Schule des Rades

Hermann Keyserling

Politik, Wirtschaft, Weisheit

Anhang zu Deutschlands wahre politische Mission

Die neue Weltkrisis

Ob viele sich dessen bewusst sind, dass wir nicht am Ende, sondern, wenn nicht am Anfang, so doch schwerlich schon in der Mittelperiode des Weltkrieges stehen? — Es hat für den Philosophen etwas wahrhaft Erschütterndes, zu beobachten, wie sehr die Menschheit zu kritischen Zeiten zugunsten des blinden Schicksals, wie die Griechen es verstanden, abdankt. Frei sind wir überhaupt nur in seltenen, gleichsam inspirierten Augenblicken, obschon wir es immer sein könnten. Kaum ist ein Entschluss gefasst, eine Richtung eingeschlagen, so überlassen wir uns willenlos deren innerer Logik, die aus dem Menschentreiben ein nahezu ebenso mechanisches macht, wie das Kreisen der Himmelskörper. Und keine Zeit illustriert diese Wahrheit mit so karikaturhafter Deutlichkeit, wie die der letzten sechs Jahre. Schon die Schuld am Kriege trägt hauptsächlich Gedankenlosigkeit und Initiativemangel, denn sehr wohl war er zu vermeiden. Die leitenden Männer von damals haben es nicht verstanden, den hochgespannten Kräften eine andere Auslösung zu weisen, als deren eigene Natur verlangte. Seither ist aber allerseits ein Mangel an Geistigkeit in die Erscheinung getreten, wie vielleicht nie vorher. Nie und nirgends ist mehr geschehen, als die mechanischen Folgerungen aus dem zu ziehen, was der jeweilige mechanische Gleichgewichtszustand verlangte. So konnte es nicht ausbleiben, dass der Weg der Geschichte sich im Verlauf der Ereignisse auf unerhörte Weise dem Weg der Natur, das heißt dem Kreislauf, genähert hat. Alle Fehler, welche die Zentralmächte zuerst begingen, wurden seitens der Entente wiederholt; die moralischen Imponderabilien, welche zuerst dieser eine Vorzugsstellung gaben, sind langsam auf jene übergegangen; und da bisher keinerlei Ausgleich erfolgt ist — denn erst gelöste geistig-seelische Probleme erteilen den blinden Kräften einen neuen Sinn —, so stehen wir heute, nur mit umgekehrten Vorzeichen gleichsam genau dort wie 1914: ein neues Weltgewitter ist im Anzug und, trotz dem Umstande, dass es sich dieses Mal schwerlich auf einmal entladen und an vielen Orten überhaupt nicht zu unmittelbaren Brandschäden führen wird, wahrscheinlich ein noch verderblicheres, als es das jüngst verzogene war, denn Europa ist viel mehr außer Gleichgewicht als dazumal, und viel größere und zugleich blindere Kräfte sind im Spiel. Von 1914 bis 1920 sind eigentlich nur Ursachen in die Welt gesetzt worden, durch Zerstörung der überkommenen Harmonie. Nun beginnt die Periode der Wirkungen und die muss furchtbar ausfallen, weil niemand mehr viel zu verlieren hat und Verzweiflung die gewaltigste Triebkraft ist. Es ist lächerlich, die Erschöpfung als wichtigen Faktor in die politische Rechnung einzustellen: gerade erschöpfte Völker sind übermenschlicher Leistung fähig. Vom ersten Balkankriege ab war Serbien rechnungsmäßig erschöpft und wird doch voraussichtlich noch häufig zu den Waffen greifen. Russland aber, das nicht allein erschöpft, sondern nach dem Urteil aller Sachverständigen erledigt ist, beweist eine Stoßkraft, die selbst dann, wenn sie bereits erlahmt sein sollte, in der Übertragung genügen dürfte, um das stümperhafte Kartenhaus von Versailles auf dem ganzen Umkreis dieses Planeten zu Fall zu bringen.

In diesem grandiosen Prozess bezeichnet das Jahr 1920, aller Wahrscheinlichkeit nach, die Krisis. Äußerlich erweisen dies die immer mehr zunehmende Unsicherheit der Verhältnisse im Osten und Südosten, die neue Lage in Italien, der sich stetig zuspitzende Konflikt in der englischen und amerikanischen Industrie; hier bedeuten alle Konsolidierungsanzeichen nur Atempausen. Aber wie dem auch sei: auf das Äußerliche, die augenblicklichen Machtverhältnisse, sogar deren nächstwahrscheinliche Verschiebungsrichtung kommt es letztlich am wenigsten an. Nicht Tatsachen, sondern Symbole als Kraftzentren machen Geschichte. Die Entente trug über Deutschland den Sieg davon, weil sie es verstanden hatte, durch ihre anfangs proklamierte Ideologie die Sehnsucht der meisten Massen als Wasser auf ihre Mühle zu leiten, welche Sehn, sucht dann in einer immer weitergreifenden Koalition ihren äußeren Ausdruck fand. Noch heute hat sie über Deutschland eigentlich nur deshalb Macht, weil ein großer Teil von dessen Massen im Köhlerglauben an deren Recht verharrt. Wäre die deutsche Arbeiterschaft einig in der Ablehnung ihrer Forderungen, jene vermöchte über Deutschland nicht das mindeste mehr, denn zum Kampf gegen Arbeiter ersteht heute in ganz Europa, wie das Beispiel Russlands beweist, kein Millionenheer. Der Glaube an die Entente-Ideologie kann aber heute überall, auch innerhalb ihres eigensten Bereichs, als tot oder sterbend gelten und dieses desto mehr, als ihre moralische Erbin, die räterussische, es sich von vornherein hat angelegen sein lassen, die herrschenden Klassen Englands und vor allem Frankreichs als die Feinde einer besseren Zukunft hinzustellen. Schon heute kann man sagen, dass die russische Ideologie die wahre moralische Macht Europas ist, und da die materiellen Mächte auf die Dauer immer nur die Ausdrucksformen jener sind, da ferner der moralische Umbruch, wenn man so sagen darf, eben in diesem Jahr erfolgt ist, so erweist sich hieraus noch einmal, dass das Jahr 1920 vor allem als kritisch anzusehen ist.

Hierher rührt des Bolschewismus ungeheure Macht. Diese ruht auf symbolischer, nicht auf faktischer Grundlage, deshalb können die schlimmsten Tatsachen, von katastrophalen Niederlagen an der Front bis zu ausrottender Hungersnot daheim, ihr so wenig an haben. Keine Waffengewalt wird den Bolschewismus je erledigen. Gewiss mag Russland von heute auf morgen Farbe wechseln, aber die Ideen werden dann anderweitig weiterwirken und dank der gehabten Erfahrung in wachsend gefährlicher Gestalt. Der italienische Bolschewismus bedeutet, gerade weil er voraussichtlich zu einem lebensfähigen Kompromiss führen wird, für das Traditionelle die viel größere Gefahr, als der moskowitische, denn auf diesen muss irgendeine Reaktion erfolgen, weil selbst die duldungsfreudige russische Masse eine auf die Trägheit der Menschennatur gar keine Rücksicht nehmende Zwingherrschaft seitens fanatischer Asketen (denn das sind Lenin und seine bedeutendsten Mitarbeiter) nicht dauernd ertragen wird; auf jenen nicht. Noch gefährlicher ist die so wunderbar besonnene englische Arbeiterbewegung. Alle diese Bewegungen, mögen sie sich in concreto noch so verschieden darstellen, sind wesentlich russischen Geistes. Man sollte doch endlich, auch in Deutschland, gelernt haben, dass Buchstabenglaube, wo es sich um Massenideologien handelt, das Wesen nicht trifft, und auf dieses allein seine Berechnungen einstellen. Kein Mensch kann behaupten, dass die Ententepolitik jemals den proklamierten Idealen gemäß gewesen wäre; seit dem Herbst 1918 hat sie diesen sogar konsequent und offen zuwidergehandelt — und doch beruht ihre Macht noch eben vor allem auf dem Glauben daran, dass sie die Ideale tragt. Ebenso unwichtig ist es in diesem Zusammenhang, was in Räte-Russland tatsächlich geschieht. Der ursprüngliche Bolschewismus wird die Welt ganz sicher nicht erobern — im Gegenteil, aller Voraussicht nach hat das unglückliche Russland diesen, durch sein Leiden, dem übrigen Europa erspart. Schon daheim macht er eine unaufhaltsame Metamorphose durch, und je mehr seine Macht auf dem Glauben anderer beruht, das heißt, je weiter von seinem eigentlichen Herd, desto mehr gibt das konkrete Wollen dieser dem Symbol seinen jeweiligen Inhalt. Die sich zu Moskau bekennenden Inder und Ostasiaten sind in Wahrheit alles, nur keine orthodoxen Bolschewisten. Wozu sich der Bolschewismus in Europa voraussichtlich am Ende verwandeln wird, darüber lese man Harald von Hoerschelmanns überaus scharfsinnige und tiefblickende Broschüre Person und Gemeinschaft (Jena 1919, Eugen Diederichs) nach. Es kommt eben nicht auf das Programm, sondern das Kraftzentrum an, und dieses lebt und wächst im Fall des terroristischen Räterusslands genau dank demselben Glauben, der die ersten Kriegsjahre hindurch der gewalttätigen Entente zugute kam: dass Moskau der Mehrheit Befreiung bringt. Dieser Glaube wird bestehen bleiben, auch wenn Moskau als solches durch Unfähigkeit zu rechtzeitigem Einlenken aufhören sollte, sein Brennpunkt zu sein. Dann wird sich der Glaube einen neuen Gegenstand suchen. Aber als solcher wird er die Macht unzweifelhaft behaupten und nicht früher aufhören, Europas Schicksal letztlich zu bestimmen, als bis die Mächte endgültig niedergerungen sind, die ihn, als Gegenbild, den Massen immer wieder als Wahrzeichen besserer Zukunft ins Bewusstsein zurückrufen.

Deshalb könnte nichts törichter sein, als während dieser neuen Krisis noch einmal auf die Reaktion als Macht zu setzen, selbst wo es sich um die intakte des militaristischen Frankreichs handelt. Ideen tragen viel weiter, als Kanonen. Auf diese kommt es letztlich am allerwenigsten an. Sie wachsen gleichsam von selbst, wo es wollende Menschen gibt. Das Jahr 1920 bezeichnet, des bin ich gewiss, gleichsam die Wasserscheide zwischen dem historischen Gefälle — dem alten Westen und dem neuen Osten zu. Bald wird wieder, genau wie 1914, aus pazifistischer Grundstimmung eine Periode des Heroismus geboren sein. Das Endergebnis dieses Kriegszeitalters ist nicht vorauszusehen. Die schon erfolgten und wahrscheinlich weiter erfolgenden Verschiebungen sind so groß, dass man im ganzen weniger auf den Fortbestand der bisherigen als die Erschaffung neuer Völkergebilde wird zu rechnen haben. Wie die Entente-Ideologie sich trotz allen Regierungswillens doch bis zu einem gewissen Grade in der Erscheinung verwirklicht hat, so wird sehr, sehr vieles vom Ideengehalt des Bolschewismus das fernere Schicksal unseres Kontinents bestimmen. Aber damit es zu diesem im guten komme, muss der Bolschewismus als solcher in seiner Moskauer Gestaltung unbedingt von Europa ferngehalten werden. Aus Zerstörung an sich geht niemals neues Leben hervor. Darum mögen sich die Regierenden dieses Jahres, denen das sich neu zusammenballende Kräftegebilde schwerlich entgeht, davor hüten, aus diesem Umstand, gleich ihren unglückseligen Vorgängern vom Jahre 1914, nur mechanische Konsequenzen zu ziehen: damit jagten sie Europa in den Tod. Sie mögen vielmehr die neuen Kräfte dazu benutzen, um ihre Völker in weiser Voraussicht einer besseren Zukunft entgegenzuführen. Vermittelst aller Kräfte vermag der echte Staatsmann Gewolltes zu erreichen. Mögen die heute wirksamen zunächst nur auf Umsturz gerichtet sein — erstens sind es die einzigen realen Mächte, auf die für längere Dauer zu rechnen ist, dann aber ist es, bei genügendem Geschick, immer möglich, das anfänglich Zerstörerische auf Aufbau umzulenken. Jenseits dessen, was sich heute Bolschewismus nennt, winkt eine wahrscheinlich vollkommenere Wiedergeburt der alten Ordnung. Diesseits gähnen nur mehr Gräber…

Hermann Keyserling
Politik, Wirtschaft, Weisheit · 1922
Anhang zu Deutschlands wahre politische Mission
© 1998- Schule des Rades
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