Schule des Rades
Hermann Keyserling
Politik, Wirtschaft, Weisheit
Wirtschaft und Weisheit
Unabhängigkeit und Selbständigkeit
Wir stehen also ohne Zweifel in einer Ära des Abbaus des Staats. Dies bedeutet gewiss nicht — so oft ich in diesem Sinne missverstanden werde —, dass man seinen Staat und seine Staatlichkeit preisgeben soll; im Gegenteil, man soll selbstverständlich von und an ihr erhalten, was nur irgend geht. Je weniger der Weltkrieg ein Land geschwächt hat, desto mehr wird der Staat an Bedeutung behalten können; der Normalausdruck der Masseneinheit wird er immer bleiben, zugleich der Hort aller Massenwohlfahrt und -Sicherheit. Der obige Satz bedingt, dass der Staat notwendig an Bedeutsamkeit verliert, was kein Gesamtminus bedingt, sondern vielmehr, wenigstens der Möglichkeit nach, das Plus, dass ober- und außerhalb jenes neue Formen erwachsen und das Gemeinschaftsleben dergestalt einen reicheren Ausdruck gewinnt. Wie die Religionsgemeinschaft, einstmals souverän, sich allmählich dem erstarkenden Staate eingliederte, so wird dieser günstigenfalls das Organ eines höheren Zusammenhanges werden, der dann seinerseits das primäre Ansehen gewänne, das bisher jenem zuteil ward. Auf dem Wege dahin sind wir bereits. Schon der heutige, sehr mangelhaft fundierte Völkerbund bedingt Bedeutungsminderung des Einzelstaats und das Entstehen einer höheren, übernationalen Organisation, deren erste Aufgabe wohl die sein wird, das Individuum als solches vor seinem Staat zu schützen, welche paradoxale Notwendigkeit allein schon den alten Staat entwertet: in den meisten neuen Reichen, die der Versailler Vertrag erschuf, herrscht sozialistischer Geist, weshalb die Mehrheit unbedingt bestimmt und die Minderheiten legaliter entrechtet1, welchem unerträglichen Zustand nur dadurch ein Ende bereitet werden kann, dass das Individuum als solches als internationaler Rechtsträger anerkannt wird. Der Staat hört also nicht auf, sein Machtbereich wird nur kleiner und seine Bedeutsamkeit nimmt ab zugunsten neuer Bedeutungsträger. Nun schafft die Bedeutsamkeit, nicht das Faktische, den historischen Tatbestand2. Je nachdem was sie bedeuten, sind die gleichen Tatsachen geschichtliche Kräfte oder nicht. Der historisch große Mann ist nicht ohne weiteres der politisch Höchstbegabte seiner Zeit, sondern der, dessen Eigenart und Richtung den herrschenden Bedeutungszusammenhängen das entsprechendste Verkörperungsmittel bietet. Unter den Catonen (siehe die Einleitung) jeder Zeit gibt es häufig individuell große Männer, allein sie können nichts bedeuten und müssen beim besten Wollen, falls sie nicht abtreten, Schaden stiften. So kann überhaupt nur das an sonst guten Tatsachen einer kritischen Zeit gedeihen — handele es sich um Staats-, Wirtschafts-, Kulturgebilde, Gemeinschaftsformen, Seinstypen, Lebensarten, Anschauungen —, was die positiven Kräfte und Möglichkeiten der Epoche hinter sich hat; die Eigenvitalität der Institution oder Person bietet dafür keinerlei Gewähr. Daher die Unfähigkeit des catonischen Deutschlands von vor 1918 zu verstehen, warum seine Vorzüge keine Werbekraft besaßen und keinen Sieg eintrugen, daher die Verbittertheit des seither in gleicher Lage befindlichen Frankreichs. Der Mensch ist deshalb Herr des Schicksals genau nur insoweit, wie er durch die Tatsachen, wie durch Buchstaben, hindurchliest, die diese tragenden geistigen Zusammenhänge erfasst, auf die richtigen Bedeutungszentren bezieht, mit einem Wort, den Sinn des Geschehens versteht3. Die Bedeutsamkeit schafft den historischen Tatbestand, nicht umgekehrt. — Heute nun liegt alle entscheidende Bedeutsamkeit tatsächlich auf wirtschaftlichem, nicht auf politischem Gebiet. Deshalb führt keine Politik zu gutem Ende, die nicht das Wirtschaftliche als ausschlaggebend Wichtiges anerkennt. Deshalb stürzt die Politik der Entente, besonders Frankreichs, das politisch glänzend ausgestattet ist, jedoch das Unglück hat, über solche Fähigkeiten in einer Zeit zu verfügen, in welcher andere Gaben wichtiger sind, seit Versailles Europa unaufhaltsam in wirtschaftliches Elend.
Ja mehr noch: deshalb kommen Maßnahmen, die zu politisch bestimmter Zeit ein Volk erdrosselt hätten, wie der Versailler Vertrag, das Londoner Ultimatum hinsichtlich Deutschlands, tatsächlich dessen Wiederaufstieg zugute. Erstens und vor allem beschleunigen sie den unter allen Umständen erforderlichen Abbau der staatlichen Bedeutsamkeit und die Akzentverlegung auf die neuen Kräfte, so dass das deutsche Volk auf die neue Zeit ganz eingestellt sein wird, nachdem es die furchtbare Krisis endlich überstanden. Zweitens schaden sie dem Sieger mehr wie dem Besiegten; die Entwertung der Mark trägt den Ententeländern Arbeitslose ein, deren Inflation viel schädlicher ist als die des Papiergeldes, und unterstützt die deutsche Arbeit. Drittens erreichen sie auch im Einzelnen das nicht, was sie erreichen sollen. Wer das z. T. unter amerikanischer Flagge, aber dank denselben deutschen Menschen mehr denn je emporstrebende Hamburg mustert, erkennt, dass Niederlage heutzutage nicht mehr wie Umbuchung bedeutet. Hätten die Franzosen das Ruhrgebiet besetzt, oder würden sie es tun, so hätte dies zweifelsohne die Kontrolle der französischen Industrie zunächst durch Deutsche, nachher durch Deutschland zur Folge, denn nicht militärische Macht, sondern wirtschaftliche Fähigkeit entscheidet heute letztlich. Sinnwidriges kann dem, der es tut, nie Gutes einbringen. Freilich schadet es zeitweilig dem Gegner, aber Völker gehen nicht unter, und Niederlage ist, in Zeiten der Wandlung, für die Dauer ersprießlicher als Sieg, weil der Besiegte notwendig zulernt, den Sieger jedoch nichts hindert, sich nie wieder einzuholende Jahre entlang in Illusionen zu wiegen. Erkenntnis bedingt eben nicht allein Erlösung, sondern auch dauerhaften Sieg, und zwar Erkenntnis allein4. Da die Signatur dieses Zeitalters eine wirtschaftliche ist, so kann jeder Wirtschaftler jedes Volkes, ob siegreich oder geschlagen, heute gedeihen, wenn er nur jene versteht. Das Wirtschaftliche geht eben grundsätzlich unabhängig vom Politischen seinen Weg. Und alle weitsichtigen Wirtschaftsleute wissen heute ein Weiteres, von den meisten Übrigen leider noch Verkanntes, worauf ich in der Einleitung zu dieser Schrift schon hinwies, nämlich, dass die engnationalen Probleme, somit die, um welche der Krieg geführt und der Frieden verdorben wurde, keine letzten Instanzen mehr darstellen, völlig gleichgültig, wie die einzelnen Völker dazu stehen, sondern dass Europa, und zwar mindestens Europa — vielleicht müssen schon andere Gebiete hinzugerechnet werden — eine unteilbare Einheit ist; weshalb der siegreiche Krieg
in Wahrheit mit einer furchtbaren Niederlage Ganzeuropas geendet hat. Sie wissen, dass es heute gilt, Europa neu aufzubauen. Sie wissen ferner, ob bewusst oder unbewusst, gleichviel, dass dies nur auf dem gleichen grundsätzlichen Wege geschehen kann, der allein, gemäß dem bis hierher Ausgeführten, für den Weiteraufstieg des einzelnen Volks fortan in Frage kommt: nämlich dem einer Bedeutungsverschiebung vom Politischen aufs Wirtschaftliche.
Der politische Zustand als solcher ist dermaßen verfahren, dass er aus den alten Voraussetzungen heraus nie wieder in einen besseren übergehen wird. Doch wenn der Bedeutungs-, und deshalb Machtakzent auf anderes verlegt wird, dann werden die als solche unveränderten politischen Spannungen irrelevant und deshalb harmlos werden, so wie die vormals Europa in stete Kriege stürzenden religiösen harmlos wurden, seitdem der Glaube nicht als Wichtigstes mehr galt. Dann und dann allein werden auch die politischen Probleme ihre sachlich-richtige Lösung finden, insonderheit die nationalen, denn jeder Geschäftsmann weiß, dass ohne Frieden und Befriedigtheit, ohne dass alle Teile gewinnen, kein Unternehmen für die Dauer gedeiht. Aus übernationalen Gesichtspunkten und diesen allein, so paradox das klingt, werden die Völker Europas schließlich alle zu ihrem nationalen Rechte kommen. (Das Primat der Wirtschaft wird überhaupt die so verderbliche Übermacht der Theorie in der Politik brechen, die übrigens, wie Oscar A. H. Schmitz in seinem heute mehr denn je lesenswerten Disraeli-Buch gezeigt hat, erst 1789 begonnen hat. Vorher spielten Theorien kaum eine Rolle, die realen Interessen entschieden.) Was nun die besten Wirtschaftsköpfe wissen, das geschieht heutzutage zwangsläufig, mögen sämtliche Machtfaktoren wider den Stachel löcken. Je mehr der Versailler Vertrag durchgeführt wird, desto mehr leiden die Sieger — hierauf ist weltpolitisch der Nachdruck zu legen, nicht auf die einstweilen noch größeren Leiden der Besiegten. Mögen noch so zahlreiche Staaten nationalistische Politik treiben — das bloße Lesen des Kurszettels, der Handelsbilanzen und der Arbeitslosenstatistik genügt zur Belehrung darüber, dass kein Staat mehr tatsächlich unabhängig ist, dass jedes Wohl und Wehe unbedingt vom übernationalen Gesamtzustand abhängt. Kein Land ist sich selbst mehr tatsächlich letzte Instanz (der Begriff der Unabhängigkeit
und Selbständigkeit
, der als solcher natürlich fortleben wird, wie alle Begriffe, die irgendwie menschliche oder völkische Eitelkeit betreffen, wird bald de facto Entgegengesetztes zum Inhalt haben, als sein abstrakt verstandener Wortlaut besagt), nur durch harmonisches Zusammenarbeiten aller kann das Einzelne gedeihen oder wiederaufleben; der Wirtschaftsdruck schweißt Europa zwangsläufig zur Einheit zusammen. Folglich ist, noch einmal, der Bedeutungsakzent innerhalb der verschiedenen Organisationen einer Volksgemeinschaft vom Politischen fort auf das Wirtschaftliche zu legen; wo dies bewusst geschieht, wird die Entwicklung ungeheuer beschleunigt, und je schneller diese erfolgt, desto schneller arbeitet sich ein Volk, gleichviel wie sein Zustand unter den alten Voraussetzungen erschien, wieder herauf, desto sicherer bleibt es auf der Höhe, wenn es die Weltkrisis glücklich überstand — während umgekehrt keine momentane Vorzugsstellung seinen Niedergang aufhalten wird, wenn es nicht rechtzeitig versteht. In diesem rechtzeitig
liegt der praktische Indifferenzpunkt zwischen Schicksalsbestimmtheit und -bestimmung im Völkerleben; im Verstehen
der praktische Angelpunkt der Freiheit. Nur deshalb ging Deutschland zugrunde, weil es entweder nicht verstand, oder zu spät. Versteht es jetzt wieder nicht, oder wieder zu spät, dann arbeitet es sich auch ganz gewiss nicht wieder herauf. Sein Wiederaufstieg kann unter gar keinen Umständen dadurch erfolgen, dass der nationale Bedeutungsakzent endgültig beim Staatssozialistischen stehenbleibt oder auf das Militaristische, Nationalistische und Traditionell-Preußische zurückgeht; die sozialistische wie die deutschnationale Partei werden unter gar keinen Umständen mehr, und mögen sie auf den Wahlen noch so viel Stimmen gewinnen, den Wiederaufstieg Deutschlands bewirken, weil beide unter Voraussetzungen arbeiten, die nicht mehr gelten. Das Staatliche wird fortan am wenigsten für ein Volk bedeuten; dessen Betrieb wird immer mehr zu einer internen Funktion des Volksorganismus werden — dem Postbetrieb im heutigen Staat vergleichbar, wie der in diesem Zusammenhang am weitesten blickende französische Syndikalismus fordert.
Dieses eine Argument erledigt den sozialdemokratischen Volksbeglückungsanspruch; nationalistischer Geist aber wird Deutschland deshalb nie wieder hochbringen, weil wir mitten im Einmünden in ein Zeitalter entgegengesetzter Signatur stehen, als es das jüngst vergangene war, ein dem Mittelalter analoges Zeitalter5. Wie es fortan kein englisches Problem mehr gibt, sondern nur ein erdumspannend-britisches, so gibt es kein ausschließlich-deutsches mehr, sondern nur ein deutsch-russisches oder mittel- und osteuropäisches; hier hat die Niederlage unlösbare Schicksalsgemeinschaft für die Zukunft erschaffen, und aus Schicksalsgemeinschaft, nicht Blut und Sprache als solchen entstehen historische Gebilde. Deshalb wird fortan Übernationales endgültig bestimmen (dessen erste selbständige, natürlich höchst einseitige und unbefriedigende Verkörperungen waren Entente und Völkerbund), kann ein Volk fortan nur dadurch groß werden, dass es sich in der Völkergemeinschaft eine wichtige Stelle erkämpft, kann dem Abbau, den die Internationale von unten
betreibt, keine einzelne Nation mehr, so stark sie sei, sondern nur eine Internationale von oben
(was ich besonders in meinem Aufsatz Peace, or War Everlasting?
im Atlantic Monthly vom Januar 1920 ausgeführt habe; dort nannte ich die erforderliche Gegeninternationale auch league of gentleman) erfolgreich entgegenwirken. Dass jede Nation im übrigen national gesinnt sein muss und bereit, ihre persönliche Würde zu wahren, versteht sich von selbst; desgleichen, dass Deutschland zunächst vor allem daran zu arbeiten hat, seine verlorene nationale Geltung wieder zu erlangen. Aber zugleich kommt es gerade für Deutschland, weil es geschlagen, weil seine vergangene Größe hin ist, darauf an, so rechtzeitig und tief zu verstehen, welcher Art der neue Zeitsinn ist, dass es sich schon jetzt ganz auf die Zukunft einstellt. Soweit Staatliches in Betracht kommt, bedeutet dies, entsprechend den Ausführungen der Mission
: auf die Herbeiführung eines Zustandes, der die Klassengegensätze möglichst ausgleicht, jedes Staatsbürgers berechtigte Anspräche ans Leben möglichst befriedigt, ein möglichst harmonisches Zusammenarbeiten aller ermöglicht, so dass Deutschland den sich im gleichen Sinn unaufhaltsam verwandelnden übrigen Volksorganismen als Vorbild voranleuchten könnte.
Diese Aufgabe nenne ich die sozialistische, weil die marxistische Ideologie, in Millionen von Geistern und Herzen als Dogma festgelegt, wohl noch Jahrhunderte lang die Begriffe und Vorstellungen bestimmen wird, obgleich tatsächlich gewiss der dem marxistischen organisch feindliche Gewerkschaftsgeist, die Wiederverkörperung des mittelalterlich-ständischen in der modernen Welt, auch den vom Staat her zu bewirkenden sozialen Neuaufbau ausführen wird.6 Aber die staatliche Aufgabe ist die geringste; der Staat ist ja geschlagen, machtlos, bankrott, seinen Bürgern gegenüber wider Willen zum Ausbeuter geworden. Die eigentliche Aufgabe liegt hei den Wirtschaftsführern, den Häuptern der großen außerstaatlichen Verbände. Sie müssen in erster Linie verstehen, denn sie sind heute die eigentlich Verantwortlichen, genau im gleichen Sinn, wie früher die Staatsmänner. Es gibt keine Privatwirtschaft mehr im alten Sinn, jede ist zur nationalen Angelegenheit geworden, denn bei der immer schwereren Verschuldung der Staaten überall — hier bezeichnen die Besiegten nur die Höhepunkte; die durch den Krieg bewirkte ungeheure Erweiterung seines Weltreichs wird England einmal als Kriegsentschädigung verwünschen — können die Nationen nur dadurch fortbestehen, dass möglichst viel Einzelne und Verbände auf der Höhe bleiben. Auch hier war der neue Zustand schon vor dein Krieg im Werden, durch die veränderten Umstände wird er nur zwangsläufig konsolidiert. Während es vorher eine theoretische Forderung war, die aber die besten Wirtschaftsmänner gerade Deutschlands als praktische Direktiven anerkannten und auswirkten, dass nicht die privatwirtschaftliche Rentabilität, sondern die volkswirtschaftliche Produktivität ein geschäftliches Unternehmen rechtfertige, entsteht heute unaufhaltsam, unter dem Druck des akutgewordenen ökonomischen Problems, verquiekt mit den sozialen Machtverschiebungen der letzten Jahre, eine Konjunktur, innerhalb derer für die Gemeinschaft unproduktive Betriebe für den Privaten unrentabel werden — die zeitweiligen Ausnahmen, von Vergnügungsunternehmungen und sonstigen Schiebergeschäften dargestellt, bestätigen nur die Regel.
Es entsteht also richtige Gemeinwirtschaft aus wohlverstandenem Privatinteresse. Dieser Prozess besiegelt die Verschiebung des Bedeutungsakzentes innerhalb der Volksgemeinschaft vom Politischen aufs Wirtschaftliche, gibt den Führern des Wirtschaftslebens endgültig die gleiche Bedeutung, die in der politisch bestimmten Ära den Staatsmännern zukam, und den Berufsständischen Vereinigungen die, welche sich einstweilen noch die politischen Parteien anmaßen. Sehr charakteristischerweise — so notwendig manifestiert sich der Sinn in der Erscheinung — sind die hohen Beamten innerhalb der Aktiengesellschaften schon typischerweise unabhängigere, selbständigere und überlegenere Männer als entsprechend gestellte Staatsbeamte7. Nun gilt es für die Wirtschaftsführer bewusst zu wissen, was sie neuerdings bedeuten. Praktisch arbeiten wohl schon alle Großen sinngemäß, aber im Herzen sind manche noch reaktionär, und dies birgt die Gefahr, dass sie unter kurzfristig veränderter Konjunktur nach dem Vorkriegszustand bewusst zurücksteuern möchten; tun sie dies aber, so würde dies sehr viel Schlimmeres zur Folge haben als eine Reaktion auf politischem Gebiet, die ja durchaus im Bereich der Möglichkeit liegt (ob die Gewichte im Staatsorganismus so oder anders verteilt sind, wird in Zukunft am wenigsten ausmachen); sie könnte das jeweilige Volk unmittelbar um seine historische Zukunft bringen. Aber reaktionäre Gesinnung ist unter Wirtschaftsführern niemals Notwendigkeit, weil die Typisierung, welche der wirtschaftliche Kampf (wie jeder andere auf seine Art) bedingt, die Anpassungsfähigkeit an erster Stelle ausbildet. Dass der Staatsbeamte und Politiker so leicht verständnis- und anpassungsunfähig erscheint, liegt einmal an der Einstellung auf die Routine, die im Staatsapparat unabwendbar das Meiste zu regeln hat, dann aber und vor allem an der auf die Gewalt als letzte Instanz. Die Möglichkeit, erst ruht die selbstverständliche Verpflichtung letztendlicher Gewaltanwendung wirkt immer verdummend. Im Wirtschaftsleben nun kann Gewalt ihrem Wesen nach niemals entscheiden; das Streikrecht wird bald ebenso eingeschränkt werden wie das Aussperrungsrecht, ja ersteres bald, im Falle Lebenswichtiger Betriebe, einer Kriminalerklärung des Ausstandes Platz machen; richtig geleitet, passt sich Wirtschaft ebenso selbstverständlich beliebigen Konjunkturen an, wie jeder plastische Organismus seiner Umwelt. Viele Betriebe freuen sich heute schon ihrer Räte
, die eine so viel engere Fühlungnahme zwischen Leitern und Arbeitern ermöglichen, als solche früher durchführbar war, und daher unmittelbar dem hohen Ziel der Arbeitsgemeinschaft aller Klassen dienen; wohl kein großer Industrieller sehnt sich überhaupt nach der alten Zeit zurück. Der Mann der Wirtschaft ist also wesentlich anpassungsfähig. Folglich ist das Problem der neuen Zeit zu lösen.
1 | Die wahnsinnigen, das Land ruinierenden und dessen gebildetste und konstruktivste Elemente an den Bettelstab bringenden Agrarreformen Estlands und Lettlands — uns Balten ist aller Besitz genommen, entweder entschädigungslos oder gegen eine so geringe Entschädigung, dass sie den konfiskatorischen Charakter der Maßnahme nicht einmal verschleiert; wir sind buchstäblich bestraft worden für die geleistete Kulturarbeit — sind legale Maßnahmen insofern, als die Konstituanten oder Parlamente der fraglichen Staaten die wirtschaftliche Vernichtung einer Klasse ihrer Bürger beschlossen haben. Worauf es jetzt ankommt, ist, dass solche Legalitätunmöglich gemacht und das indes geschehene Unrecht auf Grund einer Völkerbundsforderung oder des Diktats einer hoffentlich bald mit den größten Vollmachten ausgestatteten paneuropäischen Sanierungskommission nachträglich wieder gut gemacht wird. Vom Tatbestand gibt das beste Bild Oskar Bernmanns Broschüre Die Agrarfrage in Estland, Ostbuchhandlung, Berlin W 30, Molzstraße 22. |
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2 | Genau ausgeführt habe ich diesen Gedanken im Vortrag Die Symbolik der Geschichtein Schöpferische Erkenntnis, welches Buch im Frühjahr 1922 erscheint resp. erschienen ist. Das volle Verständnis des Nächstfolgenden setzt die Kenntnis dieses Vortrags voraus. |
3 | Vgl. hierzu den ganzen Vortragszyklus Symbolik der Geschichte— Politik und Weisheit— Weltüberlegenheitin Schöpferische Erkenntnis(erscheint resp. erschien im Frühjahr 1922). — Es wird oft gefragt, was ein Bismarck heute täte. Da Bismarck ein ganz großer Sinnversteher war — leider der letzte unter den deutschen Staatsmännern —, so lässt sich dies bis zu einem gewissen Grade bestimmen. Ebenso wie er seinerzeit sein Ziel der deutschen Einheit vermittels der realen Kräfte der damaligen Epoche, dem dynastischen Gefühl, den damals herrschenden außenpolitischen Spannungen usw. verwirklichte, dabei durchaus den neuesten Strömungen Rechnung tragend (allgemeines Wahlrecht!), weshalb er von seinen Standesgenossen als Liberaler und uninational verabscheut wurde, genau ebenso hätte der gleiche Genius, um 1860 geboren, entsprechend anders erzogen, ums Jahr 1900 unweigerlich die Demokratisierung Deutschlands oktroyiert, die später die Revolution herbeiführte, durch entsprechende Zugeständnisse die Mehrheitssozialdemokratie zur Regierungspartei gemacht und damit Deutschlands Staat auf die breiteste Basis gestellt, die es je irgendwo im Guten gegeben, wodurch es unbesiegbar geworden wäre. Dann hätte er sich natürlich um die gleiche Zeit, unter Preisgabe weiterer Rüstungen, mit England verständigt, und der Weltkrieg wäre entweder nicht gekommen oder aber er hätte, dank anderer Mächtegruppierung, zu einem für Deutschland günstigen Ausgang geführt. Also hätte ein solcher Bismarck heute nichts Besonderes zu tun. — Aus dem einmal erreichten Verfahrenheitszustand führt kein staatsmännisches Genie mehr durch magische Operationen, wie man ihm solche gerne zutraut, heraus, sondern nur, sehr langsam, die Kumulation kleiner Erfolge. Der starke Mann im alldeutschen Verstand, der Bismarck übrigens niemals war, er, der so Sensitive und so Zarte, vermöchte heute weniger als ein gerissener Jude. |
4 | Diese Wahrheit steht genau ausgeführt im Vortrag Antikes und modernes Weisentumin Schöpferische Erkenntnis. |
5 | Vgl. hierzu Deutschlands Beruf in der veränderten Weltin Philosophie als Kunst. Auch der Weg der Umbildung ist dem von damals analog. Fustel de Coulanges hat nachgewiesen, dass die feudale Ordnung in Frankreich aus dem provinziellen Privatrecht heraus erwuchs. Nachdem der römische Staatsapparat zerfiel, wurde das erhaltene ökonomische System zur Grundlage des neuen politischen. Genau so wird die politische Zukunftsordnung des Westens, nachdem die überkommene sich ganz erledigt hat, nicht mehr als eine Anerkennung, Umdeutung und Weiterausbildung der dann schon konsolidierten ökonomischen Weltordnung, von der diese Schrift handelt, bedeuten. |
6 | Über diesen Punkt enthält Dickels Auferstehung des Abendlandes(Augsburg, Gebrüder Reichel) sehr Beachtenswertes. Sonst krankt das Buch an blindem Antisemitismus und an Verkennung des universalistischen Charakters der neuentstehenden Welt. |
7 | Auch ein komisches Beispiel der unbewussten Einstellung auf die Bedeutungsakzentverschiebung vom Politischen auf das Wirtschaftliche sei hier angeführt, für dessen genaue Richtigkeit ich freilich keine Gewähr übernehmen kann; relata refero: bei der Auswahl der Angestellten der größten Betriebe funktioniert vielfach schon dasselbe Alte-Herren-System wie seinerzeit bei der Auswahl der Staatsbeamten. Es existieren Organisationen, die den Nachwuchs von den studentischen Verbindungen an den technischen Hochschulen bis zu den ersten Fabrikdirektoren umfassen; sie versorgen die Betriebe automatisch mit ihrenLeuten. Bisher hat dies nicht zum Schaden der Wirtschaft gewirkt. Möchte es immer so bleiben. |