Schule des Rades

Hermann Keyserling

Politik, Wirtschaft, Weisheit

Deutschlands wahre politische Mission

Staatsidee

Wir münden nämlich in eine Geschichtsperiode ein, deren wesentlichster Charakterzug wohl der ist, dass das Politische in ihr unaufhaltsam an Bedeutung verliert. Politik ist eo ipso Machtpolitik, eine andere kann es nicht geben; sie bezeichnet die geistige Tätigkeit, durch die Individuen und Völker sich in ihrem Dasein behaupten und ihren Aufstieg fördern, sie ist die Bewusstseinsform des allgemeinorganischen Daseinskampfes. Deshalb kann sie als solche nie idealistisch, sondern muss sie realistisch sein, kann sie sich um Ideale genau nur insoweit drehen, als diese Lebensnotwendigkeiten exponieren, ist sie amoralisch ihrem Wesen nach und wird unabwendbar so lange unmoralisch, ja gemein erscheinen, als die Menschen und Völker nicht seelisch so weit gebildet sind, dass Leben und dem ethischen Ideal gemäß leben ihnen Gleiches bedeuten. Die Begriffe des Rechts und der abstrakten Moral kommen für die Politik unmittelbar nicht in Betracht, als welche sich ausschließlich mit Macht- und Gleichgewichtsproblemen befasst. Wenn nun, wie dies heute der Fall ist, alles Menschheitsstreben dahin geht, dass das Recht, nicht die Macht, über die Beziehungen zwischen den Völkern entscheiden und das moralisch Richtige das Praktisch-Zweckmäßige dominieren soll — was bedeutet dieses anderes, als dass die Zeit des Primats des Politischen im Völkerleben ebenso um ist, wie dies vom Leben der Individuen schon lange gilt? Zur Zeit des Faustrechts beruhte alles Leben auf Politik. Auch heute muss jeder im kleinen Politik treiben, und Gleiches wird, in stetig verringertem Maße freilich, bis zum jüngsten Tage der Fall sein, aber die Politik überwiegt im Einzelleben nicht mehr, außer bei Glücksrittern, Spekulanten und Verbrechern; wenn einstmals nur der tüchtige Politiker überhaupt gedeihen konnte, so ist heute für die Meisten ein beinahe apolitisches Leben möglich, weil Normen geschaffen worden sind, die das wechselnde Gleichgewicht der Kräfte von Hause aus im Sinn des vernünftigen Endresultats eines möglichen Kampfes regeln, und dieses kann, in der Idee, so weit gehen, dass aller Rangstreit überflüssig würde, weil jedem von vornherein sein Platz gemäß seinen innerlich rechtmäßigen Ansprüchen gesichert würde. Dieser Zustand bezeichnete offenbar das Ideal, denn innerhalb seiner würden geistige und seelische Werte allein das Leben beherrscher. Hieraus aber folgt, dass Politik überhaupt ein zu Überwindendes ist, dass alles, was in ihre Sphäre gehört, ein Vorläufiges darstellt und überflüssig gemacht werden muss.

Diese Erkenntnis dämmert heute schon den Völkern. Daher das Postulat, dass das Recht fortan über Machtverschiebungen entscheiden soll, der wachsende Hass gegen jede rohe Gewalt, die stetig zunehmende Kriegsfeindlichkeit, das allgemeine Bestreben, durch einen von einem internationalen Gerichtshof regierten Völkerbund einer besonderen Staatenpolitik im selben Sinn den Boden unter den Füßen zu entziehen, wie dies für individuelle Politik schon längst geschehen ist. Wie hier, so soll auch dort postulierte ursprüngliche Solidarität den ursprünglichen Gegensatz ersetzen. Und wie schwierig dies Ideal immer zu verwirklichen sei — es kann und wird schließlich gelingen, denn alle starken Impulse der Zeit tendieren dahin.

Dann wird Politik überhaupt als subalterne Tätigkeit erscheinen, politische Befähigung keinen Titel zur Höchststellung mehr konstituieren, und das allein wird als wertbestimmend gelten, was dem Wesentlichen, dem Ewigen Ausdruck verleiht. Dann wird sogar Regierenkönnen das unverhältnismäßige Prestige, das es heute besitzt, verlieren. Ein südindischer Brahmane erwiderte einmal auf meine Frage, ob sie, die Inder, die englischen Beherrscher nicht fortwünschten:

Wozu sollen wir sie fortwünschen? Zu dem, was sie hier tun, sind sie gerade geschickt. Wessen bedarf es denn zum Regieren? Einer so großen Oberflächlichkeit, dass es einem nur um äußerliche Gesamtwirkungen zu tun ist, ausschließlicher Beachtung der Resultanten mit Ausschluss der Komponenten, wozu seelische Rohheit gehört, prinzipiellen Nichteingehens auf Gründe und Motive, der Fähigkeit, sich mit Gleichgültigem und Ekelhaftem abzugeben. Hierzu sind wir Inder zu tief, zu vornehm, zu fein, den Engländern nun macht ihre Schutzmannstätigkeit sogar Freude…

Dieser Mann verkannte freilich die absoluten Vorzüge der Charakteranlage, die den Herrscher macht. Erst wenn ein Herrenvolk so dächte wie jener, wenn höchste Fähigkeit zur Selbstregierung zupaar ginge mit der Erkenntnis der Unwesenhaftigkeit politischen Könnens, wenn Menschenwürde und Volksmacht so spräche, wäre ein höchster Zustand erreicht1. Aber freilich war jener Brahmane der Wahrheit näher als die, welche im Staatsmann als Techniker den höchsten Menschen verehren.

Politik soll überflüssig werden: das ist das neue Völkerpostulat. Aber der Weg zu seiner Verwirklichung ist gepflastert mit politischen Problemen2. Das ist der Grund jener Überpolitisierung, die eben jetzt in allen Landen stattfindet. Dieser bedarf es erstens, auf dass die früheren Lebensformen, die der Neuordnung im Wege stehen, überhaupt gesprengt oder verwandelt würden, zweitens zur Herausarbeitung, in der Objektivierung sowohl als in der Gesinnung der Menschen, neuer Gestaltungen, deren Ineinandergreifen wirklich jedem ein individuelles Menschsein, ein Leben, das sich ausschließlich an Menschheitswerten orientierte, ermöglichte. Solches Leben ist, seitdem der erreichte Bewusstheitsgrad ein Sich-Bescheiden in patriarchalischem Zustande ausschließt, für die Massen nur auf der Basis vollkommener politischer Freiheit denkbar, weil diese allein ihnen die psychologische Gewissheit gibt, dass keinerlei äußere Schranken das berechtigte Aufstreben des Einzelnen hemmen werden. Deshalb ist Demokratie, so oder anders verstanden, aller Völker gegenwärtiges Programm. Aber die Politisierung, deren es zur Herbeiführung und Ausgestaltung dieser bedarf, bedeutet gleichwohl ein Vorläufiges, nämlich das Mittel, um schließlich hinauszugelangen über alle Politiknotwendigkeit. Jeder Mensch soll ganz Mensch sein, jede Nation frei sich entwickeln können ihrem Ideale zu: hierzu bedarf es zunächst einer vollkommenen Organisation des nationalen wie internationalen Zusammenhangs, die nur gelingen kann, wenn die Massen genügend politisiert sind, um zu verstehen, was es gilt, und die Staatsformen genügend demokratisiert, um möglichst allen Sonderbestrebungen die Interferenz zu ermöglichen. Das erreichte demokratische Ideal würde aber nicht bedeuten, dass nun jedermann fortdauernd mitwirkte in der Gesamte Organisation, sondern dass diese gleichsam automatisch bestände und funktionierte.

Dass dieser sein eigentlicher Sinn von den Massen wenigstens geahnt wird, beweist der Misskredit, in den der Gedanke der liberalen Freiheit geraten ist, und die wachsende Neigung, die Regierung wieder bestehenden festen Organisationen zu übertragen. Wir tendieren, aktuell ausgedrückt, offenbar über den Parlamentarismus hinaus zu einem neuen Obrigkeitsstaat, dessen Regierung zwar aus dem Willen der Regierten hervorginge, alle Klassenherrschaft ausschlösse und allen vorhandenen Kräften sowohl gerecht würde als diese voll zum Ausdruck brächte, von der wechselnden Stimmung der Massen jedoch unabhängig wäre, über dem Ganzen stände und eine wesentlich neutrale Instanz bedeutete; wir tendieren, über alle Dilettantenexperimente hinweg, zu einer Organisation, in der Kompetenz allein als Regierungsfähigkeitsnachweis akzeptiert würde, in der wissenschaftliche Erkenntnis in letzter Instanz entschiede und das objektiv Richtige und Zweckmäßige über dem Gewünschten und Gewollten den endgültig anerkannten Vorrang hätte. Im Sinne der Machtverteilung ist in dieser Richtung die amerikanische Demokratie am weitesten gelangt, deren Zentralregierung während ihrer Amtszeit autokratisch herrscht; die Idee hat am schärfsten, wenn auch einseitig, der französische Syndikalismus herausgearbeitet; das abstrakte Ideal liegt vermutlich in der Richtung jenes national guild-system, um dessen Banner sich immer mehr englische Sozialreformer scharen, weil es dem Individuum mehr Freiheit sichert, als in irgendeinem sozialistischen Staatswesen möglich wäre. Aber zur vollen Verwirklichung der neuen Staatsidee, soweit solche denkbar, am berufensten ist — Deutschland.

1 Diesen letzten Satz bitte ich die zu meditieren, die mir vorwerfen, ich predige Fellachenmoral und sofortige Entpolitisierung (November 1921)
2 Vgl. die Anmerkung auf S. 57.
Hermann Keyserling
Politik, Wirtschaft, Weisheit · 1922
Deutschlands wahre politische Mission
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