Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Okkulte

Von der richtigen Einstellung zum Okkulten

Wiederverkörperung

Ein wirklich bedeutender Okkultist hat sich meines Wissens noch nie zum Studium seiner Persönlichkeit hergegeben. Vielleicht tut es noch Rudolf Steiner, bevor er stirbt: damit brächte er die Menschheit dem Ziel seiner eigenen Geisteswissenschaft mit einem Schlage näher, als durch seine sämtlichen Schriften. Aber ein Beispiel kann ich doch schon als Illustration dessen anführen, was für neue Möglichkeiten sich aus der bloßen Tatsache einer richtigen Einstellung zum Okkulten ergeben: es ist der Fall H.-B., welchen die Studie Carl Happichs ausführlich behandelt.

Anlässlich eines Vortrags im Norden Deutschlands lernte ich den Jüngling kennen. Er nannte sich Magnetopath; man erzählte mir, er verfüge über Hellsehergaben, die er zu medizinisch-diagnostischen und manchmal kriminalistischen Zwecken ausnutze, und lebe von Heilungen, die er in wachsendem Maß durch seine magnetischen Behandlungen erziele; im übrigen sei er ein frischer, guter, anständiger Junge. Ich konzentrierte mich nun einen Abend auf ihn und fand dabei, dass H.-B. etwas darstellte, was mir so ausgesprochen noch niemals vorgekommen war: einen ungewöhnlich begabten, klardenkenden, normalen jungen Menschen von lauterem Charakter, der aber gleichzeitig ohne jeden Zweifel über Kräfte und Fähigkeiten verfügte, die zu den am meisten angezweifelten gehören, und dies zwar in einem geradezu verblüffenden Grad. Dabei erwies er sich, soweit ich damals urteilen konnte (Happich ist seither zu anderen Ergebnissen gekommen), als frei von jeder metaphysischen oder okkultistischen Theorie, glaubte er, als Oberbewusstsein, selber kaum an das, was er nachweislich leistete, überschätzte er dieses nicht oder kaum. Im Grunde interessierte er sich nicht einmal für das Ungewöhnliche in sich — er übte es nur aus, wie jeder das tut, was ihm die beste Gelegenheit des Fortkommens sichert. Durch mein unbefangen verstehendes Verhalten gewonnen, wollte H.-B. sogleich als Schüler nach Darmstadt kommen. Ich stellte zur Bedingung, dass er als Gegenleistung seine Anlage wissenschaftlich untersuchen ließe. Gern ging er darauf ein, sobald ihm klar ward, welch schöne Aufgabe es sei, sein Wissen vom Hintersinnlichen und sein ungewöhnliches Können der allgemeinen Erkenntnis zugänglich zu machen. So kam er denn im Januar 1922 nach Darmstadt, wo ihm die Gesellschaft für Freie Philosophie in der Lossenschen Klinik, deren damaliger Direktor Dr. Happich die experimentelle Untersuchung des Falles übernommen hatte, freie Unterkunft überwies.

Die Ergebnisse der Untersuchung, die wir zu mehreren durchführten, lese man bei Happich nach, dessen Studie übrigens weit mehr bietet als ein Referat über den einen besonderen Fall. Allgemeine Betrachtungen über das Verhältnis von Medialität und Künstlertum, welche am Gleichen anknüpfen, wird der Leser im Aufsatz des Grafen Hardenberg finden, vielleicht des kompetentesten lebenden Beurteilers dieser Frage, sintemalen er die polyphonste Künstlerveranlagung, die ich je sah, und zugleich hervorragende mediale Eigenschaften besitzt. Ich persönlich identifiziere mich mit der besonderen Auffassung von keinem der Herren; ich wollte nur alle, die den Fall mit mir in gleicher Grundeinstellung studiert haben und durch ihn zu eigenen Gedanken angeregt wurden, von sich aus zum Wort kommen lassen, auf dass er möglichst vielseitige Beleuchtung erführe. Worauf es mir bei H.-B. ankommt, ist eben nur das Beispiel als solches, die Probe aufs Exempel der vorhergehenden theoretischen Studie. Auch meine Leser bitte ich, auf den besonderen Fall den geringsten, auf das allgemeine Problem, das er versinnbildlicht, den Hauptnachdruck zu legen. Die Versuche, die wir mit H.-B. anstellten, können nicht alle als geglückt oder überzeugend gelten. Es sind schon entscheidendere gemacht worden. Es gibt bedeutsamere Begabungen. Die H.-B.s reicht über die physische Sphäre kaum hinaus. Was er aus dem Jenseits mitteilt, ist an sich weniger interessant, als was mancher nicht okkult, jedoch religiös und metaphysisch Begabte zu künden weiß. Nur ein Versuch darf als solcher auf außerordentliches Interesse Anspruch erheben: die geglückte Wiederholung derjenigen, die Albert de Rochas in seinen Vies successives (Paris, Bibliothèque Chacornac) beschrieben hat. Es gelang auch H.-B., der von solchen Möglichkeiten, wohlgemerkt, nie etwas gehört hatte und vor dem ersten Versuche auch durch uns nichts von ihnen erfuhr, welcher persönlich nicht an Wiederverkörperung glaubt, im Trancezustand kinematographenartig rückläufig durch sein bisheriges Leben und den Mutterleib hindurch bis in das Zwischenreich, von dort in neue Verkörperungen und dies bis in drei solche zurückzuführen. Jeder Versuch ergab genau das gleiche Bild. Ich behaupte nicht, dass die Wiederverkörperung hierdurch erwiesen ist. Aber ich behaupte, dass diese, falls sie besteht, und falls es wirklich ein Gedächtnis gibt, das über dieses Leben hinaus, jedoch in erdferne Zustände nicht hinüberreicht (H.-B. wusste aus dem Zwischenreiche niemals mehr zu berichten als Odysseus vom Hades; außerdem verweilte seine Erinnerung unverhältnismäßig kurz bei diesem Zustande, so dass man den Eindruck gewinnt, sie betreffe gegebenenfalls nur eine kurze Zeit unmittelbar nach dem Tode und vor der Geburt), auf diesem Wege erwiesen werden kann. Denn dann muss sich in jedem Fall, wo die Zurückführung des Gedächtnisses möglich ist, das grundsätzlich gleiche Bild ergeben, und alles käme auf die Häufung der untersuchten Fälle an. — Doch wie gesagt, auch auf diese außerordentlich interessante Aussicht bitte ich meine Leser nicht den Hauptnachdruck zu legen, sondern auf die ungeheueren Möglichkeiten, welche richtige Einstellung zum Okkulten und entsprechend richtige Behandlung der Okkultisten als solche ergeben. Unter anderen psychologischen Voraussetzungen, wie sie hier vorlagen, hätte H.-B. niemals mit sich experimentieren lassen; unter anderen wären die z. T. recht schwierigen Versuche ganz sicher nicht geglückt. Werden nun die entsprechenden Voraussetzungen zum Gemeingut; treten dementsprechend auch höhere Begabungen, als H.-B. sie besitzt, zum Besten der Wissenschaft hervor, dann, aber erst dann, dürfen wir hoffen, über kurz und lang wirklich zu wissen, was es mit den okkulten Phänomenen und Erlebnissen für eine Bewandtnis hat. Mir persönlich hat H.-B., insofern er von den typischen Fehlern des Mediums ungewöhnlich frei ist und in seinen Aussagen, die gegenwärtig Erlebtes, nicht Erinnertes betreffen, durchaus Glauben verdient, die letzten Zweifel darüber genommen, dass es sich beim Okkultisten in des Worts umfassender Bedeutung um eben das handelt, was ich hier vertreten habe: einen besonderen normalen Begabungstypus. Als solcher muss er fortan angesehen werden. Wieviel er im Leben bedeuten mag, ist schwer zu sagen. Die früheren Kulturen, welche sein Dasein von Hause aus als berechtigt und nützlich anerkannten — soviel ich weiß, gehören alle früheren dazu —, sind gewiss nicht schlechter dabei gefahren als wir, die wir seine Vertreter in die Verstecktheit abergläubischer Zirkel verdrängt haben, wo sie nun in Gegensatzstellung zur Welt des Wachbewusstseins operieren. Wahrscheinlich überschätzten jene die Bedeutung okkulten Könnens (vgl. hierzu die hierhergehörigen Betrachtungen im Adyar-Abschnitt meines Reisetagebuchs und auch Happichs Ergebnis bezüglich H.-B.s Diagnostizierungskunst); rein segensreich wird dieses dann erst werden, wenn seine Vertreter durch entsprechendes Training typischerweise dahin gelangen, zwischen ihrem okkulten und normalen Bewusstsein einen festen Zusammenhang herzustellen, wodurch das Verantwortungsbewusstsein sich auf jenes miterstrecken würde. Der heutige Mediale fühlt sich, als normalwaches Wesen, für die Leistungen seines unterbewussten Ich kaum je verantwortlich; sie gehören ihm zum Leben eines anderen; ebendeshalb lügt er so viel. — Doch wie dem auch werde — unter allen Umständen ziemt sich schon heute zweierlei: die gleiche unbedingt positive Einstellung zum Okkultisten wie gegenüber jedem anderen Begabungstypus; und das gleiche vorurteilsfreie Verhältnis zur okkulten Welt wie zur übrigen Natur. Dass es viel mehr Wirkliches gibt, als die heutige Wissenschaft erwiesen hat, darüber besteht kein Zweifel. Gewiss ist gleichfalls, dass das Neue nur dann je in seiner Eigenheit bekannt und erkannt werden wird, wenn man ihm sein Bewusstsein vollkommen öffnet. Ich habe über das Okkulte persönlich gar keine Ansicht; ich warte ab, bis ich zur Einsicht gelange. Einstweilen schließe ich nichts Ungewöhnliches, von dem ich erfahre, als unmöglich aus meinem Bewusstsein aus. Die Berichte der Propheten und Astrologen1 nehme ich als solche in genau der gleichen Einstellung zur Kenntnis, wie die der Historiker und Astronomen. Da die Bedingungen möglichen Urteils noch fehlen, so urteile ich nicht. Doch halte ich für wahrscheinlich, dass die Wissenschaft letzten Endes mehr uralte Behauptungen, das Okkulte betreffend, bestätigt als widerlegt haben wird2.

1 Ich möchte nicht verfehlen, bei dieser Gelegenheit auf das bisher lehrreichste Buch über Astrologie hinzuweisen: Oskar A. H. Schmitz’ Geist der Astrologie, München 1922, Georg Müller Verlag.
2 Vgl. hierzu noch besonders meine Betrachtungen Für und wider die Theosophie in Philosophie als Kunst. — Im Augenblick der Drucklegung kommt mir Wilhelm Haas Problem des Mediumismus (Stuttgart 1923, Julius Püttmann) in die Hand: diese Schrift ist, zumal in ihrer Theorie der Thelästhesie, sehr beachtenswert, obgleich auch ihr die tiefere Problematik des Unbewussten entgeht.
Hermann Keyserling
Das Okkulte · 1923
Von der richtigen Einstellung zum Okkulten
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