Schule des Rades

Hermann Keyserling

Politik, Wirtschaft, Weisheit

Anhang zu Deutschlands wahre politische Mission

Die Zukunft des Preußentums

Oswald Spengler hat dem ersten Bande seines genialischen Werks Der Untergang des Abendlandes noch vor Herausgabe des zweiten, welcher die weltgeschichtlichen Perspektiven darlegen soll, eine kleine Schrift folgen lassen, welche einige von dessen Ergebnissen offenbar vorwegnimmt, sie heißt: Preußentum und Sozialismus (München 1919, Oskar Beck). Diese Schrift liest sich weniger angenehm als das große Werk, weil im beschränkten Raum die grandiose Intuition des Mathematikers, in der tatsächliche Irrtümer durch formalkünstlerische Konstruktion von vornherein gerechtfertigt erscheinen, nicht zur Geltung kommt. Sie gehört nicht in die Sphäre des Jenseits von richtig und falsch, und da sehr vieles in ihr unzweifelhaft falsch ist, zumal was die Beurteilung des englischen Wesens betrifft, so tut es dem Freunde des großen Werks, dessen hohe Bedeutung trotz allem, was sich dagegen einwenden lässt, feststeht, mitunter leid, dass Spengler sie geschrieben. Dennoch sollte sie von möglichst vielen gelesen werden, denn einige Wahrheiten, die in Deutschland noch immer Wenigen bewusst zu sein scheinen, enthält sie doch: dass Preußentum und Sozialismus letztlich zusammenfallen, dass der Marxismus nicht die Vollendung, sondern eine Verfälschung des sozialistischen Gedankens bedeutet und sich als solche eben heute erweist, und dass der deutsch-englische Gegensatz ideell mit dem zwischen sozialistischer und liberalistischer, nicht zwischen dieser und konservativer Weltanschauung zusammenfällt. Diese Gedanken sind richtig dem Sinne nach; in meiner im Frühjahr 1919 bei Otto Reichl in Darmstadt erschienenen Schrift Deutschlands wahre politische Mission habe ich selbst ähnliche dargelegt. Auf ihre nähere Begründung verzichte ich hier absichtlich, damit jeder Interessierte Spenglers Schrift persönlich zu Rate ziehe.

Hat er dieses nun getan, dann greife er — falls er es noch nicht gelesen haben sollte — unbedingt auch zu Spenglers großem Werk. Dessen unbeirrbarer Optimismus Deutschlands Zukunft betreffend (den übrigens jeder Tiefblickende im In- und Auslande teilt, was immer uns für die nächsten Jahre bevorstehen möge), allein schon macht diese Lektüre zum moralischen Gewinn. Nur glaube er dem Autor nicht jede Behauptung aufs Wort, zumal was historische Homo- und Analogien betrifft: die Preußen sind keine Römer, und das Prinzip, das sie vertreten — das sozialistische — wird schwerlich je zur Vorherrschaft gelangen; deshalb nicht, weil ein System der Über- und Unterordnung, bei Hintenanstellung der freien Individualität, der Züchtung überlegener Charaktere hinderlich ist, wo diese gerade in der nächsten Zukunft auf dem Untergrunde machtbewusster Massen mehr als je früher bedeuten werden. Die sozialistische Welt in eigenster Gestalt wird schwerlich je ein größeres Territorium einnehmen, als die lutherische, und im übrigen teils korrigierend, teils regenerierend auf die individualistische wirken, so wie das Luthertum seinerzeit auf den Katholizismus; oder aber, gleich jenem im Fall des Calvinismus, aus sich heraus eine lebendigere Gestalt gebären. Immerhin bedeutet der sozialistische Gedanke für Norddeutschland zum mindesten und wahrscheinlich für ganz Mitteleuropa die Macht, die einzige, welche als positive in Betracht kommt. Und da ist es Spenglers Verdienst, verdeutlicht zu haben, das nicht der heutige marxistische, sondern der traditionell altpreußische Ausdruck seiner der ihm ursprünglich gemäße ist.

Dies sollten alle Einsichtigen unter den Konservativen wohl erwägen. Leider scheint es deren bis heute nicht viele zu geben. Begriffsstutzig, buchstabenfromm, unfähig, durch die Erscheinung hindurch das Wesen zu erkennen, kämpfen die meisten blind an gegen die neue Zeit, wo es ihr eigenster Beruf wäre, diese zu führen. Selbstverständlich wird der heutige Zustand nicht anhalten, aber was dauernd an dessen Stelle treten kann, ist nicht das Frühere, sondern ein Neues, das zum bewährten Alten im Verhältnis der Enkelschaft stände. Umwälzungen wie die der letzten Jahre sind nie mehr rückgängig zu machen, noch sollen sie es sein. Jedes bewährte Prinzip wird in neuer Gestalt in die Erscheinung zu treten haben. Wahrscheinlich wird Deutschland wieder einmal monarchisch werden, aber die neue Monarchie wird ohne Zweifel, wenn sie bestehen soll, den Charakter eines modernen Cäsarismus tragen, der die sozialisierte deutsche Welt zur Machteinheit zusammenfasst. Seinen wahren Cäsar hat Deutschland im Grunde schon gehabt; dies war Fürst Bismarck. Wie Cäsar die Republik persönlich nicht aufheben mochte und doch die Urform erschuf für das spätere römische Imperium, so hielt Bismarck persönlich treu zum angestammten patriarchalischen Preußenstaat und setzte doch zugleich das Prinzip in die Welt, welches das Überkommene, sofern es verjährt war, stürzen musste. Buchstäblich alles, was sich positiv entwickelt, und das am meisten vielleicht, was zu Bismarck äußerlich im Gegensatz steht, geht in Deutschland auf seinen Genius zurück. Dies gilt zumal vom unaufhaltsam sich verwirklichenden Volksstaat. Während Wilhelm II. der Nachwelt als eine Art Brutus erscheinen wird. Deshalb täten die Konservativen, sofern sie dem deutschen Volk gegenüber nicht pflichtvergessen werden wollen, gut, sich zu Bismarcks Geist, nicht zu seiner sterblichen Hülle zu bekennen und zu verstehen, dass der Zusammenhang zwischen beiden, der 1890 riss, seit 1918 für immer aufgehoben ist.

Hermann Keyserling
Politik, Wirtschaft, Weisheit · 1922
Anhang zu Deutschlands wahre politische Mission
© 1998- Schule des Rades
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