Schule des Rades

Hermann Keyserling

Politik, Wirtschaft, Weisheit

Deutschlands wahre politische Mission

Menschheitssehnsucht

Deutschlands mögliche Mission steht heute weniger in Frage denn je. Dieses gilt selbstverständlich auch von der geistigen, die niemals in Frage stand, zeitweilig aber gleichfalls, dank der verfehlten Richtung, in welcher der bewusste Geist sich verrannt hatte, verdunkelt erschien. Auch ihr wird das äußere Missgeschick zustatten kommen: so wenig wahr es im allgemeinen sei, dass geistige Bedeutung politische Ohnmacht voraussetze — bei Sehnsuchts- im Gegensatz zu Erfüllungsvölkern ist Nichthaben wohl wesentlich förderlich, genau wie beim einzelnen Dichter und weitsichtigen Täter. Nichtsdestoweniger ist Deutschlands Unglück, sein schier beispiellos steiler Sturz tieftragisch; dieses nicht zu erkennen, nicht zu fühlen, wie es seitens so vieler geschieht, beweist eine seelische Stumpfheit, die einen verzweifeln lassen mag an der deutschen Seele … Alles, was der unbefangene Mensch an den Völkern der Geschichte zunächst verehrt, liegt geschlagen am Boden; Macht, Größe, Ehre sind hin. Es ist ja nicht wahr, was die öffentliche Meinung, je weniger sie dessen gewiss ist, desto lauter verkündet: bei den Werten, an deren Maßstabe gemessen Deutschland versagt hat, handele es sich um keine wahren Werte: wohl handelt es sich um solche. Was der Knabe an der Antike bewundert, dem wird auch die späteste Menschheit Ehrfurcht zollen. Nach den höchsten Erfüllungswerten beurteilt, hat Deutschland versagt, darüber hilft keine Sophistik hinweg. Es hat sich preisgegeben, leichtsinnig, würdelos, frohlockend schier. Nur weil jene in einer Übergangszeit nicht bestimmen, nur deshalb bewertet der unabhängige Sozialist das jüngst Geschehene dem historischen Sinn nach richtiger als der Traditionalist. Im unpolitisch zeitlosen Verstande hat dieser recht. Nichts wird der Geschichte als dauernd groß gelten, was nicht Charakter, Würde, Selbstverleugnung und Mut im höchsten Maße Ausdruck verlieh. Auch ich beurteile die Revolution in keinem Sinn als groß. So sehr ich den Umschwung an sich begrüßt habe, weil er Deutschlands bestem Geist die Wirkungsmöglichkeit zurückerobert hat — ich kann mir nicht verhehlen, dass es wieder einmal Niedriges war, das dem Hohen zum Sieg verholfen hat. Und überlasse ich mich ganz unbefangen meinen Eindrücken, schaue ich sie mit der Vergangenheit in eins zusammen, so überwältigt mich die Tragik der deutschen Geschichte. Nie und nirgends, seit den Gestalten der griechischen Mythologie, ist das Schicksal Großem weniger hold gewesen. Hier, wie nirgends anderswo, hat das Edelste anscheinend immer umsonst gelebt, ist das Gewaltige historisch folgenlos geblieben.

Die vier Jahre herrlichsten Heldenmuts und beispiellosen Durchhaltens erscheinen, dank dem Ausgang des Krieges, wie weggewischt. Sie waren umsonst. So kam es von jeher. Für Deutschland schier umsonst hat Karl der Große gelebt, umsonst verging die Stauferherrlichkeit. Luthers gewaltige Größe leitete, im Gegensatz zur viel bescheideneren Calvins, nicht allein ein politisches, sondern ein religionsgeschichtliches Fiasko ein. Friedrichs des Großen Staat verdarb, sobald er starb, und auch von Bismarcks Werk gilt, dass es, vom Standpunkte seines Schöpfers beurteilt, gescheitert ist. Die bismarckische Entwicklung erscheint wie abgeschnitten, mit unglaublichem Leichtsinn sind nicht allein die Individuen, sondern die Stämme Deutschlands dabei, ihres größten Staatsmannes Leistung zu vergessen. Den psychologischen Sinn dieses Verhältnisses habe ich schon dargelegt. Jetzt, zum Schluss, wende ich mich dem metaphysischen zu. Denn Tragik betrifft ein metaphysisches Problem, welches unmittelbar ins Herz des Lebens weist.

Wie der Mythos im allgemeinen den menschlich wahrsten Ausdruck der Wirklichkeit darstellt, so liegt das ganze Tragikbestimmende des deutschen Volks im Nibelungenliede vorgebildet. Gewaltigstes Heldentum, das fruchtlos verdirbt. Treue, die Trug zeitigt, Größe, schuldig durch Kleinheit gefällt, Tiefe, in Leichtsinn zuschanden werdend, Geist, der zuletzt nur den Zielen des Ungeists dient. Wie Siegfrieds großartige und doch sinnlose Laufbahn deutsches Heldentum ewig symbolisiert, so nimmt der Nibelungen Zug an den Donaustrand aller deutschen Erobererzüge Sinn für immer vorweg. — Das deutsche Heldentum war immer und ist wesentlich zwecklos, dies aber beweist nicht allein politische Unfähigkeit — es beweist, dass dieses Heldentum ein absolutes ist, letzter Selbstzweck gleich der Wahrheit und der Kunst.

Das wesentlich Unpolitische des deutschen Volks bezeichnet somit den Mutterschoß jener ihm allein eigenen Richtung auf das Absolute, die in der deutschen Sachlichkeit ihren banalen, im einzelnen Helden, Künstler und Weisen ihren vollendeten Ausdruck findet. Umgekehrt aber ist vielfältiges Versagen wohl der Preis, den es für seine größten Einzelleistungen zahlen muss. Das wahrhaft Große muss tragisch enden auf dieser Welt, in der nur zweckhafte Gesinnung dauernd Erfolg vermittelt, und endet es doch einmal gut, so lag seitens des Weltprozesses ein erfreuliches Versehen vor. Alles Große weist über dieses Leben hinaus — dies beweist schon seine Absichtslosigkeit allein, denn wenn es ihm unmittelbar dienen wollte, es müsste Absichten haben. Aber da dieses Jenseits unser aller eigentliches Ziel ist, so ist das Zwecklose viel wichtiger für uns als alles Nützliche. Nur absolutes, und deshalb tragisch endendes Heldentum wirkt dauernd begeisternd. Für die Nachwelt wird der Hindenburg, der schlicht und treu, nach unerhörten Siegen, seinen Ehrgeiz in einen vollendet durchgeführten Rückzug setzte, der wie selbstverständlich seine Laufbahn in werktäglicher Demobilisierungsarbeit abschloss, viel größer dastehen, als er’s als lorbeerbekränzter Friedensdiktator getan hätte. Im gleichen Sinn ist Deutschlands Bedeutung gerade deshalb für die Menschheit unermeßlich groß, weil sein Schicksal, soweit es groß ist, nur tragisch vorgestellt werden kann. Wie sollte der deutsche Aufstieg schuldlos stattfinden? Nur der vollendet Wahrhaftige ist tiefster Lüge fähig, nur im Gotte sind Teufelsmöglichkeiten immanent, nur der Wissende kann sündigen wider den heiligen Geist. Seine einzigartige Bewusstheit macht den Deutschen nicht allein zum Geistespionier, sie bewirkt, dass der Makrokosmos möglichen Menschheitsschicksals in ihm die gedrängteste Spiegelung erfährt. Sind wir nicht alle wesentlich unzulänglich? Führt nicht aller Anstieg am Abgrund dicht vorbei? Ist nicht alle Größe kurzlebig, hinfällig, alle Masse gemein? — Das deutsche Volk könnte aufhören, ein Machtfaktor auf Erden zu sein; gleich den Juden könnte es zersprengt werden. Seine ewige Bedeutung wird nie in Frage stehen, weil es das Volk der letzten Sehnsucht ist, der vorweggenommenen Menschheitssehnsucht.

Hermann Keyserling
Politik, Wirtschaft, Weisheit · 1922
Deutschlands wahre politische Mission
© 1998- Schule des Rades
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