Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Okkulte
Von der richtigen Einstellung zum Okkulten
Wesensart des Okkultisten
Insofern wäre denn eine einzige kurze, aber wirklich exakte Studie über die Psychologie eines namhaften Okkultisten, etwa die Rudolf Steiners, viel bedeutsamer für unsere Erkenntnis dieser Dinge als die sämtlichen Lehren zusammengenommen, die in esoterischen Schriften verstreut liegen: jene erst gäbe den Schlüssel zu deren Verständnis; dank ihr erst könnten Nichthellseher (und das werden die allermeisten Menschen dauernd bleiben) verstehen, was diese bedeuten. In diesem Augenblick rede ich von einem Typus des Okkultisten, mit dem sich, der Natur der Sache nach, keine eigentlichen, d. h. die betreffenden Fragen für die unmittelbare Erfahrung aller beantwortende Experimente anstellen lassen; solche sind nur im Machtbereich des normalen Bewusstseins möglich, können also vernünftigerweise gar nicht gefordert werden, wo immer von etwaigen höheren Sphären die Rede ist. Aber für die Erkenntnis entscheidend wichtig scheint mir hier wiederum die Einsicht, dass das objektive, dem physikalischen analoge Experiment auf diesem Gebiet überhaupt nicht das Wichtigste ist. Nur das Gröbste am Okkulten lässt sich dergestalt nachweisen. Und auch hier ist der Sinn der Sache mit der sachlichen Feststellung nie zugleich erfasst. Das Bedeutsame ist die Möglichkeit der ungewöhnlichen Phänomene — das Vorkommen vieler steht heute überhaupt nicht mehr in Frage —, diese aber ist allemal psychischen Ursprungs und hängt mit Erlebnissen geistigster Art bis in die höchsten religiösen Höhen hinauf, wie alle Geschichte lehrt, direkt oder indirekt zusammen. Man vergesse nie, dass alle Bilder, die das Bewusstsein produziert, in erster Linie Sinnbilder sind. Deshalb ist das Studium der Wesensart des Okkultisten auch im Fall der bloßen Materialisationsmedien das erste Erfordernis. Deshalb ziemt sich in allen Fällen das Anwenden einer Arbeitshypothese, welche die höchsten wie die niedersten Manifestationen des Okkulten, vom Gotteserlebnis bis zur Telästhesie und normalen Phänomenologie des Unterbewussten hinab, der Möglichkeit nach auf einmal in ihren Ansatz aufnähme.
Ich zeigte bereits, dass ein Hauptfehler der bisherigen Psychologie darin besteht, dass sie die Grenze zwischen dem Okkulten und Normalen nicht schon mit der zwischen Bewusstem und Unbewusstem zusammenfallen lässt: schon alles Unterbewusste ist vom Standpunkt des Bewusstseins und seiner Kategorien unverständlich; ich zeigte weiter, dass alles Psychische insofern okkult geheißen werden könne, als es vielleicht kein normales Phänomen gibt, das mit einem parapsychischen nicht eines Sinnes wäre. So steht denn zu hoffen, dass die Psychologie bald die gleiche Wandlung durchmachen möge wie die Medizin. Diese unterscheidet jüngst nicht mehr eigentlich Krankheiten, sondern konstitutionelle Typen, welche im Grenzfall dem Bild bestimmter Krankheiten entsprechen. An sich
gibt es in der physischen Sphäre — das steht heute fest —, von organischen Gebrechen selbstverständlich abgesehen, nichts unbedingt Normales und nichts unbedingt Pathologisches. So gibt es auch nichts an sich
Psychisch, Normales und geheimnisvoll-Okkultes. Es gibt verschiedene Menschentypen, für welche verschiedenes normal ist, diese aber sind durch stetige Übergänge miteinander verknüpft. Alles Nähere kann nur genaue Erfahrung lehren; solche steht ihrerseits erst dann in Aussicht, wenn bei allen Versuchen von der richtigen Fragestellung ausgegangen wird, denn von der Einstellung unabhängige bestimmte Tatsachen gibt es nicht. Über den Typus des Okkultisten lässt sich allgemein zunächst nur folgendes sagen: Es handelt sich bei ihm um einen besonderen Begabungsträger, nicht anders wie beim Philosophen, Geschäftsmann und Musiker. Gleich jedem Typus stellt er, technisch betrachtet, einen spezifischen Übertragungsmechanismus dar. Über die geistigen Kräfte, welche im Kosmos walten, als solche wissen wir noch wenig. Doch alles spricht dafür, dass die, über welche der Menschengeist jeweilig verfügt, nicht unmittelbar seinem Gehirn entstammen, sondern dass dieses nur den Apparat bedeutet, der sie dem Menschen zur Verfügung stellt.
Bergson hat bezüglich der Erinnerung auf kritischem Wege nachgewiesen, dass diese jedenfalls nicht im Gehirn wohnt, als welches vielmehr aus jener, dem Bedürfnis entsprechend, nur auswählt, weshalb das Hirn eher als Werkzeug des Vergessens als der Erinnerung anzusprechen sei — in der Tat, die tote Materie vergisst nichts, jeder Eindruck bleibt; das Tier vergisst fast nichts, beim Menschen aber nimmt die Vergessensfähigkeit proportional der Begabung zu. Im gleichen Sinn ist offenbar jedes besonders veranlagte Gehirn der Verbindung bestimmter Schichten und Arten der Innenwelt mit der Außenwelt fähig. Diese Beziehungsmöglichkeit wechselt mit dem Zustand erstens der Gehirnentwicklung, zweitens der Bewusstseinslage; daher die verschiedenen Anlagen, welche das gleiche Individuum im Normal- und Trancezustand oder im Fall der Persönlichkeitsspaltung in der einen oder anderen Einstellung zeigt. Je passiver der Zustand, welcher Art dieser übrigens sei, desto mehr kann er virtuell vermitteln und übertragen; die klugen Hunde und Pferde, über die man zeitweilig so viel las, sind wahrscheinlich als absolute Medien zu beurteilen, welche bei entsprechender Erziehung die geheimsten Absichten des menschlichen Unbewussten von sich aus auszuführen vermögen; hier reicht der Einfluss so tief, dass die Tiere tatsächlich Menschentum spielen oder fingieren. Medium ist aber jedes Bewusstsein in bezug auf die Einflüsse, die es von außen oder von innen her erfährt1. Je nachdem nun, für welchen Ausschnitt der Außenwelt ein Gehirn besonders veranlagt ist, wählt die Aufmerksamkeit seines Besitzers verschiedenes heraus. Je nachdem, zu welcher geistigen Sphäre die nächste Beziehung besteht, erscheint der Mensch als Religiöser, Metaphysiker, Intuitiver, Verstandesmensch oder Hellseher. Der letztere aber schaut oder erlebt seinerseits jeweilig Verschiedenes, je nachdem, zu welcher Schicht der Wirklichkeit er den Übertragungsmechanismus besitzt. Der räumliche Hellseher braucht nicht Gedankenleser und Zukunftsschauer zu sein usw. Dass der jeweilig erforderliche Übertragungsmechanismus ausgebildet, verändert, wenn nicht erschaffen werden kann, beweist die bloße Tatsache des unbestreitbaren Erfolgs von Exerzitien und sonstigen Yogaübungen; hier wird eben der Mechanismus verwandelt, aus welcher Veränderung sich eine neue Erlebnismöglichkeit ergibt. Für das wissenschaftliche Problem des Okkultismus ist nun, noch einmal, zunächst viel weniger wichtig, welcher Art die Erlebnisse sind, die jeder Zustand und jeder Mechanismus vermittelt, als eben der Mechanismus als solcher. Denn aus ihm heraus erst ist das Jenseitige für unser diesseitiges Bewusstsein zu verstehen.
1 | Vgl. hierzu Schöpferische Erkenntnis S. 388. |
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