Schule des Rades
Hermann Keyserling
Politik, Wirtschaft, Weisheit
Anhang zu Deutschlands wahre politische Mission
Deutsche Dämmerung
Immer tiefer senkt sich die Dämmerung über das deutsche Land und Volk. Was diesem äußerlich an Üblem widerfährt, findet an einer immer mehr sich selbst zersetzenden Seele ein schreckliches Echo. Der allgemeine Verfall ist schon so groß, dass es wohl verständlich scheint, wenn viele glauben, auf die Dämmerung müsse bald die Nacht folgen … Nichtsdestoweniger halte ich an dem Satze fest, den ich zum Ratifikationstage des Versailler Friedens der Öffentlichkeit zurief: dieser Tag leite mit leidlicher Gewissheit die deutscheste Periode ein, die es in Europas Geschichte bisher gegeben hat. Nicht blinder Glaube gab den Satz mir ein, sondern jener selbe Sinn für das Werden, der mich das Ende der Welt, die uns gebar, seit über einem Jahrzehnt vorauswissen ließ. Der sagt mir heute, dass, falls die Deutschen sich selbst nicht preisgeben, unaufhaltsamer Aufstieg den steilen Absturz ablösen wird. Allerdings durchleben wir eine Dämmerung, die den alten Tag für immer begräbt. Allein geschichtlich stehen wir nicht im nordischen Herbst, der in die Todesnacht des Winters hinabführt: wir stehen im nordischen Frühling. Bald wird das Abendrot ins Morgenrot überfließen.
Die Herrlichkeit, die zerbrach, war untergangsreif. Nie hätte der Herbst 1918 ein so klägliches Schauspiel einleiten können, wenn der heute offenbare innere Zustand nicht längst bestanden hätte; vorher erschien er nur durch äußerlichen Panzer verhüllt. Drum jammere man auch nicht über Schicksalsungerechtigkeit. Vielmehr erhebe man sein Herz an der Wahrheit: nie, seit biblischen Tagen, waltete Schicksal so gerecht, wie während dieses Kriegs. Was innerlich morsch oder mürbe ist, verdirbt überall; nur das innerlich Feste, Lebendige, deshalb Wachstums- und Wandlungsfähige hat Bestand. Der Weltkrieg ist ja noch lange nicht vorüber. Trotzdem wir dem gerechten Kräfteausgleich in diesem Augenblick ferner stehen denn je, erscheint heute schon gewiss, dass nichts Lebenverdienendes unwiderbringlieh hin ist und kein für die Dauer bestimmter Aufstieg ungerechtfertigt. Dies anzuerkennen, fällt Deutschen nicht gerade leicht. Allein die kosmische Gerechtigkeit kennt weder Mitleid noch Partei; sie beurteilt die Völker ausschließlich nach deren Fähigkeit an sich, sich zu behaupten. Keinen äußerlichen Billigkeitserwägungen leiht sie Ohr. Wo Verstand, Ausdauer, Können, Mut versagen, dort bricht sie den Stab. Wer wollte behaupten, dass jene inneren Eigenschaften, auf die allein es ankam, weil ihnen allein auf die Dauer die äußeren Machtmittel dienstbar sind, in Deutschland genügend vorhanden gewesen wären? Zuerst versagte der Verstand, sodann der Charakter. Seit 1918 hat sich Deutschland willentlich preisgegeben. So bestand für die Vorsehung keinerlei Grund, ihm beizustehen.
Und doch hat die gleiche Vorsehung schon alles dazu vorbereitet, damit Deutschland, sobald es innerlich dazu heranreifte, höher hinanstiege denn je. An geschichtlichen Wendepunkten entscheiden ideelle Mächte. Weshalb siegte die Entente? Weil sie es verstanden hatte, durch ihre proklamierte Ideologie der meisten Massen Sehnsucht — auch innerhalb Deutschlands — als Wasser auf ihre Mühle zu leiten, welche Sehnsucht dann in einer immer weitergreifenden Koalition ihren äußeren Ausdruck fand. Noch heute hat die Entente über Deutschland nur deshalb Macht, weil ein erheblicher Teil seiner im Köhlerglauben an deren Recht
verharrt. Wäre unsere Arbeiterschaft einig in der Ablehnung ihrer Forderungen, gegebenenfalls, gleich ihrer Zeit den Serben, todesbereit, jene vermöchte über Deutschland schon heute nichts, denn zum Kampf gegen Arbeiter ersteht in ganz Europa, wie Russlands Beispiel erweist, kein Millionenheer. Der Glaube an die Entente-Ideologie, durch zu viel Tatsachen enttäuscht, kann heute nun überall, auch innerhalb ihres eigensten Bereichs, als sterbend gelten. Seit 1918 hat die Entente nämlich alle Fehler, die die Zentralmächte zuerst begingen, wiederholt; sie hat den Grundkräften des Zeitgeistes konsequent zuwidergehandelt. So sind die moralischen Imponderabilien, die jener zuerst die Vorzugsstellung gaben, auf diese übergegangen.
Und da noch kein Ausgleich erfolgt ist, so stehen wir wieder dort, wie 1914, nur heute mit umgekehrten Vorzeichen gleichsam. Es bildet sich eine Liga der Sympathie, mit der Spitze gegen die gerichtet, denen heute Macht vor Recht geht, an der bald alle Völker teilnehmen werden, die sich, und sei’s auch nur aus Valutagründen, ausgebeutet fühlen. Zum Herzen dieser Liga wird notwendig das Land werden, das die neuen Ideale am ernsthaftesten zu verwirklichen strebt. Hierzu ist Deutschland von der Vorsehung ausersehen. Diese hat, indem sie seinen Feinden übermäßigen Sieg gewährte und sie sodann mit Blindheit schlug, alles ihrige dazu getan, damit auf den Niederbruch ein Wiederaufstieg folge. Allein mehr, als äußerlich den Weg bereiten, vermag sie nicht. Beschreiten müssen die Deutschen diesen selbst.
Werden sie’s tun? — An der guten Absicht ist nicht zu zweifeln. Allein durch Absichten allein wird leider nichts erreicht. Deutschlands Niederlage hat nicht allein den immerhin äußerlichen Grund, dass es die bewegenden Zeitkräfte nicht erkannt hatte: es war von diesen innerlich nicht ergriffen, und dies deshalb, weil der deutsche Mensch der letzten Jahrzehnte überhaupt von nichts innerlich ergriffen war. Im Rahmen allzu schnell erlangter Macht hatte er sich vollkommen veräußerlicht. Er stand tief unter seinen Institutionen. Äußerlich reich und stark, war er doch wesentlich ohnmächtig geworden, denn den Zusammenhang mit seiner Seele hatte er verloren. Deshalb gebrach es ihm so sehr an Werbekraft, auch wo er Besseres als alle anderen wollte. Deshalb war er zu einer Führerstellung wirklich nicht reif. Keiner kann Ideale verwirklichen, der sie nicht persönlich verkörpert. Wer das nicht ist, was er vertritt, findet keine Gefolgschaft. Deshalb hängt Deutschlands Auserwähltheit, bei aller Berufenheit, letztlich davon ab, dass seine Söhne andere, tiefere Menschen werden. Das Problem von Deutschlands Wiederaufrichtung ist in erster Linie kein völkisches, sondern ein persönliches.
Dass Deutschland seit 1570 den Kontakt mit seiner Seele so ganz verloren hatte, lag daran, dass der typisch deutsche Fehler, das Innerliche in die Vorstellungswelt hinauszustellen, wo es nun ein selbständiges Eigenleben, ohne Zusammenhang mit dem persönlichen Wesen, führt, seither ins Ungeheure herangewachsen war. Die meisten Deutschen lebten überhaupt nicht mehr aus sich heraus, sie hatten sich selbst zu Werkzeugen von Abstraktionen herabgewürdigt. Mechanisch taten sie ihre Pflicht, ohne je zu fragen, was ihnen wesentlich Pflicht sei, funktionierten urteilslos im Rahmen irgendeiner Organisation, standen blind und feig dem gerade Anerkannten zu Dienst, kurz, begnügten sich dabei, in irgendeinem Betriebe Räder zu sein. Kein Wunder daher, dass Deutschland, sobald seine bestehende Organisation zerfiel, zu einem moralischen Chaos auseinanderfloß. Nur wenige wussten ja überhaupt, was Selbstverantwortung heißt, die überwältigende Mehrheit erwartete die letzte Entscheidung nie von sich, sondern von Systemen, Programmen oder anderen Menschen. Damit hatte sie sich willentlich subaltern gemacht, zur Beherrschtheit durch Selbstgegründetere selbst verurteilt. Wie sollen so beschaffene Menschen das Reich erneuern? Bessere Programme, die sie aufstellen mögen, machen sie persönlich nicht überlegener; die Seele als Programm
bewirkt nichts Besseres, als das des Schiebergewinns. Auch große Einzelne bedingen keine Besserung des Volkszustandes; Bismarcks tragisches Beispiel beweist, wie zielsicher groß Erschaffenes durch solche, die ihm nicht gewachsen sind, verdorben wird. Freilich kommt es auf Führerschaft an; wo es sich aber um Volkserneuerung handelt, stellt die Frage sich nicht äußerlich, sondern innerlich: in jedem Einzelnen lebt ein schöpferisch Führendes und ein Subalternes jeder Einzelne muss zunächst in sich erreichen, was er fürs Volk anstrebt: nur so wird aus einer Knechtsherde ein Führervolk. Nur so wird ein Volk überhaupt frei. Und solange die Einzelnen nicht wissen, was zum Führen gehört, werden sie auch die wahren Volksführer nie erkennen, sondern sich nach wie vor durch Äußerliches, wie Fachkenntnisse, Rang oder Parteizugehörigkeit beirren und verführen lassen. So ist denn das Problem Deutschlands Erneuerung
durchaus ein persönliches. Jeder Einzelne schichte sich zunächst selbst von der Äußerlichkeit zur Innerlichkeit um. Er trachte zum persönlichen Verkörperer dessen zu werden, was er fürs Ganze als Ideal erstrebt. Und wie von selbst wird das Volk erneuert dastehen.
Dann wird in Erfüllung gehen, was die Vorsehung mit Deutschland vorhat, was dessen eigener Instinkt ihm 1914 eingab, was aber wesentliches Versagen bisher vereitelte. Wenn wir nur wollen, so ist die Abenddämmerung, die wir durchleben, baldigen Morgenrots Gewähr. Nicht von Einzelnen im Sinne großer Führer, sondern von jedem Einzelnen hängt dies ab. So beginne denn jeder, wenn er ans Volk denkt, bei sich selbst. Erkenntnis weist den Weg.