtigen Naturbegriffe sind sämtlich dergestalt zustande gekommen, dass sich der wissenwollende Geist unbefangen und ohne Vorurteil in das rein angeschaute Phänomen versenkte; dann entstanden sie auf die Dauer, ohne jede gewollte Konstruktion, von selbst. So ist Galilei zum Begriff der Fallgesetze, Newton zu dem der Schwere, Julius Robert Mayer zum Satz von der Erhaltung der Energie gelangt. So allein kommen entsprechende Begriffe überhaupt zustande. Ziehen wir hierzu nun die Erfahrung aller Künstler aller Zeiten in Betracht, dass vorbehaltlos hingegebenes Schauen allein zur künstlerischen Erfassung seines Gegenstandes führt, sowie die aller Metaphysiker und Religiöser, dass nur reine Versenkung ohne Vorurteil im Buchstaben den Sinn erschließt, so wird uns weiter klar, warum vorurteilslose, auf alle Erklärung zunächst verzichtende Hingabe des Geists an das rein angeschaute Erfahrungsmaterial allein zum Verstehen führt: Begriffe sind nichts Künstliches; sie sind die natürlichen Organe des Verstehens. Deshalb können sie einerseits nicht gemacht werden, erwachsen sie andrerseits ganz natürlich, sobald der verstehenwollende Geist sich auf entsprechende Weise zu seinem Gegenstande in Beziehung setzt; sie erwachsen dann genau so, wie das Auge irgend einmal am Licht erwuchs — der Vergleich hinkt nach keiner Richtung hin, weil auch die Begriffe in unserer geistigen Anlage vorgebildet liegen, genau wie die Augen in der physischen; andrerseits präjudiziert das Präformierte an der menschlichen Erkenntnisart, dessen Grundriss Kant absteckte, nichts über das jeweilige Neuentstehen aller bestimmten Begriffe.  — Begriffe müssen also an der jeweiligen Anschauung erwachsen; so allein bilden sich die jeweilig entsprechenden4. Blicken wir von hier aus nun noch einmal auf die vorurteilsvolle Art zurück, auf welche Okkultisten sowohl als wissenschaftliche Kritiker bisher das betreffende Erfahrungsmaterial geistig verarbeitet haben, so verlässt uns die letzte Verwunderung darob, warum wir über dieses wichtige Gebiet, trotz überreicher Erfahrung, bisher fast gar nichts wissen.

Soviel gilt grundsätzlich. Im besonderen muss den Forschern allerdings zugute gehalten werden, wie außerordentlich schwer das Gebiet des Psychischen geistig zu durchdringen ist. Unser Verstand hat sich, wie Bergson5 am besten verdeutlicht hat, an der Materie ausgebildet, und das Verständnis des Psychischen liegt ihm deshalb nicht. Ich habe mich in letzter Zeit mit dem Versuch befasst, die Ergebnisse der analytischen Psychologie, besonders in Jungs Darlegung, wirklich zu verstehen, und muss gestehen, dass solches mir nur in geringem Umfang geglückt ist. Überall ahne ich die ungeheuersten Probleme und Aufschlüsse, aber der überkommene geistige Organismus ist diesen noch so wenig angepasst, dass ich mich wieder und wieder außerstande sehe, die mir jeweilig gestellte Aufgabe zu bewältigen. Ob ich so gar viel dümmer als die anderen bin? Das Unbewusste, das Unterbewusste sind mir nicht leichter fasslich wie Götter und Teufel, eher schwieriger; inwiefern es ein allgemeines Unbewusstes gibt, welches der einzelnen Bewusstsein nur jeweilig zum Ausdruck bringt, vermag ich mir noch nicht deutlich zu machen; sogar die gesichertesten Ergebnisse dieser Wissenschaft, wie die Tatsachen der Komplexbildung und -auflösung, bereiten meinem Verstehen Schwierigkeit. Man bedenke ferner das folgende: Ideenassoziation und Geisterbeschwörung bedeuten, erkenntniskritisch betrachtet, Gleiches, ebenso das Bewegen der eigenen Hand und Telekinesie, Inspiration und die Befruchtung durch einen fremden großen Geist6. Macht diese Einsicht etwa das Rätselhafte verständlich? Im Gegenteil, sie macht vielmehr das Alltägliche rätselhaft. Die ganze Welt des Psychischen ist, vom Standpunkt unserer gewohnten Begriffe betrachtet, unverständlich; sie ist andererseits überall ähnlicher, wenn nicht gleicher Art. Man versenke sich verstehenwollend in die Welt hinein, welche die Psychoanalyse völlig sicher erschließt, und man stößt auf eben die Rätsel, welche der eigentliche Okkultismus einem aufgibt; vielleicht besteht der einzige wahre (das Prinzipielle betreffende) Unterschied zwischen beiden Gebieten darin, dass man die Rätsel dort, durch vertraut gewordene Wortdefinitionen getäuscht, nicht merkt. Hier muss ich sogar sagen: die Behauptungen Rudolf Steiners von jenseitigen Welten klingen dem Verstand plausibler als die der analytischen Psychologie, gleichviel, wie es mit ihrer Richtigkeit bestellt sei. Nur eine Sondererwägung in diesem Zusammenhang. Jede Erkenntnis im Sinn der die Außenwelt betreffenden Wissenschaft setzt die Gültigkeit zweier Sätze voraus: des Satzes der Identität und des vom Widerspruch. Diese nun gelten in den Sphären des Psychischen und Parapsychischen offenbar nicht; es gibt dort auch keine Räumlichkeit und Zeitlichkeit im üblichen Begriffsverstand. Da es sich dort überall um Welten des Sinnes handelt, deren Erscheinungen Sinnbilder sind, weshalb aller Nachdruck auf der Bedeutung ruht, so sind Tatsachen im äußerlichen Verstande erstens überhaupt schwer festzustellen, zweitens nie zwingend eindeutig zu deuten7. Schon im Traum ist man häufig genug man selbst und ein anderer zugleich. So mag es sein, dass im Jenseits des Wachbewusstseins die Unterschiede zwischen sich und anderen verschwimmen, so dass es bei Offenbarungen vermeintlicher anderer, höherer Wesen durch Medien hindurch vielleicht gleich richtig ist, ob man nun sagt, der Betreffende selbst spreche oder ein anderer spricht durch ihn. Hier erkläre ich gar nichts. Ich stelle diese Erwägungen, im Gegenteil, nur dazu an, um auf die grundsätzliche Schwer, und Unverständlichkeit alles Psychischen das größtmögliche Gewicht zu legen. Die Welt des Psychoanalytikers, an deren Dasein heute kein Ernstzunehmender mehr zweifelt, ist um nichts verständlicher als diejenige Rudolf Steiners. Desto mehr kommt es darauf an, auf alles vorzeitige Deuten zu verzichten und vielmehr unbefangen abzuwarten, bis an der unbefangenen Anschauung entsprechende Verständnisorgane erwachsen.

1 Vgl. hierzu meine Schöpferische Erkenntnis S. 236, 261, 375.
2 Vgl. hierzu meine Ausführungen im letzten Vortrag meiner Prolegomena zur Naturphilosophie (vergriffen) und in den Abhandlungen Zur Psychologie der Systeme, Das Wesen der Intuition und ihre Rolle in der Philosophie und Die metaphysische Wirklichkeit (1910 und 1911).
3 Vgl. hierzu die Ausführungen im Benares-Abschnitt meines Reisetagebuchs.
4 Näher ausgeführt steht dieser Gedankengang in meiner Schöpferischen Erkenntnis S. 5, 261, 262, 279.
5 Vgl. in diesem Zusammenhang besonders dessen Studie Phonèmes de vivants et recherche psychique in der EssaisammlungL’énergie spirituelle, Paris 1921, F. Alcan.
6 Vgl. Schöpferische Erkenntnis S. 379, 416.
7 Man lese über dieses entscheidend wichtige Problem (an der Hand des Registers unter Sinn und Welt) meine Schöpferische Erkenntnis nach.
Hermann Keyserling
Das Okkulte · 1923
Von der richtigen Einstellung zum Okkulten
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