Schule des Rades

Hermann Keyserling

Politik, Wirtschaft, Weisheit

Einleitung

Sinneserfassung

Ich persönlich weise nur das Ziel, auf welches alle Fähigkeiten moralischer und geistiger Art fortan gelenkt werden müssen, damit aus dem Chaos ein neuer Kosmos entstehe, und spreche vom Weg nur im Sinn grundsätzlich erforderlicher Etappen, ohne Bezugnahme auf die konkrete Zeit. Ich rede von dem, was wesentlich erstrebenswert ist; für mich ist das, was Catonen letzte Instanz bedeutet, nur Werkzeug und Mittel. Und da ich vom ewigen Sinn her auf die Erscheinung blicke, darauf allein bedacht, wie jener sich am besten manifestiere, so hege ich keinerlei Vorliebe für irgendeine Gestaltung; wohl bejahe ich alles Zeitliche, sofern es Tatsache ist, aber keine als solche bedeutet mir einen Wert. Ist das, was ich sage, deshalb praktisch unbrauchbar? Im Gegenteil, eben deshalb fördert es die Praxis. Der Sinn bleibt der gleiche innerhalb alles Wandels; wer jenen erfasst, vermag deshalb besser als jeder, der an der Erscheinung haftet, gerade das der Zeit Entsprechende zu sehen. So gelingt es mir gerade deshalb, weil es mir eigentlich nur ums Ewige zu tun ist, zum jeweilig Aktuellen zuweilen sinngemäß Stellung zu nehmen, während das zeitliche Gewand, das meine Äußerungen kleidet, diese andererseits niemals erschöpft. Die Mission z. B. entstand im November 1918. Ich schrieb sie in der vorliegenden Form, um, der Weltlage entsprechend, zu trösten und aufzumuntern, und diese Form als solche ist ebenso selbstverständlich zeitbestimmt, wie es die Gestalt eines Heinrichs V. in Shakespeares Drama ist. Allein der Sinn ist völlig unabhängig vom zeitlichen Gewand, weshalb ich auch kein Bedürfnis spüre, ihren Wortlaut zu ändern. Ihr Grundgedanke war mir selbstverständlich, seitdem das Problem Deutschlands überhaupt meine Aufmerksamkeit auf sich zog, also etwa seit 1906. Den Sinn jenseits des Buchstabens schauend, habe ich Deutschland schon von da ab im großen Ganzen so gesehen, wie es sich 1918 schließlich äußerlich darstellte, denn so war es wesentlich; nie habe ich an das Wilhelminische geglaubt, noch gar von seiner Fortentwicklung Heil erwartet1. Ebenso lange habe ich Deutschlands mögliche Bedeutungssteigerung so gesehen, wie die Mission sie darstellt. — Und ebenso zeitlos wahr, sofern er wahr ist, ist der Inhalt des Vortrags über Wirtschaft und Weisheit, den ich zuerst am 22. Oktober 1921 im Westfälischen Industrieklub zu Dortmund hielt, und seither noch in Amsterdam und in der Technischen Hochschule zu Darmstadt. Die Übersteigerung des Staats, die neuen Gemeinschaftsformen, die ihn abzulösen haben, sind an sich und persönlich für mich rein geistige Situationen, die sich notwendig in der Erscheinung manifestieren mussten, sobald gewisse logische Ketten abgelaufen und gewisse empirische Bedingungen erfüllt waren. Dass ich in der Mission die Wirtschaftsfrage gar nicht berücksichtigt habe, liegt daran, dass diese Frage damals meines Wissens nicht akut war und ich sie mir persönlich noch nicht gestellt hatte. Hätte ich sie mir gestellt, die Antwort wäre grundsätzlich gerade so ausgefallen, wie ich sie heute gebe. Zeitloser Sinn ist eben der Kern aller zeitlichen Erscheinung; wer das Organ für jenen hat, wird ohne jedes persönliche Verdienst das zeitlich Erforderliche richtig sehen. Noch einmal: als Behandler aktueller Themen bin ich genau so sehr Metaphysiker wie als reiner Philosoph. Deshalb vermag kein bloß am Buchstaben Haftender mich zu verstehen. Die Kritik aller nur möglichen Catonen redet an mir vorbei.

Immerhin bin ich, als praktisch Wirkender, nicht der Proteus des Reisetagebuchs, sondern eine bestimmte Gestalt, und diese will ich, zum Schluss dieser Einleitung, ein wenig genauer umreißen, damit meine Leser besser verstehen, was ich will. Sie glauben ja so vielen, die gar nichts von mir wissen, so wird ein sachkundiges Urteil für sie vielleicht nicht ohne alles Interesse sein. Vorhin schrieb ich, ich persönlich lebte ganz der Zukunft. Diese ist mir nun nichts Abstraktes, bloß Vorgestelltes, sie ist mir lebendige, erlebte Gegenwart. Wo andere nur Vergehen bemerken, sehe ich das Neuentstehen. Das Neue entsteht ja nicht erst, wenn das Alte schon tot ist, sondern historisch genau so wie physiologisch noch während der Blütezeit des Früheren. So ist das Neue, das ich vertrete, für mein Erleben schon seit langem da, nur tritt es noch nicht fertig in die Erscheinung. Dementsprechend gehöre ich selbst, wie ich heute bin, einer erst kommenden historischen Epoche an. Für mein Bewusstsein stellen sich die Probleme nicht mehr, welche heute die Massen in Gärung erhalten. Diese müssen selbstverständlich dafür eintreten, was ihrem Entwicklungsgrad entspricht; wenn ich gefragt werde, so bestärke ich sie in der Verfolgung eben der Ziele, die nationale Führer ihnen weisen. Ich aber habe das Recht, und folglich die Pflicht, über jene hinauszuweisen. Ich bin wesentlich Europäer, also der Mensch, der nach Erledigung der letzten Bürgerkriege auf unserem Kontinent bestimmen wird, weshalb ich unwillkürlich alle nationalen Probleme dieser Zeit vom Standpunkt Europas sehe, gleichwie der nachbismarckische Schwabe nicht allzu beschränkten Horizonts das württembergische Problem vom deutschen Standpunkt sieht. So arbeite ich als Europäer für Deutschland; dass ich mich so für Deutschland einsetze, wie ich’s tue, hat in meinem Fall nicht nationale Gründe zur Ursache, sondern jenes Wesentlichere, dass Deutschlands Problem heute den Angelpunkt des europäischen bedeutet und sein Wiederaufstieg in richtiger Gestalt die beste, ja einzige Gewähr allgemeinen Fortschritts ist. Von Hause aus bin ich Balte, fühle mich noch heute, wenn ich die nationale Frage stelle, als solcher, d. h. als ein vom Reichsdeutschen verschiedenes2. Aber ich kann, für meine Person, die nationale Frage nicht mehr ohne Einbezug in die europäische stellen. Ebenso wenig gelingt es mir, ohne bewusste Konzentration und Abstraktion, in den alten Grenzen des Raumes und der Zeit zu denken. Jenseits der Weichsel sieht mein geistiges Auge lauter neue Völkergebilde entstehen — das alte Russland kehrt nicht wieder, da seine Oberschichten ausgerottet sind und sein späterer Charakter vorzüglich von den neuen Einwanderern bestimmt werden wird; die Polen werden noch große Veränderungen durchmachen, auf dem Boden Litauens, Lettlands und Estlands wird ein neues, eigenartiges, den Belgiern analoges Baltenvolk erwachsen, in welchem unser bester, universeller, durch Russifizierungspolitik und estnisch-lettische Verfolgung zugunsten eines eng nationalistischen zeitweilig verdrängter Typus wieder auferstehen wird, als Kitt und Halt der verschiedenen Nationalitäten, welche die Ostseegebiete bevölkern. Von Deutschland gen Westen sind keine großen äußeren Verschiebungen mehr zu erwarten, aber desto größere innere, entsprechend dem, was in den folgenden Studien zu lesen steht. All diese Zukunft ist mir schon Gegenwart, und zwar vermag ich ganz natürlich, als Balte eingestellt, nicht-deutsche, sondern baltische Gesichtspunkte zu vertreten, hier hingegen die nationale Erneuerung, weil ich persönlich wesentlich Europäer bin, und als solcher übernational3.

Ich gehöre jener Internationale von oben an, die ich in früheren Schriften (besonders in Europas Zukunft, Zürich 1918 und Peace, or War Everlasting? im Atlantic Monthly [Boston] vom Januar 1920) als einzig mögliches konstruktives Gegengewicht gegen die alle Kultur bedrohende Internationale von unten, zugleich als Beherrscherin des Zustandes, der jenseits des Bolschewismus, wo dieser zeitweilig zur Herrschaft gelangte, sich konsolidieren wird, hingestellt habe, denn darüber täusche man sich nicht: die Zeit der Nationalitätenkämpfe in Europa liegt wesentlich schon hinter uns, so viele Kriege, wegen der absurden Grenzbestimmungen des Versailler Vertrags, auch noch bevorstehen mögen, und so sehr Deutschland zunächst um seinen nationalen Aufstieg, seine nationale Rehabilitation als solche kämpfen muss. Dieses zunächst für Deutsche ist eine Selbstverständlichkeit; sie in Wirklichkeit überzuleiten, nicht meine Sache. Wesentlich ist Europa heute schon so weit, dass die nationale Frage kein Problem mehr darstellen, dass jedem Volke selbstverständlich seine Selbstbestimmung, Sprache, Kultur und Eigenart zuerkannt sein sollte, und was wesentlich der Fall ist, tritt immer früher oder später in die Erscheinung. Es wird dieses Mal sehr bald in die Erscheinung treten, weil die politische Zerklüftung Europas mit den ökonomischen Folgen des Weltkriegs in schreiendem Widerspruch steht4. Nun, als Verkörperer der Zukunft habe ich sie auch vorzuleben; indem ich dies tue, beschleunige ich die Entwicklung. Ich stehe nicht in Reih und Glied mit den eigentlichen Volkskämpfern, sondern auf anderer Ebene. Ebendeshalb vermag ich den Zusammenhang der Dinge vielleicht besser zu übersehen.

Was meine eigenartige Stellung zum politischen Problem sonst auszeichnet, findet im Schlussabschnitt meines Reisetagebuchs seine Erklärung. Ich bin, als Praktiker, Vor-Leber der Zukunft, ohne jegliches Verweilen bei den Beziehungen der Vergangenheit, so lieb sie seien, aus eben der Einstellung heraus, die den Metaphysiker in mir den Sinn unabhängig vom Buchstaben erfassen lässt, und es dem Weisheitslehrer ermöglicht, jedem auf seine Art, in seiner Sprache den Weg zu einem höheren Niveau zu weisen. Im Leben gibt es keine Vergangenheit, nur Gegenwart; diese aber wird, tief erfasst, nicht von jener, sondern der Zukunft vorausbestimmt. Das Ziel, nicht der ursächliche Konnex bestimmt im tiefsten den Ablauf der Lebensprozesse. Im individuellen, zumal im physischen Leben liegt dies auf der Hand: nur aus dem Zusammenhang, der ein melodisch, zeitliches Ganzes ist, ist hier das Einzelne zu verstehen5. Aber nicht anders liegen die Dinge auf historischem Gebiet: der Zusammenhang des Werdens erst gibt dem Sondervölkerschicksal Ort und Sinn. Weil dem so ist, deshalb glaubt jedes Volk mit Recht an seine Sendung, nur deshalb gibt es Fehler und Versäumnisse, welche die Menschheit angehen, und andrerseits Taten, die deren Gesamtheit preist. Eben deshalb hat aber der der Sinneserfassung, der Wesensschau Fähige auch die Pflicht, am Geschehen mitzuwirken. Ich bin nicht Politiker, nicht Praktiker und will es nicht sein; doch was ich sehe und sage, kann den Politikern und Praktikern manchmal vielleicht die rechte Richtung weisen. Unter allen Umständen verwirklicht sich günstigenfalls das Sinngemäße, während das dem Sinn nicht Gemäße sich niemals mit günstigem Erfolg betreiben lässt. Seit Beginn des Weltkriegs haben die Völker vielfach richtig gefühlt, aber beinahe immer falsch gehandelt; dementsprechend der Erfolg. Heute nun gilt es endlich, Denken und Handeln in Einklang zu bringen, d. h. die Formen und Wege zu finden, in und auf denen sich der Sinn am besten und schnellsten verwirklichen lässt. Zunächst zeige ich den Weg für Deutschland. Dieser erweist sich, richtig ausgekundschaftet, als ein völlig anderer, als ihn sich Vorurteil so gern konstruiert. Vorurteile sind immer vergangenheitsbedingt; das für Deutschlands Lage Charakteristische ist aber, dass es sich ausschließlich an der Zukunft orientieren darf, sofern ihm am Wiederaufstieg liegt. Vielleicht noch nie war ein Volk, als Vergangenheit, so ganz erledigt, wie dies vom deutschen gilt. Die Verkörperer seiner großen Tradition sind ausgestorben, die Vertreter seiner jüngsten Vergangenheit erwiesenermaßen unfähig, den Anforderungen eines neuen Zeitgeists zu genügen; weder der preußische Offizier, noch der Beamte, noch der Professor, noch auch der Techniker als überkommener Typus kommt für den Neuaufbau als Führer in Betracht6. Aber auch noch nie trug ein gleiches Volk zugleich so viel Zukunft in sich. Es ist das jugendlichste, kraftvollste, versprechensreichste ganz Europas, hat dank der Breite seiner Bildungsbasis und dem Zuzug der ausgewiesenen Auslanddeutschen an Qualität am wenigsten durch den Weltkrieg eingebüßt. Jetzt muss es sein Wesen und seine wahre Sendung nur richtig erkennen und seinen Typus entsprechend wandeln. Da Typen Geistesschöpfungen sind, so ist dies immer möglich, und Deutschen gelingt Wandlung besonders leicht, weil kein anderes Volk durch seine Vorstellung so stark beeinflusst wird. Wandelt sich nun Deutschland dem Erforderlichen gemäß, dann ist sein baldiger Wiederaufstieg über jeden Zweifel erhaben. Dann hat es eine Sendung von so ungeheurer Bedeutung vor sich, dass alle vergangene der neuen gegenüber verblasst. Von dieser wahren Sendung handeln die folgenden beiden großen Studien. Die erste erschien bisher als Broschüre; als solche wird sie nicht wieder aufgelegt, weil sie, unergänzt, unter den veränderten Verhältnissen zu häufig missverstanden würde. Die zweite handelt von den Aufgaben gerade dieser Zeit. Es war mir nicht möglich, die geistigen Verbindungsstriche zwischen den beiden Arbeiten selbst zu ziehen; dies muss ich meinen verstehenden Lesern überlassen. Statt dessen habe ich der Mission einige datierte Tagesaufsätze (ohne selbständigen literarischen Wert) nebst dem Angriff des deutsch-nationalen Führers, Grafen Westarp, und meiner Erwiderung auf diesen, angefügt: vielleicht erleichtern diese Anlagen einigen die Aufgabe, die Mission und Wirtschaft und Weisheit als ein Ganzes zu lesen, und die Unterschiede und scheinbaren Widersprüche so zu beurteilen, wie sie beurteilt werden müssen: als verschiedene zeitliche Aspekte des gleichen Wesens.

1 Überaus tiefe Sinneserfassung im gleichen Zusammenhang bewies Wilhelm Dilthey mit folgendem launigen Ausspruch, den er im Jahre 1906 mir gegenüber tat:
Wenn ich rein a priori, ohne Rekurrenz auf die Erfahrung, den Monarchen zu konstruieren hätte, der am schnellsten die Verwirklichung des sozialistischen Umsturzideals herbeiführen würde, so gelangte ich notwendig zur Erschaffung der empirischen Person Wilhelms II.
2 Über die besondere Stellung der Balten innerhalb der europäischen Völker habe ich mich zuerst am Schluss meiner ursprünglich 1910 in Riga gehaltenen, jetzt in Philosophie als Kunst veröffentlichten Rede über germanische und romanische Kultur ausgesprochen. Der zeitweilige Verlust der Heimat und die grausamen Heimsuchungen, die sie erdulden mussten und müssen, habe die Balten in keiner Weise erledigt. Ihre Zukunftsaufgabe sehe ich so, wie sie mein Aufsatz Die baltische Einheitsfront in Nr. 40 des Jahrgangs 1921 der Baltischen Blätter, (Schriftleitung: Berlin W 15, Fasanstr. 48) hingestellt habe; ich setze ihn in extenso her, damit weitere Kreise schon jetzt die richtige Einstellung zu unserer künftigen Bedeutung gewinnen:
In dieser Welt des Werdens und Vergehens lässt sich jedes Ende zugleich als Anfang sehen, und wer für diesen Aspekt des Geschehens das Auge hat, dem offenbaren sich dort die größten Zukunftsmöglichkeiten, wo andere endgültige Verzweiflung überkommt. So habe ich in meinen Vorträgen wieder und wieder betont, dass gerade jetzt die deutscheste Geschichtsära kommen kann, die es je gab … Nun, grundsätzlich nicht viel anders liegen die Dinge für uns Balten. Gleichviel, wieviel an unseren Verlusten als unwiederbringlich aufzufassen sei: stellen wir uns jetzt auf das ein, was wir wesentlich sind, das Auge vorwärts gerichtet, dann blüht uns eine Zukunft von größerer Bedeutsamkeit, als unsere Vergangenheit sie besaß. Die Bedeutsamkeit dieser beschränkte sich im wesentlichen auf die Provinz; fortan können wir, wenn wir nur wollen, eine europäische Rolle spielen.
Wir Balten sind — mittlerweile dürfte dies auch den deutschest Gesinnten klar geworden sein — unserem Besten nach beurteilt, eine Nation für sich, in vielem ganz anders geartet als die Reichsdeutschen. Wir sind eines jener Grenzvölker, welche die menschliche Brücke schlagen zwischen den verschiedenen Kulturen, hier zwischen Norden, Ost und West. Früher bedingte dies eine gewissermaßen schiefe Stellung. In der neuentstehenden Welt, in welcher dem übernationalen — in Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur verkörpert — viel größere Bedeutung zukommen wird als dem Engnationalen, werden wir, zum erstenmal in unserer Geschichte, für eine größere Mission wie prädestiniert erscheinen. Ob wir nach Deutschland Ausgewanderte, in der Heimat Verbliebene, auf den Wiederaufschluss Russlands Harrende sind: es ist eine Aufgabe, die sich uns allen stellt, und eine Aufgabe, die zugleich von höchster Bedeutung ist.
Deshalb ist mir um die Zukunft des Baltentums nicht bang, sofern wir nur rechtzeitig verstehen, wozu wir eigentlich erschaffen, wie groß die Möglichkeiten sind, die gerade diese Zeit der Auswirkung unserer Eigenart bietet. Nach wenigen Jahrzehnten können wir mehr sein und bedeuten, als je vorher. Nur müssen wir dazu die innere Einheitsfront herstellen zwischen allen Balten, gleichviel wo sie leben. Wir müssen erkennen, dass Emigranten und in der Heimat Verbliebene letzthin die gleiche Aufgabe haben, und entsprechend handeln; dass deutsch, russisch, lett- oder estIändisch Orientierte tatsächlich am gleichen Strange ziehen, dass die alten Gegensätze, wie zwischen Adeligen und Bürgerlichen, zwischen Liv- und Estländern, heute der Grundlage und des Sinnes entbehren. Unsere Aufgabe ist eine völkerverbindende, keine trennende, eine übernationale, keine nationale, so deutsch wir im übrigen seien; aus ihr allein erwächst, wenn man den Ausdruck gebrauchen will, zuletzt die nationalbaltische Mission. Diese kann noch zu einer sehr großen werden. Aber ihre Voraussetzung ist: die Erschaffung einer über alle Landesgrenzen hinausreichenden baltischen Einheitsfront, die gegen keinen Staat gerichtet ist, vielmehr verbindet und versöhnt, was sich ohne uns schroff gegenüber stünde. —

Dieser Aufsatz hat mir die bittere Feindschaft einiger baltischer Catonen mit deren Klientel eingetragen. Gemäß der typischen Catonenpsychologie scheuen die Betreffenden sogar vor nationalem und persönlichem Selbstmord nicht zurück, wofern sie mir nur schaden zu können vermeinen — weder stört sie die Erwägung, dass sie durch ihr Postulat des Alldeutschtums als alleinmöglicher baltischer Gesinnung die in der Heimat ausgeharrten aufs schwerste gefährden, noch dass sie die politische Stellung des Baltentums vor den Instanzen, von denen die Gewährung angemessener Minoritätenrechte abhängt, schwächen, noch dass sie gegebenenfalls sich selbst durch Diskreditierung und Verfolgung eines Landsmanns, von dem sie andrerseits wissen, dass er für die Heimat arbeitet und wieviel er gerade nützen kann, in ein bedenkliches Licht setzen. Sie wähnen groß dazustehen, bloß weil sie ihre Gesinnung bekennen. Ist es nicht vielmehr ein Armutszeugnis, nicht schweigen zu können, wenn Reden in einem bestimmten Sinne schadet? Sind die Herren wirklich noch so primitiv, nicht zu wissen, dass Gesinnung und Taktik, Gesinnung und Praxis zweierlei sind, dass nur der, als Politiker, gesinnungsmäßig handelt, der den Sieg seiner Gesinnung durch richtig gewählte Mittel praktisch fördert? Fehlt ihnen jede politische Einbildungskraft wirklich in dem Maße, dass sie nicht einsehen, dass unser traditionelles Baltentum tot ist, der baltische Typus jedoch nicht, und dass folglich die Möglichkeit seiner Wiedergeburt vorliegt und patriotische Pflicht ist, dieser vorzuarbeiten? Gewiss gab es die baltische Nation, für die ich eintrete, in der Vergangenheit nicht, aber jetzt ist sie im Entstehen. Nur sie kann fortan dem baltischen Deutschtum zur Stütze dienen. Fern davon, dem Baltentum zu dienen, verüben die, welche aus Gesinnungsgründen unsere Einheitsfront sprengen, Hochverrat daran; fern davon, dadurch dem Deutschtum zu nützen, verspielen sie frevlerisch dessen mögliche Zukunft. Kein catonisches Bekennertum kann nun einmal die Wahrheit widerlegen, dass das Deutschtum für das Baltentum gemäß der Lage der Dinge keine mögliche politische Idee ist. Wer, unter Balten, sich fürs Deutschtum im politischen Sinn entscheidet, der ist in Deutschland an seinem Platz und sollte von baltischer Politik die Finger lassen. Gerade das Aufgeben der politischen Deutschtumsidee eröffnet, umgekehrt, dem kulturellen Deutschtum im Osten die größten Möglichkeiten, weil dieses sich so außerhalb des ungleichen Kampfes stellt. Unser Deutschtum war uns in unserer ganzen Geschichte, bis auf kurze Jahre des Missverständnisses während der Weltkriegszeit, eine rein kulturelle, keine politische Frage. Treu und loyal haben wir zu aller Zeit zu der uns jeweilig beherrschenden Staatsmacht gehalten. An unserer historischen Lage und Aufgabe hat sich seit dem Umschwung im Osten grundsätzlich nichts geändert. (Von den privaten Vermögensverlusten sehe ich in diesem Zusammenhang ab; eine Generation von selfmademen kann diese historisch wieder ausgleichen, ganz abgesehen von der selbstverständlich zu erwartenden Revision der Entschädigungsfrage in Sachen des enteigneten Grundbesitzes). Zu unseren Ungunsten geändert haben sich nur die Machtverhältnisse, und dieser Prozess ist nie mehr rückgängig zu machen in einer demokratisierten Welt. Dagegen kann man ruhig sagen, dass die Aussichten kulturellen Deutschtums sich sogar gebessert haben. Da der Versailler Vertrag vielen Staaten fremde Volksteile zugesprochen hat, die zunächst Vergewaltigung erleiden, so steht eine Einheitsfront aller Minoritäten durchaus im Bereich des Erreichbaren. Halten nur alle zäh genug zusammen, beharren sie energisch genug bei ihren Forderungen, so werden die Minoritätenrechte zweifellos bald soweit ausgebaut sein, dass nichts den alteingesessenen oder neueingewanderten Deutschen hindern wird, sich die Stellung zu erobern, auf die er ein inneres Recht hat. Einer möglichen neuen Zukunft des Deutschtums im Osten arbeitet deshalb tatsächlich nur der entgegen, der zwischen politischer Macht und Kultur nicht zu unterscheiden weiß. übrigens ist dieses Entgegenarbeiten völlig aussichtslos, so sehr die baltischen Catonen sich anstrengen mögen, weil Deutschlands Interesse unbedingt freundschaftliche Verständigung mit den Ostvölkern verlangt und jene deshalb bald ohne jede deutsche Stützung dastehen werden. Wenn schon Bismarck einen Schutz des baltischen Deutschtums als politischen Faktors im deutschen Interesse unbedingt ablehnte, so muss gleiches erst recht von den Staatsmännern des neuen Deutschlands gelten. Was nun noch einmal meine persönliche Stellung betrifft, so predige ich nichts weniger als eine Anerkennung unbestreitbaren Unrechts (s. S. 155): ich weise vielmehr, durch Befürwortung der Einheitsfront, den unter den heutigen Verhältnissen einzig möglichen Weg, zu unserm Recht zu gelangen. Solange die Balten die neuentstandene Welt nicht innerlich anerkennen, wird keine Macht für sie eintreten. Je mehr Balten sich als unbelehrbar erweisen, desto geringer ist die Zahl derer, die für unsere Zukunft in Betracht kommen (vgl. auch S. 136).

3 Zur Erläuterung diene folgender Passus über Tagore (aus meinem Aufsatz Rabindranath Tagore und Deutschland im Roten Tag vom 22. Mai 1921):
Tagore wird vielfach missverstanden. Da er den Frieden predigt und sich in Deutschland vornehmlich demokratisch-pazifistische Kreise um ihn geschart haben, so wähnen manche, er predige einen Internationalismus der schlappen Art, wie er hier vielfach gang und gäbe ist. Das tut er nicht; keiner könnte nationaler gesinnt sein als er, so sehr er den Nationalismus, wie er ihn versteht, bekämpft … Aber während unsere Weltbürger unternational sind, ist er, bei aller Vaterlandsliebe, übernational. Er weiß, dass Volksbewusstsein zwar die selbstverständliche Grundlage sein muss, aber dass die Zukunft im Zusammenschluss der Völker liegt. Für diesen arbeitet er. Und den besten europäischen Boden für dieses höchste Ziel sieht er in Deutschland, nachdem dieses sich aus dem Zusammenbruch emporgearbeitet und sein verlorenes Selbstbewusstsein wiedergefunden hat. So sympathisiert er gerade von seiner übernationalen Grundeinstellung aus mit unserem Streben, das deutsche Volksbewusstsein zu vertiefen, versteht er vollkommen meine extrem-aktivistische Richtung: mag Indern Träumen frommen, wir Westländer sind Männer der Tat.
4 Über diese Dinge spricht Wells ganz ausgezeichnet in seinem Buch The salvaging of civilization.
5 Vgl. hierzu meine Unsterblichkeit, dritte Auflage.
6 Warum das so ist, zeige ich im Vortrag Die Symbolik der Geschichte in Schöpferische Erkenntnis (Darmstadt 1922).
Hermann Keyserling
Politik, Wirtschaft, Weisheit · 1922
Einleitung
© 1998- Schule des Rades
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