Schule des Rades
Hermann Keyserling
Politik, Wirtschaft, Weisheit
Deutschlands wahre politische Mission
Krieg als Selbstzweck
Das Grundmissverständnis, welches Deutschlands tragisches Schicksal verschuldet hat, war der Glaube an seine imperialistische Mission. Nicht dass Herrschergelüste überhaupt nicht mehr zu befriedigen wären, dass das Ideal eines Bundes gleichberechtigter Völker, von denen keines je mehr zu größerer Macht gelangen sollte, als es gerade besitzt, der Verwirklichung nahe wäre, dass die Gerechtigkeitsidee die irrationalen Wachstumstriebe schon für immer von der Richtung zur Gewalttat abgelenkt hätte: Deutschland fehlt zu einer imperialistischen Laufbahn der innere Beruf, und zwar weil es solche im tiefsten gar nicht will. Man kann nie wesentlich wollen, was einem nicht angemessen ist, keine Absicht hilft hierbei, denn jedes Wesen hat sein Lebensgesetz, welches sich freilich verkennen lässt, das aber gleichwohl, im Spiegel von Erfolg und Misserfolg, unabänderlich seine ausschlaggebende Macht erweist.
Jedes Wesen, durch sein Können definiert, stellt eine Naturkraft dar, die ihrerseits dem möglichen Wollen Macht gibt und dessen richtig erkannten Zielen den Charakter eines Naturrechtsanspruchs verleiht; hier wurzelt der Wahrheits-Gehalt der Idee eines Rechts des Stärkeren. In diesem Sinne rechtfertigt Herrschenkönnen Eroberungswillen vor Gott und Menschheit, trotz aller abstrakten Moral. Wie das Weib jedem, der Liebe zu wecken weiß, über alle Normen hinweg das Recht zum Geliebtwerden zugesteht, dem aber aberkennt, dem jene Fähigkeit fehlt, welche Rechtsvorstellung nichts anderes bedeutet als die moralisch gedeutete Anerkennung eines natürlichen Kräftegleichgewichts, so schafft starker Wille unter Willensschwächeren sowohl Folgebereitschaft als die Zustimmung zu ihr, so ordnen sich Unselbständige nicht allein mit Notwendigkeit und Wohlgefühl, sondern auch mit dem Bewusstsein, dass dies so rechtmäßig ist, dem geborenen Herrn unter. Dessen Dasein hat unmittelbar werbende Kraft im Sinn seines Willens. Auf diesem natürlichen Kräftegleichgewichtsverhältnis allein beruht jenes Recht zu Machtverschiebungen, das laut Instinkt, oder Geschichtsurteil im einen Fall besteht, im anderen nicht, und dessen Ableitung aus abstrakt moralischen Voraussetzungen niemals gelingen will. Dieses lebendige Recht hat aber von jeher alle anerkannte Rangordnung zwischen Menschen und Staaten bestimmt. Roh ausgedrückt, ist es das berüchtigte Recht des Stärkeren, und zwischen rohen Menschen und Völkern erschöpft sich sein Sinn, zur Befriedigung aller Teile, auch wirklich im Recht der physischen oder materiellen Überlegenheit. Aber indem das Bewusstsein sich vertieft und die Seele sich differenziert, subtilisiert sich auch jener Sinn. Wie schon das halbenttierte Weib im Vergewaltiger keinen rechtmäßigen Herrn mehr sieht, so genügt für das Bewusstsein der heutigen Völker Europas physisches Übergewicht oder das Faktum vorhandener Macht nicht zur Begründung eines Herrschaftsrechts. Materiell erobern darf nur, wer es auch moralisch vermag, herrschen allein, wer dessen fähig ist: so urteilt das moderne Bewusstsein. In diesem Verstand erscheinen politischer Wille und politisches Können als unerlässliche Vorbedingungen einer politischen Weltmission. Diese nun fehlen den Deutschen. Deshalb musste ihr politischer Ausbreitungsdrang, zumal in Anbetracht ihrer ungeheuren materiellen Macht, bei allen anderen Völkern die stärksten Gegenbewegungen hervorrufen.
Weniger als alle Völker hat das deutsche den Weltkrieg gewollt; während seiner ganzen Dauer hat es nie ein anderes Kriegsziel gekannt, als das der Selbstverteidigung. Nichtsdestoweniger steht es vor den Augen der Welt als der Angreifer da, hat es erobert im allergrößten Stil. — Sollte dieser Widerspruch nicht genügen, um die politisch antideutsche Gesinnung der meisten Erdbewohner zu erklären? Die Alldeutschen, zu denen die Mehrheit des Volkes von jeher in Gegensatz stand, beschweren sich nicht ohne äußerliches Recht darüber, dass es ihnen entsprechende Typen in allen Ländern gäbe, und diese doch weder daheim noch auch in Deutschland in gleichem Maße angefeindet würden. Aber nationaler Chauvinismus entspricht bei Franzosen einer wesentlichen Willensrichtung, Imperialismus bei Briten einer innersten Lebenstendenz, und Gleiches gilt in Deutschland von Gleichem nicht, weshalb es anders wirken muss. Ein jeder hat ein inneres Recht nur zu dem, was er wesentlich ist und kann; dieses wird ihm, wo es einmal erfasst ward, instinktmäßig von jedem zugestanden, so sehr es praktisch bestritten werden mag. Abstrakte Erwägungen jedoch, dass jedes Volk seinen Platz an der Sonne brauche, dass die Stunde des Deutschen gekommen sein müsse, dass Deutschland die physische Macht habe, die Welt zu bezwingen und folglich dazu berufen sei, überzeugen niemand, weder auswärts noch daheim, solange der innere Lebenswille fehlt, der die äußeren Möglichkeiten zu innerem Schicksal umschüfe. Dieser Wille fehlt vollständig. Nie hat die alldeutsche Theorie einer nationalen Willenswirklichkeit entsprochen, es bestand vielmehr ein geradezu grotesker Widerspruch zwischen der äußeren Macht, welche Bismarck für Deutschland begründet hatte und die während der folgenden Friedensära ins Ungeheure angewachsen war, und seiner ureigenen Lebenstendenz. Dieses hat sich während des Krieges in allem und durchaus gezeigt.
Zunächst in den politischen Fehlern, von denen kaum ein theoretisch denkbarer vermieden worden ist. Dieses liegt durchaus nicht am angeblich so besonders miserablen deutschen Diplomatenmaterial — die armen Diplomaten können wohl am wenigsten dafür, da sie zumeist nur Mundstücke sind und als solche kaum schlechter als anderweitig funktioniert haben —, sondern am Nichtvorhandensein eines politischen Willens, beim führenden Einzelnen wie beim ganzen Volk. Wesentlicher Wille ist die Zentrale einer Seele; wo er vorhanden, regiert er die übrigen Kräfte und schafft sie zur Not. Gleichwie die Liebe klug und hellsichtig macht in allem, was sie angeht, so weiß auch er durch Durchschnittsintelligenzen Wunder zu wirken, wie in bezug auf die Politik dies England beweist, dessen Aufstieg fast durchweg durch mittelmäßige Geister gefördert worden ist. In Deutschland war keiner vorhanden, weder innerhalb der Regierung, soviel Absichten
diese immer haben mochte, noch auch der Volksvertretung; niemand wollte Politisches primär. Deshalb lagen hier nicht allein niemals echte, d. h. willentlich bestimmte, nicht aus der jeweiligen Lage logisch abgeleitete und darum ständig wechselnde Kriegsziele vor — deshalb haben die vorhandenen, gar nicht unerheblichen Intelligenzen immer nur als theoretische Gelehrte, als alles vorauszusehen sich anmaßende Rechner gearbeitet, ohne schöpferische Intuition, deren vornehmster Exponent der Takt ist, da nichts da war, das die Geisteskräfte vom Leben her auf ein Ziel gelenkt hätte, das Ergebnis ihnen also wesentlich gleichgültig war, was immer sie sich vorspiegeln mochten. — Es hat sich gezeigt in dem einzig dastehenden Mangel an werbender Kraft, den die Deutschen auf den besetzten Gebieten bewiesen haben. Meist kamen sie als heiß ersehnte Befreier und Retter hin, es waren sonach sämtliche Vorbedingungen geschaffen, um einem etwa vorhandenen Willen Entgegenkommen und Gefolgschaft zu sichern. Allein sie wollten nichts wirklich, was immer sie vorhaben mochten. Hätten sie wesentlich erobern, werben, behalten wollen, die nötige Taktik hätte sich von selbst ergeben, ihr Wille hätte Gehorchenwollen, ihr Werben Entgegenkommen erzeugt, und die psychologische Gesamtlage, die Basis aller möglichen entscheidenden Veränderungen hätte sich gegenüber dem Früheren auf alle Fälle gewandelt. So aber befanden sich die okkupierten fremdstämmigen Völker einer eigentlich ziellosen Organisationsmaschine gegenüber, und da sie nichts wollte, so erwuchs stetig erstarkender Gegenwille, keine den Deutschen günstige Strömung konnte neu entstehen, so dass alle es schließlich selbstverständlich fanden, dass die Eroberer, dank den veränderten Umständen, ohne irgend etwas Dauerndes begründet zu haben, fortmussten. — Es hat sich gezeigt in den deutschen Siegeszügen als solchen. Dem immer noch kriegerischen Deutschen ist der Krieg typischerweise Selbstzweck, nicht Mittel zu einem politischen Ziel; er will nichts Bestimmtes erreichen, indem er kämpft1. Dies bildet einerseits die psychologische Grundlage des Edelsten an seinem Kriegertum, hat aber andererseits, vom Altertum bis zur Neuzeit, sein Landsknechts- und Söldnertum bedingt — ihm war es gleich, für wen und weshalb er kämpfte — und während des Weltkriegs den verhängnisvollen Umstand, dass strategische Gesichtspunkte die Politik haben beherrschen können, vom Einmarsch in Belgien über den verwüstenden Rückzug aus Frankreich bis zum erwählten Augenblick des Waffenstillstandsangebots, und dass nie verstanden worden ist, militärische Siege politisch auszunutzen. Das Ziellose seines Kriegertums hat den Deutschen, da Ursachen immerhin Wirkungen auslösen, zum Zerstörer par excellence der europäischen Geschichte gemacht, und ist heute die Ursache dessen, weshalb ihm der Schimpfname Hunne
beigelegt worden ist: auch die Hunnen wollten eigentlich nichts, sie kamen nur und siegten und zerstörten; eine große Tat aber, hinter der kein zielbewusster Wille steht, kann nicht umhin, unmenschlich zu wirken. — Es hat sich gezeigt endlich in der Aufnahme, die der Ausgang des Krieges beim ganzen Volk fand. Soviel immer davon dem nervösen Kollaps, der auf vier Jahre unerhörten Ertragens folgen musste, in Rechnung zu stellen sei: allzu leicht schien es den meisten zu fallen, sich auf den Boden der neuen Tatsachen zu stellen. Beim Volk als Ganzem war keine Spur jenes souveränen Willens zu entdecken, den nicht allein Franzosen, sondern auch Serben bewiesen haben. Nur beim wesentlich Willensschwachen oder Uninteressierten ist die Willenseinstellung typischerweise Folge der Lage, beim Willensstarken, beim primär Wollenden besteht jene unabhängig für sich. Ganz allgemein kann man sonach behaupten, dass dem deutschen Volk, trotz des Ungeheuren seiner Leistung, ein politischer Wille, der imperialistische Politik rechtfertigte, gänzlich fehlt. Was bei ihm an schöpferischer Zielstrebigkeit vorhanden ist, tritt nur zutage, wenn ihm ein einzelner Willensgenius, wie Bismarck, dem es sich fügt, oder eine vorhandene Organisation wie die Armee, die sozialdemokratische Partei, der es sich einordnet, von außen her die Richtung gibt. Folgerichtig schreit auch, sobald es politisch abwärts geht, alles Konservative nach dem starken Mann
und alles Liberale nach einem besseren System — in den schöpferischen Volkswillen als solchen, von dem allein doch dauerndes Heil kommen kann, also im Falle jedes Einzelnen in sich selbst2, verlegt niemand seine Hoffnung, sondern immer in ein Äußerliches. Spontanen politischen Willen beweist das deutsche Volk allein, wo es sich um seine Selbsterhaltung handelt. So hat es sich, vielleicht zu seinem Schaden, der Römer erwehrt, in jedem Winkel seine Eigenart behauptet; so hat es dauernd im Letzten gegen alles Nichtdeutsche daheim protestiert, sich damit jene Ursprünglichkeit bewahrend, die den Ausländer leicht barbarisch anmutet, in Wahrheit jedoch, da eine starke Assimilierbarkeit ihr die Waage hält, seine wertvollste Kulturanlage bedeutet. Aus gleicher Quelle stammt die Möglichkeit der nationalen Erhebungen von 1813 und 1914, die sich in Zukunft, wenn die Sieger ihm die Lebensmöglichkeit abschneiden wollten, ganz sicher wieder ereignen werden; aus gleicher das zähe Festhalten an ihrer Eigenart gewisser versprengter Stämme, die aber, wohlbemerkt, kaum je versucht haben, sich die sie umgebenden Fremden zu assimilieren. Der Deutsche als ζῶον πολιτιϰὸν will wesentlich nur sein und bleiben, was und wo er ist, ein lebendiger Expansionsdrang geht ihm ab. Deshalb ist dieser in seinem Ergebnis immer zentrifugal, nicht basiserweiternd gewesen: wie die Germanenstämme während der Völkerwanderung die romanische Welt nicht eigentlich germanisiert haben, sondern in ihr aufgegangen sind, so verlieren deutsche Auswanderer, so groß ihre Zahl sei, falls sie ihrer neuen Umgebung kulturell nicht hoch überlegen sind, typischerweise ihre Nationalität.
Aus diesen Erwägungen ergibt sich für die Deutschen unabweislich das Fehlen einer imperialistischen Weltmission; ihnen fehlt das Können, fehlt der Wille zu einer solchen, folglich nützt alle äußere Machtentfaltung nichts. Hier kann auch die beste staatsbürgerliche Erziehung nur wenig Abhilfe schaffen, denn diese vermag wohl den Geist zu Milden — den Willen, das Wesen beeinflusst sie nicht so leicht. Auch in diesem Punkte sind die Deutschen den Chinesen ähnlich: ihr Patriotismus ist wesentlich Kultur-Patriotismus und Heimatgefühl, politische Größe lässt sie innerlich gleichgültig. Ebendeshalb trat ihr Stolz auf diese, solange sie währte, als Anmaßung äußerlich zutage.
1 | Dass einzelne Fürsten und Staatsmänner seiner Geschichte sehr wohl Ziele hatten, ändert nichts an der Grundstimmung des Volks; diese schafft schließlich das nationale Schicksal. |
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2 | Vgl. hierzu Erscheinungswelt und Geistesmachtin Philosophie als Kunstund den Aufsatz Von der Bedeutung des Einzelnenim Anhang zu dieser Schrift. |