Schule des Rades

Hermann Keyserling

Politik, Wirtschaft, Weisheit

Wirtschaft und Weisheit

Wirtschaftsführer

Mögen sich die Wirtschaftsführer Deutschlands einmal deutlich ausmalen, was sie heute bedeuten: eben das, und mehr, wie vor dem Zusammenbruch des alten Reichs die Staatsmänner. Nicht immer wird dies in so extremem Maß der Fall sein, wie denn das gleiche Verhältnis unter den aus dem Krieg einigermaßen unversehrt hervorgegangenen Völkern wahrscheinlich nie gleich deutlich in die Erscheinung treten wird (obgleich der Abbau des Staats im Sinne der Bedeutung das allgemeine Charakteristikum der neuen Geschichtsära darstellt); auch Staat und kulturelle Verbände werden, im Verhältnis zum materiellen Wiederaufstieg Deutschlands, an Bedeutung wieder zunehmen, und das Ideal besteht unstreitig darin, dass das Schwergewicht schließlich bei diesen liege. In einer ideal organisierten Menschheit würde der wirtschaftliche Prozess ebenso unmerklich ablaufen, wie bald, hoffentlich, schon der Staatliche, und nur das Kulturelle fesselte die Aufmerksamkeit.1 Aber das ist Zukunftsmusik; zunächst kommen hier nur die freien Wirtschaftsverbände als Träger der Neuschöpfung in Frage, und nicht allein der Neuschöpfung, sondern überhaupt der Erhaltung des Bestehenden, soweit es erhalten werden kann. Diese Umkehrung des Bedeutungsverhältnisses zwischen Staatlichem und Außerstaatlichem trat zum ersten Male öffentlich und gleichsam offiziell in die Erscheinung, als der Stinnes-Konzern durch die engere Verbindung mit Siemens-Schuckert in Bayern Fuß fasste. Damals erfolgte — es war, denke ich, im Frühjahr 1920 — eine Kundmachung der vereinigten Verwaltungen, dass sie von sich aus in der Lage wären, dank der von ihnen kontrollierten materiellen Macht, jede Abspaltung Bayerns unmöglich zu machen. Gleichsinnig beschlossen — ein erster schöner Beweis des politischen Zusammenarbeitens zwischen Arbeitern und Unternehmern — die Vertrauensleute und Betriebsobmänner der Arbeiterschaft der gleichen Werke, jede Abspaltungsbestrebung durch Brikett-, Kohlen- und Kokssperre von sich aus zu verhindern. (Ähnliche Instanzen werden wohl auch über Oberschlesiens Schicksal letztendlich entscheiden.) Zum zweitenmal — und diesesmal im höchsten Grade eindrucksvoll — erwies sich das alte Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaftskörper, dem neuen Zeitgeist entsprechend, umgekehrt, als die Industrie ihre Kredite dem Staate anbot; als also die Privatwirtschaft sich bereit erklärte, den Staat unter gewissen Bedingungen zu erhalten; die seither erfolgte gleichsinnige Anregung, die Eisenbahnen Privatgesellschaften zu übergeben, bedeutet gewiss nur die erste unter vielen folgenden. Nun, wann die damit eingeleitete grundsätzliche Bedeutungsakzentverschiebung zwischen Staat und Wirtschaft ins Stadium unbestrittener Anerkennung tritt, ist schwer vorauszusehen.

Die minder weitsichtigen unter Deutschlands ehemaligen Feinden dürften den Prozess zu verlangsamen trachten, verlangsamen wird ihn ferner Routine und Denkgewohnheit derer selbst, die das größte Interesse an seiner Beschleunigung hätten, vor allem aber der Doktrinarismus der Arbeiterschaft. Die sozialistischen Parteien sind heute die eigentlichen Träger des Staatsmachtsgedankens, denn dank der jüngsten Entwicklung sind Staat und Sozialismus eins, und von Sozialdemokraten ist füglich nicht zu erwarten, dass sie ohne harten Kampf die Macht dessen schmälern lassen, was ihr bisheriges Ideal verkörpert; sie werden es erst tun, wenn die Not sie zur Einsicht zwingt. Trotzdem schreitet der genannte Prozess im stillen unaufhaltsam fort; jeder Einzelne begünstigt ihn, ob er es merkt oder nicht. Kein einigermaßen Einsichtiger zweifelt eben daran, dass der deutsche Staat dem Bankrott entgegengeht, und dies von dem Einzelnen und dem Volk nur insoweit gilt, als diese sich mit dem Staate identifizieren; alle Wirtschaftskörper wissen umgekehrt, dass sie in heutiger Zeit die schlimmsten Krisen überstehen können, sofern sie sich übernational rückversichern — aber auch dann allein.

Alle genügend großen und gut geleiteten sind heute vom Schicksal des deutschen Staates grundsätzlich unabhängig. Staat und Volk sind eben heute schon objektiv dissoziiert, sie können grundsätzlich ohne einander bestehen, wie dies im Mittelalter der Fall war, deshalb stellt sich jeder Lebendige unwillkürlich auf das Neue ein und handelt dementsprechend. Wie sollte er nicht? Der Lebenswille des Volks ist das Primäre; die staatlichen Organisationen sind für das Volk da, nicht umgekehrt, deshalb haftet keines lange an dem, was das Leben hemmt; so wird die zunächst unbewusste innere Einstellung des ganzen deutschen Volks aufs Wirtschaftliche gewiss sehr bald erfolgen, und wo die Einstellung einmal verändert ist, da vermögen die aus früheren herausgeborenen Widerstände nicht mehr viel; das unbewusst Vorhandene ist immer mächtiger als das Bewusste, wo dieses seinen Halt an jenem verloren hat. So wird, kraß ausgedrückt, zunächst das Schiebertum und Drückebergertum dem Staat gegenüber immer allgemeiner werden, bis aus der Illegalität dieser Zeit eine neue Legalität entsteht. So war es immer in ähnlichen Lagen, wird es immer sein, eben weil der Lebenswille das Primäre ist. Die doktrinären Sozialreformer, zurzeit an der Macht, gehen immer energischer dem Privateigentum zu Leibe, die Tatsache verkennend, dass es sich hier um ein Grundbedürfnis der Menschennatur handelt, weshalb es neuerdings sogar der Bolschewismus wieder anerkennt. Gewiss vermögen sie viel; aber was schränken sie tatsächlich ein? Von den Verlusten Einzelner abgesehen — die kommen für das Problem der Völker nicht in Betracht — nicht das Eigentum an sich, sondern eine bestimmte Art, einen bestimmten Aggregatzustand gleichsam seiner. Den Zustand, in dem Immobilbesitz als Normalausdruck von Vermögen galt, kann man den festen Zustand heißen; dieser mag heute, dank seiner leichten Erfassbarkeit, wirklich seinem vorläufigen Ende entgegengehen. Der flüssige Aggregatzustand war der des modernen Kapitalismus — auch der mag unter der ökonomischen Krisis schwerste Einbußen erleiden. Aber der gleichsam gasförmige Aggregatzustand des Besitzes, der immer mehr zur Regel wird in dieser spekulativen Zeit2, ist gar nicht zu erfassen; er wird sich später gewiss, wenn die Atmosphäre sich abgekühlt hat, wieder zu flüssigem und festem zurückbilden. So dass schließlich das Meiste, von der Personenfrage abgesehen3, beim Alten geblieben sein wird. Dieses halb scherzhaft gemeinte Bild führte ich nur deshalb aus, um zu zeigen, wie sehr der Lebenswille die erste und letzte Instanz ist, wie instinktsicher er unter allen Umständen sein Recht behauptet, weshalb das, was von seinem Standpunkt fortdauern muss, was immer von außen her beschlossen werde, fortdauert, und das sich unabwendbar verändert, was, von seinem Standpunkt betrachtet, anders werden muss. Anders werden muss das Bedeutungsverhältnis von Wirtschaft und Staat. Die erste historische Rolle kommt fortan der Wirtschaft zu. Sie wird bald über alle eigentliche Macht verfügen trotz aller Staatseingriffe, da sie schon durchweg einer übernationalen und folglich sehr viel mächtigeren Gemeinschaft angehört. Jetzt nun stellt sich erst die wichtigste Frage: Wenn die Wirtschaft zum wichtigsten Organ der Volksgemeinschaft wird und zu gleicher und womöglich noch größerer Macht gelangt, als seinerzeit der Staat — wird sie es ebenso schlecht machen, wie seinerzeit dieser, oder wird sie rechtzeitig einsehen, worauf es eigentlich ankommt? Alle Anzeichen sprechen dafür, dass die meisten Wirtschaftsführer des Auslands nicht rechtzeitig einsehen, oder doch wenigstens durch ihren überstark gebliebenen Staat verhindert sein werden, ihre Einsicht zu tätigem Ausdruck zu bringen; sie werden also weiter so arbeiten wie der rein eigennützige, unverantwortliche Kapitalismus vor dem Krieg. In diesem Sinne machen sie heute bei der Versklavung Deutschlands und der übrigen Besiegten mit — einer durchaus logischen Folgerung aus der Bedeutungssteigerung des Wirtschaftlichen, die nur den Nachteil hat, in allen sonstigen Hinsichten nicht allein ein Verbrechen, sondern ein Fehler zu sein, weil der neue Zeitsinn verlangt, dass die Wirtschaft politischen Direktiven nicht mehr gehorche. Dementsprechend werden die späten Folgen ihres Vorgehens sein. In Deutschland hingegen besteht die hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Wirtschaftsführer ihre Sache besser machen werden als früher die Staatsmänner, und hier liegt Deutschlands ganz große Zukunftsmöglichkeit.

Doch betrachten wir zunächst den schlimmsten Fall: was erfolgt, wenn die deutschen Wirtschaftsführer nicht rechtzeitig einsehen, worauf es ankommt, wenn sie rein technisch gesinnt bleiben, nicht geistig auf die Höhe ihrer neuen Aufgaben steigen? Nun, dann stehen die schlimmsten Zeiten sicher erst bevor; dann erfolgt ein völliger Zusammenbruch Deutschlands ganz gewiss, wenn vielleicht auch ohne Gewaltsamkeit; denn dann wird der Lebenswille in Selbstmordwillen umschlagen — eine furchtbare Möglichkeit, die das unglückselige Russland von heute illustriert, und die man wohl in seine Rechnung einstellen möge, denn eine Verneinung des Willens zum Leben greift bei Massen, wie das der Krieg schon beweist, viel leichter Platz, als satte Bürger sich dies vorstellen. Um ein Geschehen zu verstehen, muss man mitunter seine fernsten Folgen zuerst bedenken. Zunächst kann leicht auch für die deutsche Wirtschaft eine Konjunktur kommen, die es ihr, wie der Entente schon heute, ermöglicht, von den Arbeitermassen Sklavendienst zu heischen. Die übernational rückversicherten Wirtschaftsführer und -verbände werden bald so mächtig sein, dass sie nicht allein das jeweilige Ausland — für Deutschland kommt hier vor allein Russland in Frage — so auszubeuten in der Lage sein werden, wie die Ostindien-Kompagnie ihrerzeit mit Indien verfuhr, sondern auch das verhungernde Inland. Keine staatliche Macht — die ist gar gering geworden, wird immer geringer werden — vermöchte sie daran zu hindern. Doch dann kommt es, wie gesagt, später desto schlimmer. Das eigentliche Problem des Bolschewismus ist nicht dessen heutiges Schicksal, das früh oder spät ein katastrophales sein wird, sondern das andere Problem, wie die Millionen von Kindern, die während ihrer entscheidenden Jahre Einflüssen ausgesetzt waren, die sie die Grundlagen unseres Kulturbaus verabscheuen ließen, sich als Vierzigjährige gebärden werden; das Grundproblem der deutschen Revolution ist nicht deren äußere Erledigung, denn gar bald werden die Arbeiter wohl, unter dem Druck der Ententeforderungen, die meisten Errungenschaften jener preisgeben müssen, sondern welcher Gesinnung Kinder erwachsen werden im bitter enttäuschten Arbeiter-Elternhaus. Die Geschichte schreitet viel langsamer und stetiger vorwärts als die Meisten glauben. Was wir erlebt haben, war, tief verstanden, der zweite Akt des Dramas, deren erster die Französische Revolution mit den auf sie folgenden Kriegen war; der dritte ist grundsätzlich für die Zeit um 1950 fällig. Bis dahin wird die neue Wirtschaftswelt konsolidiert sein. Konstituiert sich aber diese im Geist des Materialismus, des subjektiven Rechts (nach welchem Besitz nicht Verantwortung, nur Genussmittel ist), der Plutokratie, dann kommt es zu einem Zerschlagen des Zivilisationskörpers, gegen welches das bolschewistische ein Kinderspiel war. Denn der Staat, gegen welchen diese Revolution gerichtet war, ließ doch in jedem, als anerkannter Träger völkischer Ideale, Idealismus anklingen; dem jungen Wirtschaftskörper würden keinerlei günstige Ideenassoziationen zur Stütze. So wird es kommen, wenn die Wirtschaftsführer nicht rechtzeitig verstehen. — Erheben diese sich hingegen innerlich auf die Höhe ihrer neuen Aufgaben, dann kann die neue ökonomisch bestimmte Weltära geschwinder einen wesentlichen Fortschritt einleiten, als irgendeine andersartige dies vermöchte. Karl Marx war schon ein Prophet; die Ökonomie wird wirklich zum entscheidenden Faktor des Völkerlebens. Marx irrte nur (von nationalökonomisch-technischen Fragen abgesehen) erstens, indem er die Vergangenheit nach Kategorien begriff, die jüngst erst zur historischen Geltung gelangen, zweitens, indem er aus dem Bedeutungsprimat des Wirtschaftslebens die Konsequenz materialistischer Geschichtsdeutung zog, drittens und vor allem aber, weil er an die kommende Herrschaft der Massen glaubte. Die herrschen nur in kurzen Konvulsionsperioden, dann treten sie ihre Macht Cäsaren ab, und Wirtschaftscäsaren sind grundsätzlich mächtiger als die politischen, weil sie erstens unfassbarer, vor allem aber augenscheinlich daseinsberechtigt sind. Jeder Betrieb muss zentralisiert sein; hier kann letztlich nur einer entscheiden. Gelangen nun einsichtige und weitblickende Cäsaren zur Herrschaft, dann vermögen sie, eben als Wirtschaftskönige, mehr als alle politischen. Sie sind viel unabhängiger, viel stärker. Und gerade jetzt kommt es auf diese Eigenschaften an. Die Staaten sind bankrott oder auf dem Weg dazu, die Massen durch zu viel Kampf moralisch geschwächt. Mächtige Einzelne an erster Stelle kommen heute, gemäß dem Kontrapunkt der Geschichte, für den Fortschritt in Frage.

1 In diesem Zusammenhang finde ich die Ideen Rudolf Steiners grundsätzlich sehr beachtenswert. Über deren praktische Durchführbarkeit habe ich kein Urteil, finde diesen Punkt auch nicht entscheidend wichtig: liegt Wahrheit im Grundgedanken, so wird sich der Weg zur Verwirklichung schon finden.
2 Viele leben heute, trotz der Geldentwertung, vom Ertrage eines kleineren Vermögens, als solches früher für ihre Bedürfnisse genügt hätte. Die Geldentwertung, welche die Wertpapiere anziehen lässt, schafft, richtig ausgenützt, entsprechend höhere Einnahmen, die nicht ganz irreal sind, weil die Preiserhöhung mit der Entwertung des Geldes zeitlich nicht genau Schritt hält. Trotzdem handelt es sich um imaginären Gewinn, auf der Grundlage eines gasförmig verflüchtigten Vermögens.
3 Auch in dieser Hinsicht erweisen sich die dauernden Verschiebungen auf die Dauer als weniger groß, als man erwarten sollte. Der Proletarier mag verdienen soviel er will — er erspart nichts; unter den heutigen Verhältnissen werden nicht viel mehr Arbeiter zu Kapitalisten als unter den früheren. Kleine polnische Juden, die zeitweilig Millionen erspekulieren, verlieren diese meistens wieder, weil für sie der Besitz großer Summen nichts anderes bedeutet, als es für mich der eines Rembrandt wäre; sie haben keinen Sinn für Besitz als Lebensbasis. Das Umgekehrte gilt für den geborenen Besitzer, weshalb dieser, trotz größter Verluste, zuletzt doch wieder als Besitzer endet. Es entscheiden auch hier psychologische Verhältnisse.
Hermann Keyserling
Politik, Wirtschaft, Weisheit · 1922
Wirtschaft und Weisheit
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