Schule des Rades

Hermann Keyserling

Politik, Wirtschaft, Weisheit

Deutschlands wahre politische Mission

Unpolitischer Volkscharakter

Die Deutschen sind das unpolitische Volk Europas. Hierher rührt vieles von dem, was, oberflächlich beurteilt, gegen obige Bestimmung spricht. So die Staats- und Machtverherrlichung als solche, die nirgends auf der Welt so weit getrieben worden ist und geistig und seelisch so viel bedeutet hat, wie gerade in Deutschland. Bewusst betont, verherrlicht der Mensch nie das, was er ist und hat, sondern wem seine Sehnsucht gilt; deren Gegenstand stellt er am eindrucksvollsten aus sich heraus. Spontan national empfindende Völker sind selten nationalistisch, politisch veranlagte denken wenig nach über den Staat, bescheiden sich am leichtesten, so die Engländer, bei an sich unvollkommenen Organisationen, legen wenig Gewicht, in ihrem bewussten Leben, auf ihr politisches Können. Desgleichen sind machtvolle Persönlichkeiten niemals anmaßend, selten auf äußerliche Macht bewusst bedacht und verlegen ihr Ideal eher ins Bereich der Demut. Die Machtapotheose hingegen, die wir Nietzsche verdanken, konnte allein einer zarten, überaus verwundbaren Natur entsprießen, und unter Völkern am ehesten dem deutschen, weil keines so wenig ursprüngliche Veranlagung zur Heranbildung überlegener Persönlichkeit besitzt. Im gleichen Verstande hätte Hegels extremer Etatismus a priori als spezifisch deutsche Notwendigkeit konstruiert werden können. Nun äußert sich dieses typische Gegensatzverhältnis von Erfüllung und Sehnsucht bei Völkern dahin, dass diese das, was ihnen fehlt, nicht allein in der reinen Vorstellung, als Ideal, aus sich herausstellen, sondern auch in dessen Objektivation, und gelegentlich, aber nicht minder typischerweise, auch als lebendige Gestalt. Um auf letzteren, übrigens geheimnisvollen Umstand zuerst zu sprechen zu kommen: Jesus konnte nur Jude sein, eben weil er das Judentum in sich aufhob; das im großen Ganzen kleinbürgerliche, unüberlegene Deutschenvolk ist ebendeshalb die prädestinierte Heimat seltener großer Persönlichkeit, ja sogar der supremen politischen Einzelbegabung: schwerlich bedeutet es einen Zufall, dass Wilhelm der Schweiger, Friedrich und Bismarck Deutsche waren, dass in Deutschlands Geschichte mehr politische Genien nachzuweisen sind als in derjenigen Englands und Roms. Ohne Frage besteht ein wesentlicher Zusammenhang zwischen den typischen Unzulänglichkeiten des deutschen Volks und der unerhört hohen Menschheitsstufe, die seine größten Söhne erstiegen haben. Doch hierbei will ich nicht verweilen.

Für die heutige Betrachtung wichtig ist der erste Punkt, nämlich dass Sehnsuchtsvölker typischerweise geschickt sind, das, was ihnen fehlt, als Objektivation aus sich herauszustellen. Dies ist der Seinsgrund von Preußen-Deutschlands grandioser Staatsmaschinerie. Viel wird bei dem Gegensatze zwischen Preußen und Deutschland verweilt: tiefer scheint mir, zu erkennen, dass dieses ein Preußen aus sich herausstellen und sich diesem dann, zuerst materiell, dann geistig seelisch unterwerfen musste, falls es politisch etwas bedeuten wollte. Das maschinenmäßig Seelenlose, Äußerliche des Preußenstaats war die (vorläufig wenigstens) notwendige Zusammenhangsform eines wesentlich individualistischen, organisationsfeindlichen, eigenbrötlerischen und unpolitischen Volkes, sofern es auf äußere Machtentfaltung bedacht war. Es ist ja heute noch falsch, die Deutschen als besonders organisationsfähig zu beurteilen: organisierbar sind sie freilich, aber dieses nur deshalb, weil ihnen der innere Hang zum Zusammenarbeiten, der Gleichartigkeit des Seins und Wollens voraussetzt, abgeht und Reflexion sie zum Zusammenschluss treibt; daher das ausgesprochen Äußerliche, Maschinenartige ihrer Verbände. Wenn also Deutschlands Feinde das Moderne als Absage an das Einstige beurteilen, so haben sie, äußerlich betrachtet, nicht unrecht. Wer aber in Deutschland dem Letztgewordenen ablehnend gegenübersteht, der sage sich zugleich, dass er eben damit Deutschlands politische Größe ablehnt. Der Imperialismus der Ära Wilhelms II. musste freilich scheitern, denn ohne wesentlichen Willen zur Welt, macht, der immer in Gegensatz zu vorgefasster Absicht steht (sehr bezeichnenderweise ist England unwillkürlich, ohne vorbedachten Plan, zum größten aller Weltreiche herangewachsen), nutzt keine Machtentfaltung. Aber das Werk Bismarcks hätte weiterleben, es hätte sich auswachsen können, nach Auflösung der preußischen Schale im deutschen Fleisch, zu einem wahrhaft lebendigen Organismus … Hier setzt die Tragödie ein. Allein im Völkerleben bedeuten auch Katastrophen wenig, solange Lebenswille im Volk lebendig ist. Solches gilt sicher vom deutschen. Deshalb glaube ich nicht, dass der traurige Ausgang des Weltkriegs, trotz seiner weitnachwirkenden Folgen, Deutschlands wahre Mission irgendwie in Frage gestellt hat. Es hat eine; es hat gerade eine politische Mission. Diese liegt aber, obschon in gerader Linie von Bismarck her gesehen, der niemals an eine imperialistische geglaubt hat, in genau senkrechter Richtung zu der, die ihm der letzte Hohenzoller wies. Deutschlands wahre politische Mission beruht, so paradox dies klinge, auf dem wesentlich unpolitischen Volkscharakter.

Hermann Keyserling
Politik, Wirtschaft, Weisheit · 1922
Deutschlands wahre politische Mission
© 1998- Schule des Rades
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