Schule des Rades

Hermann Keyserling

Politik, Wirtschaft, Weisheit

Anhang zu Deutschlands wahre politische Mission

Volksbewusstsein und Weltbürgertum

Eine der bedeutsamsten allgemeinen Tatsachen, die sich dem nachdenklichen Geschichtsbetrachter aufdrängt, ist die, wie selten die Vorstellungen der Menschen die realen, sie innerlich bewegenden Kräfte spiegeln; dies geht so weit, dass im Großen nur unreflektierte Praktiker, und niemals Ideologen, in ihrem Tun der Ideenwelt zur irdischen Erscheinung verhelfen. Je theoretischer veranlagt ein Volk, desto weniger wirksam erweisen sich nämlich die eigentlich prospektiven Seelenmächte, wie Intuition, Instinkt, initiatorischer Takt, und der seinem Wesen nach mit vorhandenen Tatsachen arbeitende und deshalb rückwärtsschauende Verstand bringt es dahin, dass tatsächlich vorhandenes Zukunftsleben sich im Bewusstsein in Gestalt von Vergangenem offenbart, was die Entwicklung allemal verlangsamt und im Grenzfall, trotz ehrlichen Fortschrittsglaubens, die Reaktion beschwört. So glaubte die französische Revolution eine Epoche des Universalismus einzuleiten, denn das verständige 18. Jahrhundert, dem alle ihre Ideen entstammten, hatte nur von Weltbürgertum geträumt. In Wahrheit aber erwies sie sich als Mutter des Nationalstaats und schließlich des Nationalismus, und sieht man genauer hin, so erkennt man überrascht, dass das universalistische Ideal, welchem sie zu dienen glaubte, in Wahrheit, wenn auch in antiquierter Form, vom Mittelalter, das sie verleugnete, verwirklicht war. — Genau ebenso rückwärtsgerichtet sind die meisten der Vorstellungen, die sich die Menschen von heute, die Zeitgenossen des zweiten Akts des ungeheuren Weltdramas, von dem die französische Revolution den ersten darstellte, über die Zeitströmungen machen. Dies gilt besonders von Deutschland. Die preußisch-konservativen Kreise wähnen vielfach im Zeitalter des Nationalitätenkampfes mitteninne zu stehen, wo wir in Wahrheit aus diesem in eine universalistische Ära hinausmünden; das liberale Bürgertum kämpft weiter für eine Demokratie, die zum besten einer neuen Aristokratie im Sterben begriffen ist ; die Sozialisten betreiben eine Gleichmacherei, die dem Geist nicht des 20., sondern des 18. Jahrhunderts entspricht, und die Kommunisten verkörpern, trotz ihrer Ideale, eine Denkweise, deren letzte historische Vertreter das 16. und 17. Jahrhundert aufwiesen. Je weiter nach links einer steht, so könnte man beinahe sagen, desto weniger decken sich seine Vorstellungen mit den Kräften der Gegenwart, obschon von den Instinkten im ganzen das Gegenteil gilt. Kein Wunder daher, dass der Weg in die schon werdende Zukunft so schwer zu finden scheint.

Ich will hier keine geschichtsphilosophische Abhandlung schreiben. Aber die vorstehenden skizzenhaften Bemerkungen musste ich vorausschicken, um der Behandlung meines eigentlichen Themas einen genügend tiefen Hintergrund zu schaffen. Wir reifen einer neuen Synthese von Volksbewusstsein und Weltbürgertum entgegen, einer von allen früheren verschiedenen. Aber leider sind die Vorstellungen der allermeisten auf diesen Zukunftszustand noch nicht abgestimmt.

In Deutschland hat der Zusammenbruch der nationalen Macht, die aus dem 70er Kriege hervorging, in der Mehrheit des Volks so tiefen Eindruck gemacht, dass diese eine mögliche bessere Zukunft beinahe ausschließlich im Lichte weltbürgerlicher Gesinnung schaut. Und wirklich sind die wichtigsten Kräfte des werdenden neuen Zeitgeists übernationalen Charakters. Gleichviel, was heute die Erscheinung beherrscht: das Solidaritätsgefühl der arbeitenden Massen über alle Staatsgrenzen hinaus wird in der Welt von morgen einen ebenso entscheidenden Machtfaktor darstellen, wie im Mittelalter die christliche Gesinnung. Die annähernd gleichmäßige Überschuldung der Staaten Europas wird auf die Dauer eine ökonomische Zusammenlegung erfordern und die Idee des Völkerbunds am Scheitern ihrer ersten Verwirklichungsversuche nicht sterben, sondern lernend erstarken. Der Pazifismus hat als solcher keine Zukunft, weil er praktisch allzu sehr vom Geist nicht des Mutes, sondern der Feigheit getragen wird, aber ebenso wie die Fehden des Mittelalters durch die Sammlung der Länder in wenigen Händen, und die Kriege zwischen den mächtigeren Kleinstaaten durch deren Aufsaugung in Großstaaten von selber aufhörten, ebenso wird aus dem heutigen Kriegszeitalter mit Gewissheit ein politisch mehr als früher vereinheitlichtes Europa hervorgehen, in dem sich die Frage mancher früher naturgemäßer Kriege nicht mehr stellen kann. Die Universalisten sind also grundsätzlich im Recht. Nur ist ihnen nicht klar, weshalb ein die von Bismarcks Weisheit gesteckten Grenzen sprengender Ausbreitungsdrang auf übermächtigen Widerstand stoßen musste, und sie missverstehen den Sinn ihres richtigen Gefühls, dass das gleiche Schicksal in der heutigen Welt jedem Expansionstrieb über die Staatsgrenzen hinaus winkt. Der wahre Sinn dieses Verhältnisses ist nämlich nicht der, dass das Nationale in der Welt von morgen, dem Geist des 18. Jahrhunderts entsprechend, keine Rolle mehr spielen wird, sondern dass das Selbstbewusstsein aller Völker so groß geworden ist, dass fortan jeder Versuch, fremde zu assimilieren, von vornherein als eitel betrachtet werden muss. Nicht allein wird die Besetzung des Rheinlandes auf die Dauer nicht dem Franzosen, sondern dem Deutschtum zugute kommen: weder wird Polen auch nur Litauen assimilieren, noch Russland, wenn es einmal wiedererstarkt, über den Lebenswillen der kleinen Randvölker zur Tagesordnung übergehen können. Die Sachlage ist also eine völlig andere, als wie die abstrakten Menschheitsgläubigen sie sich zurechtlegen. Wohl gehen wir einem solidarischen Europa entgegen. Aber dieses Ziel setzt zugleich ein starkes Volksbewusstsein aller seiner Teile voraus, ein derart starkes Volksbewusstsein, dass eben deshalb jede Vergewaltigung eines Volks durch andere ausgeschlossen erschiene. Die Anarchie des Völkerlebens verwandelt sich auf genau die gleiche Weise zur gesitteten Gesellschaft, wie dies im Rahmen der einzelnen Gruppen geschieht. Nicht dadurch wird hier die Übermacht des Stärksten und Rohesten durch freie Auswirkungsmöglichkeit für jeden ersetzt, dass die Masse als solche die Rechte jener übernimmt, sondern dass alle einzelnen ihrer Souveränität so weit bewusst werden, dass sie sich unter keinen Umständen mehr vergewaltigen lasen. Der allgemeine Friede setzt höchstes Selbstbewusstsein des Einzelnen voraus: dies gilt von Völkern nicht minder, als von Einzelmenschen. Deshalb bedeutet es einen grundsätzlichen Irrtum, eine ersehnte universalistische Welt durch Dämpfung des Nationalgefühls herbeiführen zu wollen.

Dieser Irrtum spielt im Auslande keine große Rolle; die Siegervölker, so wie die neu zur Staatlichkeit zusammengefassten, begehen zurzeit viel eher den entgegengesetzten Fehler; desto gefahrdrohender tritt er in Deutschland in die Erscheinung. Deshalb scheint es mir Pflicht eines jeden, welcher Deutschlands Wohl will, hier auf die Stärkung des nationalen Gedankens, und zwar in dessen Zukunftsgestaltung, hinzuarbeiten.

In meiner Broschüre Deutschlands wahre politische Mission und manchem Aufsatz seither habe ich auseinandergesetzt, inwiefern der Zusammenbruch des alten Deutschlands die Vorstufe eines neuen, größeren bedeuten kann. Mit der universalistischen und sozialen Gesinnung, die es heute beherrscht, gehört es tatsächlich der Welt von morgen an und marschiert insofern an der Spitze der Zivilisation. Nur müsste ihre Gesinnung durch gleich starkes Nationalgefühl ergänzt werden. Wer sich nicht als Subjekt fühlt, macht sich eben dadurch zum Objekt. Wer nicht für sich selbst eintritt, nicht an sich selbst glaubt, ist nicht bündnisfähig; wem abstrakte Gerechtigkeit vor dem Lebenswillen geht, wird vom Leben überrannt. Niemals kann und wird Deutschland die Rolle im künftigen Europa spielen können, die ihm gebührt, wenn es nicht rechtzeitig erkennt, dass es nur dann zum Besten der Allgemeinheit wirken kann, wenn es sich selbst in seiner Sonderart durchaus bejaht, wenn es nicht ebenso entschlossen sein Recht und seine Würde wahrt, wie solches Tschechen, Litauer und Esten selbstverständlich tun. Ein Volksbewusstsein, das auf Kosten der anderen Völker lebt, hat in der Welt von morgen freilich keinen Raum. Die Eroberermächte von heute werden sich bald enttäuscht sehen, was aber das geschwächte Deutschland betrifft, so könnte es nichts Törichteres tun, als sich vom Augenblickserfolge Clémenceaus geblendet, zum Zweck des Wiederaufstiegs, dessen längst verjährtem Geiste zu verschreiben; nur auf vorweggenommener Zukunftsbasis kann es wiedererstarken. Stellte sich bloß die Alternative zwischen völkerknechtendem Nationalismus und Universalismus, dann wäre dieser unbedingt vorzuziehen. Allein es gibt ein Volksbewusstsein, das nicht minder stark ist, als das, welches das siegreiche Frankreich beseelt, ein geistigeres, wesentlicheres, tieferes Volksbewusstsein — tiefer insofern, als es sich selbst im Zusammenhang der Völker setzt. Dieses allein wird Deutschland wieder hochbringen. Deshalb gilt mein Neujahrswunsch für Deutschland vor allem dem Wiedererstarken seines nationalen Willens. Es muss erkennen, wo die wahre Zukunftsaufgabe liegt: in der Volksbehauptung, nicht Volksverleugnung inmitten der Völkergemeinschaft. Die Welt von morgen wird universalistischen Geistes sein. Aber dieser wird seitens jeder ihrer Glieder, von einem stärkeren Sonderartsbewusstsein und stolz getragen werden, als je zuvor. Versäumt das deutsche Volk es, diesen in sich zu pflegen — und die Gefahr liegt vor —, dann wird es, gemäß Tolstois Prophezeiung, aus der Reihe der historischen Nationen ausscheiden und bloß Material werden für neue Völkergebilde.

Hermann Keyserling
Politik, Wirtschaft, Weisheit · 1922
Anhang zu Deutschlands wahre politische Mission
© 1998- Schule des Rades
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