Schule des Rades

Hermann Keyserling

Politik, Wirtschaft, Weisheit

Anhang zu Deutschlands wahre politische Mission

Von der Bedeutung des Einzelnen

Alle Welt schreit heute in Deutschland nach dem großen Mann; alle Welt beinahe spricht hier in irgendeinem Sinn verächtlich von der Mehrheit der Deutschen. Und wenn ich nicht sehr irre, so verachten überaus viele unter diesen uneingestandenermaßen sich selbst; denn es ist ein Erfahrungssatz, dass man an andern besonders scharf verurteilt, was man bei sich nicht liebt. Hieraus ergibt sich denn mit Naturnotwendigkeit ein unaufhaltsam sich verschlechternder allgemeiner Seelenzustand. Indem man alles vom fehlenden großen Mann erwartet, versäumt man es, an sich selbst hohe Ansprüche zu stellen; indem man schlecht von den andern denkt, macht man sie schlechter, und indem man gleiches sich selbst gegenüber tut, gibt man sich preis. Selbstpreisgabe scheint in der Tat die Parole vieler Deutschen gewesen zu sein: dies vor allem erklärt die heute herrschende Demoralisation, die längst schon solche mitergriffen hat, zu deren Natur sie in keinerlei notwendiger Beziehung steht. — Viel ist an diesem Sachverhalt zweifelsohne die Stellungnahme der anderen Völker schuld. Der psychischen Ansteckung durch den Aberglauben der meisten Erdbewohner haben sich nicht viele erwehren können. Aber die größte Schuld trägt doch ein Missverständnis, das eben im Notschrei nach dem großen Mann zutage tritt.

Als ich während der chinesischen Revolution in Peking weilte und mit den Gestürzten des Kaiserreiches täglichen Umgang pflog, vernahm ich ihrerseits häufig den gleichen Notschrei. Manche meinten dabei: auch uns Europäern täte ein Großer bitter not. Ich verneinte dies für die nächsten zehn Jahre und begründete dieses Urteil durch ein Bismarck-Wort:

Der Mann ist gerade nur so groß wie die Welle, die unter ihm brandet.

Wo war die Welle, in der Tat, die ihn emporgetragen hätte? Sie ist noch heute nicht da, in keinem Land. Noch weht der Taifun; ohne Regel noch Sinn fluten die Wassermassen gegen; und durcheinander; noch wird es eine gute Weile dauern, bis dass eine einheitliche Gesamtrichtung sich durchsetzt. Und früher kann kein großer Mann als solcher wirken.

Zunächst sind die Zeitaufgaben andere. Im Großen Entscheidendes kann gar nicht geschehen. Desto mehr aber kommt es auf Entscheidungen im Kleinen an. Nein, heute bedarf es noch keines großen Manns. Aber jeder Beliebige hat heute eine historisch ebenso wichtige Aufgabe, wie zu anderen Zeiten nur der Held. Deshalb ist es ein Unglück, dass die meisten in Deutschland so gering von sich denken; durch solche Stellungnahme lähmen sie sich Mut und Kraft.

Die Bedeutung des Einzelnen verstehe ich gewiss nicht im Sinn des allgemeinen politischen Mitbestimmungsrechts. Durch dieses äußert sich nicht die Qualität, sondern die Quantität. Ich verstehe sie dahin, dass es, um beim Bilde des sturmbewegten Meeres zu bleiben, von der Eigengerichtetheit der Wasserpartikeln abhängt, welche Gesamtrichtung schließlich erfolgen wird. Wohl bestimmt der Wind im Augenblick das Bild. Aber lässt dieser einmal nach, und das tut er schon, dann gewinnen die tieferen Strömungen die Oberhand. Diese aber resultieren aus dem Zusammenwirken aller einzelnen Wasserteile. Das Bild ist freilich schlecht; doch wer es nicht zerdenkt, wird ohne weiteres verstehen, was ich meine.

Die tiefste Ursache des heutigen Chaos ist nicht außenpolitischer, sondern seelischer Natur. Die Seele jedes Einzelnen in Europa war durch die Vorausentwicklung des Wissens und Könnens gegenüber dem Sein außer Gleichgewicht geraten: überall fehlte schon lange die sichere Eigengerichtetheit; durch die Folgen des Weltkrieges ist dies bloß allgemein sichtbar geworden. Deshalb ist es kein Wunder, dass ein vernünftiger Friede, vernünftig insofern, als er dem realen und dauernden Kräfteverhältnis Rechnung trüge, unerreichbar scheint: überall fehlen die inneren Voraussetzungen dazu. Die Sieger nicht minder wie die Besiegten sind außer Harmonie mit den schöpferischen Kräften des Alls, und wenn die zerstörerischsten Mächte überall am meisten Zukunftsschau bekunden, so beweist dies nur, wie fern wir der möglichen Konsolidierung stehen. Diese kann nicht höher erfolgen, als bis neue Menschen entstanden sind, in bewusster innerer Harmonie mit sich selbst sowohl als mit den Kräften der Zeit.

Dieser neue Mensch ist nicht äußerlich zu produzieren; auch keines Einzelnen großes Beispiel wird ihn erschaffen. Nur insofern jeder Einzelne sich persönlich die Aufgabe stellt, das aus sich zu machen, dessen Nichtdasein die letzte Menschengeneration verdorben hat, kann eine Tiefenumlagerung in der Volksseele erfolgen, und von dieser ausgehend eine neue Tiefenströmung entstehen, die zur Gesundung führt. Das Problem dieser Zeit ist also nicht das des großen Mannes, sondern des beliebigen Einzelnen, der es wahrhaft ernst meint. Uns Heutigen ist versagt, mehr zu vollbringen, als die Erneuerung Europas vorzubereiten; welches Geschlecht die vollendete Tatsache schauen wird, ist noch nicht abzusehen. Heute befinden sich die meisten in der Lage der Jugend, die vom morgenden Tag mit Sicherheit erwartet, was erst in Jahrzehnten werden kann … In dieser Hinsicht müssen wir sehr demütig werden. Desto zuversichtlicher aber in einer andern, welche schließlich für die Weihe des Einzeldaseins einzig in Betracht kommt.

Meinen wir es nur ernst, dann ist der persönliche Erfolg vollkommen gewiss. Freilich nicht der äußerlich sichtbare. Welches Ergebnis vermöchte je den Unendlichkeitsdrang des strebenden Menschen zufriedenzustellen? — Wohl aber der, den jeder Strebende an sich erfährt, dass das Streben als solches eine schöpferische Macht ist, und dass nichts größere Befriedigung gewährt, als das Bewusstsein des Strebenkönnens selbst. Keiner braucht dort stehen zu bleiben, wo er sich befindet; auf jeden Zusammenbruch kann Wiederaufrichtung erfolgen, jeder zeitweilige Rückschritt in desto zielbewussteren Fortschritt umschlagen. Dies hängt einzig von der Intensität des Strebens ab. Deshalb verkennt der seine eigene Seele, der in der Unerreichbarkeit des Endziels einen Grund zur Trauer sieht; deshalb gibt es nur eine einzige unverzeihliche Sünde: die endgültige Verzweiflung. Wer sich preisgibt, verliert damit wirklich den Zusammenhang mit den schöpferischen Mächten des Alls. Wer hingegen zähen Willens durch alle Schicksale hindurch den Zusammenhang festhält, den lässt kein Schicksal fallen. Dies gilt nicht allein vom Bevorzugten, sondern von jedem Menschen.

So ist jeder, der den Sinn der Zeit versteht, heute mehr denn je der Träger einer hohen Sendung. Um sie zu erfüllen, muss er es nur verlernen, nach Führern außer sich auszuschauen, und auf keinen Fall den Glauben an sich verlieren. Wer in sich den Angelpunkt der Welt erkennt, dem ist es gegeben, ob auch jenseits seines Grabs, die schlimmste Vergangenheit in schönste Zukunft überzuleiten. Jeder nun, der bewusst solches anstrebt, ohne Selbstüberschätzung, in tiefster Wahrhaftigkeit, der ist geweiht und darf sein noch so schweres Dasein als sinnvoll und gesegnet empfinden.

Hermann Keyserling
Politik, Wirtschaft, Weisheit · 1922
Anhang zu Deutschlands wahre politische Mission
© 1998- Schule des Rades
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