Schule des Rades

Hermann Keyserling

Politik, Wirtschaft, Weisheit

Anhang zu Deutschlands wahre politische Mission

Deutschlands Aufgaben im Frieden

Um diese Zeit zu verstehen, muss man an erster Stelle das Phänomen des Bolschewismus ins Auge fassen. Dessen Geist wurzelt viel tiefer, als die meisten ahnen; in ihm tritt nur das in extremer Form zutage, was in irgendeiner bei allen, bewusst oder unbewusst, das Wollen und Handeln lenkt. Die Welt, die uns gebar, hat sich überall als sterbenskrank erwiesen. Übrig bleibt nur mehr, ihren endgültigen Heimgang abzuwarten, sie zu begraben und, sofern man weiterleben kann und will, neu anzufangen. Diesen Prozess versucht der Bolschewismus kinematographenartig zu beschleunigen; er mordet das Sieche kurzerhand, will dann neu aufbauen ohne Rücksicht auf alle Vergangenheit. Solcher Radikalismus bedeutet selbstverständlich Wahnwitz. Aber der Bolschewismus beweist doch große werbende Kraft, weil er grundsätzlich nichts anderes will, als was alle wollen, und sein Programm wegen dessen monumentaler Einfachheit primitiven oder futuristischen Menschen besonders einleuchtet. Alle Maßnahmen, welche die notwendige Entwicklung stark beschleunigen, sind mit dem Bolschewismus wesentlich eines Geistes. Dies gilt nicht zuletzt vom Versailler Friedensvertrag, dessen für ganz Europa mörderische Folgen bald offen zutage liegen werden. Und je mehr die Entwicklung beschleunigt wird, desto mehr erscheint ein Fortleben nur im Sinn von Auferstehung denkbar. In diesem Zusammenhang stellen sich denn die als die wahrscheinlichsten Träger einer besseren Zukunft dar, welchen es im Augenblick am schlechtesten ergeht. Neu anfangen werden alle müssen. Von den alten Werten wird nirgends viel erhalten bleiben. Allen irgendwie im Überkommenen Rückversicherten steht ein examen rigorosissimum bevor. Nur persönliche Initiative, nur eiserne Arbeitskraft wird dieses bestehen. Solche wird in denen, welche bewusst viel oder alles verloren haben, am ehesten groß werden. Während die Sieger, es als unbillig empfindend, dass die Früchte ihres Sieges ihnen vorenthalten bleiben, immer mehr wider den Stachel löcken werden.

Aus diesen Gründen bezeichnet der Tag der Ratifikation des Versailler Friedens mit leidlicher Gewissheit die Schwelle zur deutschesten Periode, die es in Europas Geschichte bisher gegeben hat. Für Deutschlands Zukunft habe ich persönlich nur so lange gebangt, als ein leichter Sieg wahrscheinlich war; da mir die heutige Welt in jedem Falle todgeweiht erschien, so musste ich die momentane Übermacht eines unerneuten, unverwandelten Deutschlands fürchten. Freilich habe ich die Schmach des Zusammenbruchs erst recht nicht begrüßt. Aber in diesem sah ich doch das geringere Übel, weil gerade er auf die Dauer alle die positiven Kräfte mobilisieren würde, die zur Erfüllung von Deutschlands Friedensaufgaben in Frage kommen.

Welches sind diese? In einem Beitrag zum Sammelband Der Leuchter und zwei Broschüren: Deutschlands wahre politische Mission und Was uns not tut, was ich will habe ich die Frage eingehend beantwortet. Das dort schon knapp Zusammengefasste in noch weniger Worten auszusprechen, geht nicht an. Aber die allgemeine Richtung lässt sich gerade mit wenigen am deutlichsten weisen. Es gilt, neu anzufangen. In allem. Für alle. Das Vergangene ist in ganz Europa wo nicht tot, so doch zu Tode getroffen. Das Neue aber, das sich naturnotwendig bildet, muss vom bewussten Geist, auf dass es sich schnell vollende, im Zeichen zweier Programme unterstützt werden: dem der sozialen Reform und dem der Neuverknüpfung von Seele und Geist. In diesen beiden, für die weitere Zukunft entscheidenden Hinsichten sollte und könnte Deutschland führend werden.

Die soziale Reform, auf die es ankommt, wofern die Menschheit sich verjüngen soll, besteht mitnichten in der Verwirklichung des sozialistischen Parteiprogramms, wohl aber in der des von aller Parteiprogrammatik losgelösten sozialistischen Gedankens, der seinem Wesen nach ein nicht weniger allgemeines bedeutet als seinerzeit der christliche: eine zeitgemäße Neufassung des Solidaritätsprinzips in einem dem mittelalterlichen äquivalenten Sinn — dem nämlich, dass es kein subjektives, sondern nur objektives Recht geben soll, sonach kein Recht, das nicht Verpflichtung in sich begriffe. Geht dieser Gedanke nun seiner Verwirklichung entgegen, so wird eben deshalb automatisch der, welcher über Vergangenheit und Gegenwart am meisten Unheil gebracht hat, der natur- und kulturwidrige Gleichheitsgedanke, das Feld räumen. Auf der Grundlage des Ausgleichs alles Ausgleichbaren werden sich dann die Qualitätsunterschiede stärker als je früher geltend machen, weil richtig verstandene Solidarität die gegenseitige Ergänzung des Ungleichen fordert, das sich als solches möglichst auswirken soll. Hier hat das deutsche Volk vor allen anderen Festländern einen natürlichen sowohl als auch einen historischen Vorsprung: das Hierarchische liegt ihm tief im Blut; demokratisch im westlichen Verstand wird es nie werden. So wird es ihm leichter als allen anderen fallen, die neue Schichtung in sich zu erzeugen, welche äußerste Qualitätsausnutzung gewährleistete. Diese letztere schnellstmöglich zu erzielen, soll Deutschlands erste Friedensaufgabe sein. Fortan soll jeder auf den ihm innerlich gebührenden Platz gelangen. Nie wieder darf der untere Durchschnitt zur Führung kommen, noch eine Führerbegabung ungenutzt bleiben. Nicht allein soll jede Gabe eine soziale Pflicht sein — die Gemeinschaft hat ihrerseits zur Pflicht, eine jede zu fördern. Deutschlands sozialistisches Ziel soll darin liegen, dass es zuerst über die Herrschaft der geistigen und moralischen Inkompetenz hinausgelangt und sich in jedem Sinn auf Qualitätsleistung einstellt. Von der Massenherrschaft zur effektiven Aristokratie, zur Herrschaft der wahrhaft Besten — kein anderer ist Deutschlands gottgewollter Zukunftsweg. — Dann aber kommt erst die wesentliche Aufgabe: aus dem Chaos, das die Zersetzung aller ererbten Seelenformen schuf, einen neuen seelischen Kosmos zu gestalten. Man täusche sich nicht: alle ererbten (religiösen, politischen, ethischen) Formen sind historisch tot, keine Reaktion wird sie dauernd wieder aufleben lassen. Das Umsichgreifen des Bolschewismus beweist, dass der Glaube, der allein Seelenformen Bestand sichert, nicht mehr lebt. Der erkennende Geist ist der Seele, die sich zum Teil noch in mittelalterlichen Bindungen auslebte, soweit vorausgeeilt, dass nur, wo seine Anforderungen befriedigt wurden, eine Dauergestalt entstehen kann. Also gilt es heute, den Geist zu vertiefen, aus ihm heraus eine neue Europäerseele zu gebären. Wo sollte dies eher gelingen als in Deutschland, wo die Seele mehr zersetzt ist, der Geist aber zugleich mehr bedeutet als irgendwo sonst, wo mehr Anlass als irgendwo vorliegt, eine Zustandsbesserung anzustreben, und das Volk zugleich das jugendlich tatkräftigste ist? — In Deutschland kann und soll das Entscheidende werden. Und es wird werden. Denn die Jugend lässt sich nicht spotten. Sie fühlt sich zukunftsfroh und stark. Erkennt sie nur den Weg, so wird sie das Ziel nicht verfehlen.

Die kapitalen Aufgaben der neuen Weltepoche, die mit der erfolgten Friedensratifikation ihren gleichsam offiziellen Einzug hält, sind die Heranbildung einer effektiven Aristokratie auf sozialisierter Basis und die Neuverknüpfung von Seele und Geist. Dies sind zugleich Deutschlands vorherbestimmte Aufgaben. Möge es seine ganze Kraft auf diese einstellen, dann ist ihm baldige Führerschaft gewiss. Man wähne ja nicht, dass das Verhängnis, das über ganz Europa hereingebrochen ist, irgendwie aufzuheben oder abzustellen sei: wir stehen nicht am Ausgang, sondern am Eingang einer Periode ungeheurer Gärungen, die vielleicht Jahrhunderte währen wird. Deshalb hat auf Augenblickserfolge abzielende Politik wenig Sinn. Für Deutschland ist es ein Glück, dass es sich aus von ihm unabhängigen Gründen während der nächsten Jahre wird außenpolitisch passiv verhalten müssen: es soll sich bewusst passiv verhalten wollen. Die nächsten äußeren Umwälzungen werden nicht von hier, sondern vom Osten her ihren Ursprung nehmen, wo selbst der Versailler Vertrag noch unhaltbarere Verhältnisse geschaffen hat, als zwischen Weichsel und Rhein. Alle großen, entscheidenden Veränderungen gehen vom Geist aus. Das Politische, das Wirtschaftliche folgt dann nach. Das neunzehnte Jahrhundert war das erste und wahrscheinlich letzte der Menschheitsgeschichte, in welchem materialistische Ideologien dominiert haben. Auf geistigem Gebiet lag von jeher Deutschlands wahre Mission. Stellt es sich mit dem eintretenden Friedenszustand ganz auf diese ein, dann wird die Verheißung Christi, nach welcher dem, der am ersten nach dem Reiche Gottes trachtet, alles Irdische von selbst zufällt, in Deutschland eine wundersame Erfüllung erleben.

Hermann Keyserling
Politik, Wirtschaft, Weisheit · 1922
Anhang zu Deutschlands wahre politische Mission
© 1998- Schule des Rades
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