Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Okkulte

Von der richtigen Einstellung zum Okkulten

Die Welt ist Vorstellung

Somit besteht die richtige Einstellung zum Okkulten, sofern man es erfahren will, darin, dass man sich genau so vorurteilslos und unbefangen zu ihm verhält wie zur sonstigen Natur. Zu seinem Verständnis aber gibt es nur den einen sicheren Weg, den Typus des Okkultisten erschöpfend zu studieren. Dieser mag selten vorkommen — auch Musiker und Philosophen, die schlechten inbegriffen, sind zahlenmäßig betrachtet selten —, er kommt viel häufiger vor, als die meisten ahnen. Er ist gerade heute, innerhalb der höchsten Kulturschichten, besonders häufig anzutreffen. Nur verbirgt er sich meist. Und wie soll ein feinfühliger Mensch, welcher ungewöhnliche Fähigkeiten besitzt, diese nicht verbergen, wenn er Gefahr läuft, sobald sie bekannt werden, entweder als höheres Wesen verehrt oder aber verlacht oder endlich, wie ein Verbrecher, vor das gestrenge Tribunal einer Wissenschaft, die über die Vorbedingungen okkulten Geschehens noch ganz im unklaren ist, zitiert zu werden? Inwiefern die beiden letzten Stellungnahmen unerlaubt sind, ist nach dem Vorhergehenden klar. Was aber die erstere betrifft, so sagt der Wert der Botschaft, die ein Medialer vielleicht wirklich aus dem Jenseits überbringen mag, nicht das geringste über den Boten aus; ein Medium, aus welchem Gott spräche, stände deshalb noch nicht höher als ein Telephon. Aus dieser Erkenntnis stammt, nebenbei bemerkt, die besondere Bescheidenheit der Inspirierten, die sich aufrichtig als unmittelbare Organe von Höherem fühlten und fühlen. Es gilt also, die Besitzer ungewöhnlicher Fertigkeiten dazu zu bewegen, aus ihrer Verborgenheit herauszutreten und sich in den Dienst der Wissenschaft zu stellen. Dies werden aber deren Beste dann erst tun, wenn der Okkultist grundsätzlich als ebenso normales Geschöpf anerkannt sein wird wie der Dichter und Musiker. Dass sich bisher, d. h. seit der sogenannten Aufklärung, zumeist nur Scharlatane oder sonst irgendwie bedenkliche Subjekte als Besitzer ungewöhnlicher Fähigkeiten vorführen lassen, ist sehr begreiflich. Freilich wissen wir noch nicht oder nur sehr ungenau, welche ungewöhnlichen Erlebnisse faktisch, so, wie sie geschildert werden, vorkommen; noch weniger, was sie bedeuten. Aber dass es von jeher Menschen gegeben hat und solche auch heute gibt, die sich aufrichtig im Besitz besonderen Könnens glauben und auch in unserer Sphäre entsprechend Ungewöhnliches leisten (die massensuggestive Wirkung Steiners als solche schon ist ein Ungewöhnliches), darüber besteht kein Zweifel. Diese Menschen genau zu studieren, ist der Weg zum Verständnis des Okkulten überhaupt.

So kommt denn, wenn wir endlich mehr erfahren wollen, noch einmal, alles darauf an, dass die besten und nicht nur die schlechtesten, die höchstorganisierten, geistigsten und nicht allein die primitivsten Okkultisten, von denen allein man bisher in wissenschaftlichen Abhandlungen liest, den Entschluss fassen, ihr Können der objektiven Erforschung zugänglich zu machen. Diesen werden sie finden, sobald sie eine solche Einstellung zu sich erwarten dürfen, die sie als sinngemäß gelten lassen können. Um dieser Einstellung in der Öffentlichkeit den Weg zu bereiten, dazu vor allem habe ich die vorliegende Schrift verfasst. Hier lasse ich die Frage völlig unerwogen, was an den bisherigen sachlichen Behauptungen der Okkultisten zutreffen mag und was nicht — darüber wird dann erst ein kompetentes Urteil möglich sein, wenn eine Mehrzahl von Fällen in dem Geist erforscht sein wird, welchen ich hier vertrete. Ich persönlich habe vor dem besonderen Fall, den Dr. Happich im folgenden ausführlich behandelt, nie eigentlich experimentiert, obgleich ich oft mit Okkultisten zusammen war; ich habe es vorgezogen, mich jeweilig in die Eigenart der Betreffenden zu versenken, um zu sehen, inwiefern sie anders als andere Menschen sind. Sie sind nun tatsächlich anders — eben im Sinn des Besitzes eines besonderen Übertragungsmechanismus. Indem ich sie aber als solche unbefangen gelten ließ, konnte ich erfahren, wie leicht sie sich erschließen, sobald man sich nur so zu ihnen verhält, wie sich eigentlich von selbst versteht. Deshalb bin ich vollkommen überzeugt, dass der Sieg der so einfachen Gesichtspunkte dieser Schrift ipso facto ein reichstes Material der Erforschung zugänglich machen wird. Dann wird alles darauf ankommen, dass man wirklich die besten vorzugsweise studiert. Dass okkult Veranlagte sehr häufig unzuverlässig sind, ist allbekannt; ähnlich den Schauspielern, besitzen auch Medien typischerweise Eigenschaften, die sie als Menschen entwerten. Deswegen muss bei der Auswahl der Versuchspersonen auf deren Charakterlauterkeit das größte Gewicht gelegt werden. Letzteres ist desto gebotener, je geistiger die Sphäre, die ihre Fähigkeiten betreffen. Bei Materialisationserscheinungen, bei Telekinesie, Telästhesie entscheidet der objektive Befund. Aber was kann, wo es sich um Aussagen über Jenseitiges handelt, als solcher gelten? Hier gibt es nur zwei Garantien der Richtigkeit: die Wahrhaftigkeit und die Unbefangenheit des Aussagenden. Über die erste brauche ich mich nicht weiter auszubreiten. Die Bedeutung des zweiten Moments erhellt aus der Rückbesinnung auf das über die richtige Einstellung des Experimentators Ausgesagte. In der geistigen Welt ist Einbildung, von außen her betrachtet, ebensolche Wirklichkeit wie Vorhandenes spiegelnde Vorstellung; dort schafft jedes Vorurteil einen präexistierenden Erkenntnisrahmen, wirken Glaube und Nichtglaube als unmittelbar wirklichkeitsschaffende Mächte; dort liegen die Dinge grundsätzlich immer so, wie beim Medium, das die Suggestionen seines Hypnotiseurs erlebt: die Welt ist so, wie dies die Vorstellung verlangt. Deshalb setzt die Zuverlässigkeit von Aussagen über das Jenseits, paradox gesprochen, voraus, dass der Aussagende dieselben innerlich nicht glaube; deshalb wirkt jede physiologische festsitzende Weltanschauung fälschend. Der Okkultist, welcher die Erkenntnis wirklich fördern wollte, müsste sich ebenso rein hingebend seinen Erlebnissen gegenüber verhalten wie der Beobachter und Experimentator; er dürfte keine fertigen Theorien haben, bevor er zu solcher Gewissheit gelangt ist, wie wir sie der äußeren Natur gegenüber haben. Aus dieser Erwägung heraus schrieb ich im Reisetagebuch, dass ich dem unbegabten Leadbeater mehr traue wie Rudolf Steiner: dieser ist so außerordentlich begabt, er verfügt über eine so fruchtbare konstruktive Phantasie, dass ich den Verdacht nicht loswerde, er komponiere — unbewusst natürlich — den Zusammenhang seiner Erlebnisse. Dieser Verdacht wurde in mir besonders stark, seitdem ich Einblick in seine Zyklen gewann: so wunderbar passt der genaue Wortlaut der Bibel z. B., wie wir ihn heute haben, zu seinen geisteswissenschaftlichen Deutungen, dass ich den Argwohn nicht loswerde, diese schmiegten sich in seinem Fall dem Texte an, wie die Stimmung beim Dichter der starren Form des Sonetts. Der Hellseher, der uns zu wirklich einwandfreier Erkenntnis verhelfen könnte, müsste, während er schaut und das Erschaute beschreibt, buchstäblich Medium, d. h. ausschließlich Ausdrucksmittel dafür sein, was er erlebt. Diese Bedingung ist buchstäblich nie zu erfüllen. Jeder sieht geistig unter anderem das, was ihm selber einfällt; wie Bergson gezeigt hat, erscheint schon jeder Eindruck augenblicklich mit Erinnerungen verquickt. Ferner wirkt jede Frage ihrerseits suggestiv. So ist der Idealfall für ein Experiment, wie die Physik ihn praktisch fordern darf, auf okkultistischem Gebiet wohl überhaupt nicht herzustellen.

Hier muss man wohl voraussetzen, dass die Fehlergrenze grundsätzlich sehr tief liegt; mehr wie 50-60% naturwissenschaftlicher Exaktheit wird da, wo es sich um Mitteilungen handelt, welche angeblich aus geistigen Sphären stammen, kaum je zu erzielen sein. Aber wenn man solches nun weiß, dann richtet man sich auch danach ein. Man bewertet das Positive anders wie das Negative, sucht dessen besondere Ursachen klarzulegen. Man häuft die Experimente, urteilt gemäß den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit und der großen Zahlen. Vor allem aber traut man der Qualität mehr als der Quantität. Von einem wirklich zuverlässigen okkult Veranlagten ist mehr zu lernen als von Hunderten anderer, deren Charakter Bedenken erweckt.

Hermann Keyserling
Das Okkulte · 1923
Von der richtigen Einstellung zum Okkulten
© 1998- Schule des Rades
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