Schule des Rades
Hermann Keyserling
Politik, Wirtschaft, Weisheit
Anhang zu Deutschlands wahre politische Mission
Aufschwung
Die meisten Deutschen bemerken am deutschen Zustand von heute nur die Zeichen des Verfalls; und freilich lässt sich mühelos beweisen, dass alles so schlecht als nur irgend möglich steht! Doch habe ich noch keinen urteilsfähigen Ausländer, vom furchtbesessenen Franzosen his zum scharfäugigen Bewohner der neuen Oststaaten, gesehen, der nicht selbstverständlich mit dem baldigen Wiederaufstieg Deutschlands rechnete. Sicher sieht das Ausland auch dieses Mal klarer. Wie es im Kriege von vornherein seine Kraft richtiger einschätzte, als hier geschah, so sieht es jetzt weiter in die Zukunft voraus.
Es kommt eben nicht darauf an, welche Tatsachen im Augenblick vorliegen, sondern welche Kraft, welche Bewegtheit ein Volk verkörpert; die Tatsachen ändern sich dieser gemäß. Nun besteht für mich kein Zweifel, dass nicht der Niederbruch von 1918-20, sondern der Aufschwung von 1914 für Deutschlands Wesen als Symbol zu gelten hat. Dass dieser zu keiner dauernden Erhöhung führte, liegt daran, dass der Deutsche sich damals, wie so oft, als blinder Held erwies. Blindes Heldentum muss tragisch enden in einer sehenden Welt. Allein Völker als solche sterben nicht, wo sie nicht ausgerottet werden, und ihre Grundeigenschaften bleiben die gleichen, trotz aller zeitweiligen Gleichgewichtsstörungen. Wer hätte gedacht, dass nach der Ablieferung des meisten Eisenbahnmaterials im Jahre 19 der Verkehr ein Jahr später für Laienaugen beinahe seinen Normalzustand wieder erreicht haben würde, und dies trotz Streiks und Rohstoffbeschaffungsschwierigkeit? — Der deutsche Techniker, der deutsche Arbeiter ist eben der gleiche geblieben. Vor fünfzig Jahren bestand der deutsche Reichtum noch nicht. Niemand mache mir weis, dass er nach weiteren fünfzig Jahren nicht wiedererstanden sein wird.
Doch ich will hier nicht von Äußerlichem reden: was mich immer mehr beeindruckt, ist der ungeheure Reichtum des geistigen Lebens, der auf dem Untergrund des materiellen Elends ähnlich scharf in die Augen fällt wie der Frühlingsflor auf kargem, nordischem Wiesengelände. Der deutsche Geist ist übermäßig zersplittert, gewiss, es fehlt an jeder bewussten Einheitsfront. Aber seine Gestaltungen sind andrerseits so reich, und jede einzelne dieser ist so vital, dass, wenn man alle anderen Länder Europas zusammenlegte und auf Gleiches hin durchsiebte, das Ergebnis wahrscheinlich die Vorzugsstellung Deutschlands erweisen würde. Hier sprießt geistiger Trieb auf Trieb hervor; jeder findet unzählige Förderer. Und das Beste dabei ist, dass es sich bei den Meisten um solche jugendlichen Charakters handelt. Die ganze Vielfarbigkeit des Mittelalters erlebt im Rahmen der Jugendbewegung eine Wiedergeburt. Soviel an Altem verfällt — schon heute kann man sagen: Deutschland ist ein wesentlich junges und jugendbestimmtes Land. Viele merken das nicht, weil das Alter noch das offizielle Wort führt; dieses fühlt sich vor allem geschlagen, und tut recht damit. Aber in einer sich unaufhaltsam verjüngenden Welt bedeutet es nichts. Es mag bejammern, beweisen, soviel es will: der Blick der Jugend ist einzig vorwärts gerichtet, und dies mit Zuversicht.
Freilich geht die Jugend heute noch vielfach irre, aber auch hier kommt es nicht auf die jeweiligen Tatsachen an, sondern die Kraft, die in ihnen und durch sie zum Ausdruck kommt. Sie wird Fehler begehen, bis dass sie weise wird: wer nichts wagt, kommt niemals weiter. Der größte Fehler aller deutschen Beurteiler Deutschlands ist ihre Kurzsichtigkeit. Gibt es denn immer noch gescheite Leute, die nicht begriffen haben, dass wir eine Wende durchleben, wie es seit bald zweitausend Jahren keine entscheidendere gab? Die alte Welt geht zugrunde. Weine ihr nach, wer mag — alle möglichen positiven Ziele gehören der neuentstehenden an. Dieser können nur solche dienen, die ihr schon innerlich angehören. Von wem dies aber gilt, der ist eben damit der Last der Vergangenheit enthoben; der will ja gar nicht erhalten oder wiedergewinnen, sondern neuschaffen. Neuschaffen
ist nun des ganzen strebenden Deutschlands Leitmotiv, auch wo sein bewusster Blick noch rückwärts gewandt ist. Deshalb breche zusammen, was will — die Zukunft ist sein. Der Geist von 1914, der damals freilich todgeweihtes Altes gewaltsam auftrieb, steht dafür Gewähr.
Tatsachenbefangene mögen mich wieder einen Optimisten schelten oder mir vorwerfen, ich sähe die Gefahren nicht. Freilich sehe ich sie; jeder mag, so er will, seinem glücklichen Schicksal entrinnen. Aber ich weiß ein Wichtigeres: nur Zuversicht führt zum Sieg. An Bekrittlern und Miesmachern fehlt es in Deutschland nicht — woran es fehlt, sind solche, die von erschauter besserer Zukunft aus die Gegenwart zu beleben und zu lenken wissen. Ich bin Deutschlands erneuter Größe ebenso sicher, wie ich schon vor dem Krieg, mit Bismarck darin eins, fest überzeugt war, dass es sich beim wilhelminischen um einen Koloß mit tönernen Füßen handelte — weil ich als Denker nicht Ideolog, sondern Realpolitiker bin, darauf bedacht, die Grundkräfte richtig zu erkennen und einzuschätzen. Diese gehören allemal, in Bismarcks Sprache ausgedrückt, den imponderablen
an, sie sind seelischen und geistigen Geblüts; die materielle Macht ist auf die Dauer immer nur ihr Ausdruck, nie ihre Grundlage; nichts beweist drastischer den Mangel in realpolitischem Blick als die Vorzugsbewertung jener. Konnte Englands Größe bestehen, wenn sein Geist sich nicht als wesentlich werbend erwiese? Hätte die Goldwährung irgendeinen Halt, wenn eine Mehrheit an den Wert des Goldes nicht mehr glaubte? — Die geistig seelischen Mächte sind die realsten von allen; wer diese erfasst, der mag, ohne Prophet zu sein, mit großer Sicherheit die konkreten Möglichkeiten der Zukunft, trotz aller Gegenwart, voraus erkennen. Heute erscheint nun gewiss, dass wir in einem Zeitalter der Verjüngung leben; folglich bedeutet das Ende des Alten nicht viel. Heute gilt es in erster Linie, neue Werte in die Welt zu setzen; da entscheiden Initiative, Energie und Zukunftsschau, an der Entwertung des Alten liegt nicht viel. Heute bildet sich neuer Geist dem alten Europa ein; da hat der offenbar den realen Vorsprung, der jenen zuerst ergriff.
Hier kann ich die konkreten Verhältnisse nicht näher darlegen. Nur soviel sei noch zum Trost derer, die der Vergangenheit nachtrauern, gesagt: das Neue wird dem Alten in Deutschland nicht gar so unähnlich sehen, am unähnlichsten vielmehr dem Zustand des gegenwärtigen Frankreich. Zunächst findet ein examen rigorosum jedes Einzelnen statt. Es ist ja nur gerecht, dass alle traditionellen Rechte von Zeit zu Zeit auf ihre Gemäßheit dem Leben gegenüber geprüft werden: dadurch wird die Naturgemäßheit der überkommenen Schichtung, die durch die Unsicherheit der Vererbung auf die Dauer unabwendbar eine gefährliche Beeinträchtigung erfährt, dank dem Abstieg der Unfähigen und dem persönlichen Wiederaufstieg oder Neuaufstieg der Fähigen, wiederhergestellt. Mögen noch so viele Einzelne schuldlos untergehen — dies geschieht auch im Krieg — im großen passiert es nicht oft, dass die Wertvollen das Examen nicht beständen. Diese aber werden mit Selbstverständlichkeit am letzten Höhepunkt der deutschen Geschichte wieder anknüpfen. Es ist lächerlich, zu glauben, dass die Zukunft der Verkörperer von Deutschlands Schmach in Ehren gedenken werde, oder auch derer, die den Zusammenbruch vorbereiteten. Die Zukunft wird unmittelbar wieder an Bismarck anknüpfen. Sie wird, im Gegensatz zur Gegenwart, erkennen, dass dessen Geist mit dem zeitlichen Körper, in dem er sich ausdrückte, mit nichten zusammenfiel, dass er vielmehr weit, weit in die Zukunft, über den heutigen Zustand hinweg, hinausweist; sie wird erkennen, dass sein Wesentliches nicht sein Preußentum, sein Dynastismus, sein Traditionalismus war, sondern seine Einsicht, dass Deutschlands Wesen die Einheit in der Vielheit, selbstbeschränkende Nicht-Aggressivität und den sozialen Staat als äußeren Ausdruck verlangt. Deshalb steht die eigentliche Bismarck-Ära erst bevor. Überdies wird die Zukunft politisch an der großen Stein-Hardenbergschen Ära wieder anknüpfen und nicht zuletzt am Mittelalter der Stauferzeit, dessen Geist in einem so großen Teil der Jugend wieder erwacht. Erleben wir je wieder ein Kaisertum, so wird es sich wahrscheinlich um ein Wahlkaisertum handeln. Alle diese Möglichkeiten entsprechen den realen Kräften der Zeit. Besinnt sich der veräußerlichte deutsche Geist gleichzeitig auf sein wahres, innerliches Wesen — das Streben der besten Jugend bürgt dafür —, dann ist mit Gewissheit zu erwarten, dass die Nachwelt die Fehler der letzten Jahrzehnte als nicht unersprießlichen Umweg bewerten wird.
Dieses den Deutschen zu sagen, halte ich für Pflicht. Nur bei dem, welcher nicht an sich verzweifelt und eine mögliche Zukunft vor sich sieht, wirkt Selbstverurteilung Gutes. Freilich steht heute alles in Deutschland denkbar schlecht; ich wüßte von nicht vielen bereits Bekannten, die Ihr den Wiederaufstieg überhaupt in Frage kämen. Aber die rechten Männer werden schließlich erstehen. In einer Weltwende, wie dieser, zählen Jahrzehnte kaum. Indessen schwinge sich jeder Einzelne in sich zur Hoffnung auf. Jeder, der ernstlich an sich arbeitet, schafft heute für das ganze Volk — viel mehr so, als wenn er unmittelbar fürs Ganze wirkt. Es handelt sich ja um die Erschaffung eines neuen Deutschland. Dazu bedarf es an erster Stelle neuer Deutscher. Ihr jüngster Typus war nicht wohlgeraten. Dies gilt es einzusehen. Dann aber mit aller Macht, unbeirrt durch Tatsachen, daranzugehen, den neuen zu bilden, dem die Zukunft gehört.