Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Okkulte

Von der richtigen Einstellung zum Okkulten

Erkenntniswerkzeuge

Daß die bisherige psychologische Wissenschaft, auch wo sie sich unbefangen zu den Problemen des Parapsychischen stellt, die tiefste Problematik ihres Gebietes nicht erfasst hat, geht aus der einen Tatsache hervor, dass ihr die wesentliche Unverständlichkeit dessen, wovon sie berichtet, meines Wissens noch niemals klar geworden ist. Nur deshalb zieht sie die Grenze zwischen dem Verständlichen und Unverständlichen dort, wo die von ihr als wirklich anerkannte Sphäre mit derjenigen des eigentlichen Okkultismus zusammenstößt. In Wahrheit müsste sie schon an die Grenze des Un- oder Unterbewussten gesetzt werden. Zwischen diesem und dem eigentlich Okkulten, bis in dessen verstiegenste Sphären hinauf, sehe ich nur kontinuierliche Übergänge. Deshalb muss anerkannt werden, dass die Forscher aus dem Kreis der Okkultisten der hintersinnlichen Wirklichkeit gegenüber insofern richtiger eingestellt sind als die aus dem Reich der Zunft, als sie wenigstens von der richtigen Voraussetzung ausgehen, dass jene besondere Begriffsmittel erfordert zu ihrer Bewältigung. Das praktisch Unzulängliche ihrer Begriffe, insofern diese zum großen Teil auf Vorurteil beruhen, ändert nichts an jenem Verdienst. Dass ferner in okkultistischen Kreisen, trotz aller Fehler, die dort typischerweise begangen werden (vgl. meine kritischen Bemerkungen im Reisetagebuch, in Philosophie als Kunst und besonders der Schöpferischen Erkenntnis), viel mehr echtes Erfahrungsmaterial gesammelt vorliegt als irgendwo sonst, versteht sich von selbst: in jene treten weitaus die meisten derer ein, welche Ungewöhnliches erleben. Deshalb ist eine Bekämpfung der Okkultisten vom Standpunkt der Wissenschaft [ganz anders liegen die Dinge von dem der Metaphysik und Religion aus gesehen, Vgl. meine Ausführungen darüber in den obengenannten Werken1] das törichteste aller nur denkbaren Unterfangen. Sie erleben unter allen Umständen Ungewöhnliches, was immer dieses bedeute; sie versuchen es ferner in seiner Eigenart zu erfassen: da kann es sich vernünftigerweise nur darum handeln, die Betreffenden von ihren etwaigen methodischen Fehlern abzubringen und sie dazu zu bewegen, ihr Können und Wissen der Wissenschaft zugänglich zu machen. Dass hierzu wiederum ein grundsätzlich positives Verhalten zu ihnen erstes Erfordernis ist, ergibt sich aus der früheren Betrachtung über die Art, wie Medien und Hellseher überhaupt behandelt werden müssen.

Solange Männer der Wissenschaft sich erdreisten, Sensitive, als wären sie Angeklagte, zu zitieren, wird mit Recht kein Höherorganisierter, der auf sich hält, dem Rufe Folge leisten. Nun hängt aber schlechthin alles für die Erkenntnis davon ab, dass die Besten mit sich Versuche anstellen lassen. Den wissenschaftlichen Bestrebungen der Theosophen, in erster Linie Rudolf Steiners und seines Kreises, sei noch einmal alle Anerkennung gezollt; sie tun viel dazu, um die psychischen Bedingungen des Erlebens von Ungewöhnlichem zu bestimmen und herzustellen; sie bemühen sich redlich, soweit ihre besondere Geistesart solches erlaubt, ihre Erfahrung in Erkenntnis umzusetzen. Dies sage ich mit besonderem Nachdruck, gerade weil ich die Vorwürfe, die ich zumal in der Schöpferischen Erkenntnis gegen die Methoden der Anthroposophen erhoben habe, durchaus aufrecht erhalte. Aber ihre Erfahrungen und Deutungen werden nie ihrem Wesen nach begriffen, diese werden nie in den allgemeinen Kreis der Wissenschaft hineinbezogen werden, bevor ihre psychologische Eigenart nicht genau studiert und als solche verstanden ward. Hier bin ich denn bei dem methodischen Hauptpunkt dieser Untersuchung angelangt. Die Natur ist überall nur aus den Bedingungen ihrer Erfahrbarkeit heraus zu verstehen; dies begriff zuerst Kant, und insofern gibt es echte Wissenschaft erst seit ihm. Der geistige Organismus Mensch ist unter allen Umständen das Erkenntnisinstrument, dessen Eigenart bekannt sein muss, ehe der Sinn dessen, was er an Erfahrung vermittelt, richtig bestimmt werden kann. Was nun von aller Erfahrung gilt, gilt besonders von solcher, die nur wenige machen können. Hier muss die kantische erkenntniskritische These durch eine entsprechende psychologische ergänzt werden, denn hier steht der Tatbestand als solcher in Frage, nicht nur sein Sinn. Zu diesem Ende stellt der Astronom, bevor er seine Beobachtungen und Rechnungen als objektiv zutreffend erklärt, seine persönliche Gleichung fest. Die Kenntnis dieser im weitesten Verstand ist nun beim Hellseher schlechthin die Hauptsache, denn er verfügt nicht allein im besonderen, sondern im allgemeinen über andere Erkenntniswerkzeuge als der normale Mensch. Wahrscheinlich erfordert Erleben auf höheren Bewusstseinsebenen, soweit es solche gibt, auch eine besondere Erkenntnistheorie — aber deren noch so genaue Kenntnis vermittelt dem keine Einsicht in die tatsächlichen Verhältnisse, welcher nicht selbst auf jenen Ebenen erfahren kann. Hier ist Verständnis dadurch allein erzielbar, dass die besondere Psychologie des Ungewöhnliches Erlebenden als solche erforscht, d. h. das Instrument empirisch genau bekannt wird, über das jener verfügt; hier ist auch die Wirklichkeit seiner Erfahrungen nur auf diesem Umwege zu erweisen. Ob viele oder nur wenige bestimmte Erfahrungen machen, ist grundsätzlich einerlei; auch gewisse Beobachtungen auf Sternen kann unter Umständen nur einer anstellen, nämlich der, welcher über ein bestimmtes, nur einmal vorhandenes Teleskop allein verfügt. Nur darauf kommt es an, dass dessen Sonderart genau erkannt wird; sobald dieses geschehen, wird die Beobachtung des einen, sofern man ihm psychologisch trauen kann, zum Wissen aller, welche als Menschen ebenso organisiert sind wie er.

Jetzt ist wohl vollkommen klar, inwiefern die Psychologie und Erlebnisart des Okkultisten das für die Erkenntnis erste und wichtigste am Problem des Okkultismus ist. Der Okkultist stellt ein seltenes, unter Umständen einzigartiges Instrument dar, das nur seinesgleichen unmittelbar nutzen kann. Was er sieht, wird keiner sehen und auch keiner unmittelbar verstehen, der nicht über die gleiche Organisation verfügt. Ist diese aber als Instrument erkannt und verstanden, was grundsätzlich in jedem Falle möglich ist, da der Okkultist als solcher dem Bereich von unserer aller Erfahrung angehört, dann können auch seine Erlebnisse als wirklich festgestellt und in ihrer Eigenart begriffen werden, denn dann besteht die Möglichkeit, ein Erleben in ein anderes zu übersetzen. Natürlich kann solche Übersetzung, gemäß dem Vorhergehenden, dann allein gelingen, wenn das am anderen und durch den anderen Erfahrene nicht auf vorgefasste Begriffe gebracht, wenn vielmehr abgewartet wird, bis dass die entsprechenden an der Anschauung erwachsen. Aber eben hierzu bahnt die Einfühlung in den lebendigen Okkultisten den Weg. Wer bei entsprechender Begabung seine Seele der Wesensart eines anderen unbedingt öffnet, der gelangt mit ihr in unmittelbaren Zusammenhang; es entsteht mit ihr eine richtige Kommunion, in dessen Höchstausdruck der höhere oder anders ausgebildete Organismus bis zu einem gewissen Grad zum eignen wird. — Gewiss gelangt man so nicht zum persönlichen Erlebnis der höheren Sphären; insofern behalten die recht, welche nur dem entsprechend Veranlagten und Ausgebildeten das Recht zum Mitreden über deren Problematik zuerkennen. Aber man gelangt so allein, wenn überhaupt, zum allgemeingültigen Begriff einer allfälligen okkulten Wirklichkeit. Der Gesichtspunkt der wissenschaftlichen Erkenntnis kann, par définition, nur der des Außenstehenden sein, nur er führt überhaupt zur allgemeinverständlichen Deutung, zur Hineinbeziehung des Neuen in den allgemeinen Wissenszusammenhang2. Deshalb bedeutet Rudolf Steiners Geisteswissenschaft, wenn ihre Erkenntnisse noch so wahr wären, das noch nicht, was Wissenschaft verlangen muss. Es gilt, das eventuelle Wirkliche anderer Sphären mit den Erkenntnismitteln dieser zu verstehen. Soviel gilt grundsätzlich. Im übrigen sei bedacht, dass auch auf dem Gebiet des Seelischen persönliches Erleben nie gleich genaue Erkenntnis vermittelt wie objektives Erforschen: kein Dichter hat die Abgründe der Seele je so genau bestimmt, wie dies der modernen Psychoanalyse gelingt.

1 Die Bedeutungslosigkeit okkulten Könnens vom religiösen Standpunkt hat neuerdings Pfarrer Beyer in seiner Schrift Religion und Suggestion (Halle 1922, Carl Marhold) an der Hand der Stellungnahme Jesu zum Wunderbaren auf besonders aufklärende Weise dargelegt. Kein zum Okkultismus hinneigender gläubiger Christ lasse diese Studie ungelesen.
2 Vgl. über die Grenzen der Wissenschaft meine Schöpferische Erkenntnis, S. 269, 410.
Hermann Keyserling
Das Okkulte · 1923
Von der richtigen Einstellung zum Okkulten
© 1998- Schule des Rades
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