Schule des Rades

Hermann Keyserling

Prolegomena zur Naturphilosophie

I. Der kritische Gesichtspunkt

Das Wirkliche

Man suche nur nichts hinter den Phänomenen:
sie selbst sind die Lehre.
   Goethe

Der Mensch ist als wirklich in die Mitte einer wirklichen Welt gesetzt und mit solchen Organen begabt, dass er das Wirkliche und nebenbei das Mögliche erkennen und hervorbringen kann. Alle gesunden Menschen haben die Überzeugung ihres Daseins und eines Daseienden um sie her. — Diese Erklärung Goethes wird jeder denkende Geist von Urteil und Überblick unterschreiben müssen: die Theorie der Unwirklichkeit dieser Welt, die auf dem halben Wege zur Selbstbesinnung allerdings plausibel genug erscheint, und von den ältesten Zeiten bis aus den heutigen Tag so viele Verfechter gefunden hat, dass sie in vieler Augen geradezu als Grundlehre des Idealismus gilt, hält einer gründlichen Prüfung und einer ausgereiften Kritik nicht stand. Wohl bezeichnet die gegebene Wirklichkeit keine logische Notwendigkeit, wohl sind wir außerstande, die Objekte in ihrem Ansichsein, abgesehen von ihrem Vorgestelltwerden, zu erfassen; wohl sind uns nur Erscheinungen zugänglich, deren Eigentümlichkeiten für uns durch unsere Erkenntnisformen bedingt sind: aber aus diesen Bestimmungen folgt nie und nimmer, dass unsere Welt eine unwirkliche sei. Vielmehr hat die kritische Lehre, dass unsere Welt Vorstellung und deren Bestandteile Phänomene sind, genau den gleichen Sinn wie die Überzeugung des gesunden Menschenverstandes von der Wirklichkeit des Gegebenen. Schon Kant hat es richtig erkannt und ausdrücklich ausgesprochen: die transzendentale Idealität ändert nichts an der empirischen Realität. Es gibt nämlich nichts, weder unter den Gegenständen noch unter den Gedankendingen, was nicht zur Vorstellungswelt gehörte; was für mich da sein soll, muss mir bewusst geworden sein, und das Bewusstsein kennt nur Erscheinendes. Deswegen kann es nicht gelingen, solange man bei der Sache bleibt und nach Erkenntnis des Wirklichen strebt, Erscheinendes von Nichterscheinendem abzuleiten. Denken mag ich freilich was ich will, wenn ich die Welt als Schleier des Nichts oder als trügerisches Gewand der Universalien zu definieren Lust verspüre, so bleibt mir das unbenommen; nur stellen derartige Theorien keine Erkenntnisse dar, da sie, als willkürliche Verknüpfungen freigesetzter Begriffe, von aller Gegebenheit unabhängig sind und die Welt, in welcher wir faktisch leben, nicht berühren. Es ist recht eigentlich sinnlos, von einem Weltbegriffe, der außer Zusammenhang mit der Erfahrung gewonnen wurde, auszusagen, dass er richtig sei, er liegt außerhalb des Rahmens des Erweisbaren, und was dem Kriterium der Richtigkeit nicht unterliegt, kann alles sein, nur keine wissenschaftliche Erkenntnis.

Bleiben wir nun bei der Art des Philosophierens, deren Ergebnisse richtig oder falsch sein können, so gelangen wir, was wir auch unternehmen mögen, zu keinem Jenseits der Vorstellungswelt. Alle früheren Versuche, hinter die Erscheinungen zu blicken, sind gescheitert und allen künftigen steht das gleiche Schicksal bevor. Schopenhauers Lehre z. B., die äußere Natur sei ein bloßes Gehirnphänomen, wird durch die einfache Überlegung ad absurdum geführt, dass dieses weltenschaffende Gehirn ein Teil ebendieser Außenwelt ist, als deren Realgrund daher nicht angenommen werden darf, und seine Doktrin, einzig wirklich sei der Wille, wie er die Grundlage des Selbstbewusstseins bildet, schlägt der handgreiflichen Tatsache ins Gesicht, dass diese Grundlage des Selbstbewusstseins ein empirisches Phänomen gleich allen anderen ist. Schopenhauers Willensmetaphysik bedeutet das fragwürdige Unternehmen, aus einer gegebenen Erscheinung, deren Wirklichkeit dekretiert wird, alle übrigen Gegebenheiten, die genau der gleichen Sphäre angehören aber sämtlich unwirklich sein sollen, abzuleiten, sein Illusionismus fällt daher in sich selbst zusammen. Und das gleiche gilt von jeder anderen Metaphysik, die aus einem auserwählten Wirklichen heraus die sonstige Wirklichkeit zu konstruieren, oder von jenem her über den absoluten Charakter dieser zu entscheiden unternimmt. Es ist ganz unmöglich, auf dem Wege der Introspektion zu nicht-phänomenalen Voraussetzungen zu gelangen, es ist ein verzweifeltes Beginnen, von einer metaphysischen Wirklichkeit her die Unwirklichkeit der Erscheinungswelt dartun zu wollen1. Und mit den nicht-metaphysischen Weltanschauungen, welche zwar von einem nicht-phänomenalen Substrate der Phänomene nichts wissen wollen, gleichwohl aber die Phänomenalität als Subjektivität verstehen, also im objektiven Verstande als Unwirklichkeit, ist es nicht besser bestellt. Denn diese enden, wenn sie konsequent sind, entweder bei der absurden Position des Solipsismus, oder aber bei jener Kosmologie abenteuerlichster Art, welche die objektive Welt aus subjektiven Empfindungen aufzubauen unternimmt. Durch letztere ist augenscheinlich gar nichts für die Erkenntnis gewonnen, da sie die empirische Wirklichkeit wohl unbeanstandet stehen lässt, aber auf eine Weise erklärt, die jedes Verständnis ausschließt: wie soll man zum Begriffe einer Gegebenheit gelangen, wenn man sie zuerst als objektiv existent voraussetzt, dann aber als subjektive Spiegelung definiert, die Ding an sich wäre2, und keinerlei Gespiegeltem entspräche? Es ist eben unsinnig, die objektive Unwirklichkeit der Erscheinungen zu behaupten, da Erscheinungen das einzige sind, was sich im Bewusstsein überhaupt nachweisen lässt und die bloße Tatsache eines Bewusstseins, die jeder Denkende wohl oder übel voraussetzen muss, an das Dasein eines Bewusstwerdenden gebunden ist; die Wirklichkeit der Phänomene haben wir, wie wir uns auch stellen, wie immer wir sie deuten mögen, vorauszusetzen. Diese phänomenale Wirklichkeit, die einzige, die uns auf dem Wege der Erfahrung zugänglich ist, umfasst aber die gesamte Vorstellungswelt. Sie umfasst die Gegenstände, die wir sinnlich wahrnehmen, die Begriffe, die wir an ihnen bilden, die freien Schöpfungen der Phantasie. Es besteht für die allgemeine Phänomenologie, für die Wissenschaft vom Daseienden überhaupt, kein prinzipieller Unterschied zwischen physischen und psychischen Erscheinungen, zwischen objektiv nachweisbaren Gegenständen und subjektiven Trugbildern; alles, was es gibt, ist ihr im gleichen Sinne Phänomen und folglich im gleichen Sinne wirklich. Wer etwa Ideen für ein minder Wirkliches halten sollte als die Kräfte der anorganischen Natur, der überlege doch einmal, worin denn überhaupt Wirklichkeit sich äußert: sie äußert sich in der Wirkung oder, allgemeiner, der Wirkungsfähigkeit. Und da erscheint es denn doch mehr als bedenklich, den Ideen Jesu Christi oder Buddhas eine geringere Wirklichkeit zuzuerkennen als der Schwere oder dem osmotischen Druck. Wenn etwas im höchsten Sinne wirklich ist, dann sind es geistige Mächte, denn diese vermögen die Welt nicht bloß festzuhalten, sondern auch vorwärtszubewegen, sie bringen Neues hervor. Freilich setzt die Wirkung von Ideen aufnahmefähige Geister voraus, wo diese fehlen, dort vermögen sie nichts: aber ganz im gleichen Sinne ist das Licht seiner spezifischen Existenz nach an sehende Augen gebunden und der Akkord an ein hörendes Ohr. Gedanken und Gefühle, Einbildungen und Wollungen sind genau so reelle Wirklichkeiten wie die Gegenstände, die wir betasten können, denn sie sind als Tatsachen wirksam, sind nachzuweisen und abzuleiten. Wir dürfen also sagen: Phänomen ist alles oder nichts; und Phänomenalität ist gleichbedeutend mit empirischer Wirklichkeit.

Daher kann es niemals und nirgends des Forschers Aufgabe sein, das Wirkliche aus dem Schein herauszulösen — er weiß nichts von unwirklichen Erscheinungen; sein Problem ist einzig die Feststellung des Tatbestandes und dessen erschöpfende begriffliche Fassung. Diese Feststellung ist nun freilich weniger einfach als es den Anschein hat, und der Begriff ist nicht ohne weiteres zu gewinnen. Eine Tatsache steht erst in dem Augenblicke fest, wo sie nach Umfang und Charakter bestimmt wurde, und sie ist erst begriffen, wenn sie im Zusammenhang übersehen werden kann. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit als gültig vorausgesetzter Bestimmungsmethoden und eines zu schaffenden Systems, das den Zusammenhang der Phänomene deutlich macht. Ein Gespenst z. B, ist gewiss nichts Unwirkliches; seine Wirklichkeit, im Falle es jemandem erschien, setzt der Forscher unbedingt voraus. Um jedoch festzustellen, ob es tatsächlich gesehen wurde, wird er Untersuchungen anstellen, von denen er voraussetzt, dass sie die Frage entscheiden können, und um den Tatbestand zu begreifen, wird er ein System ersinnen, das den Zusammenhang der möglichen Realität des Gespenstes mit allen sonstigen Realitäten zu überblicken gestattet. Im vorliegenden Falle wird er zwischen der Wirklichkeit im Sinne des psychologischen Erlebnisses und der Wirklichkeit im Sinne der äußeren, objektiv festzustellenden Natur unterscheiden und wahrscheinlich zur Entscheidung gelangen, dass das Gespenst nur im ersteren Sinne wirklich ist, im Rahmen der Natur hingegen keinen Platz findet und folglich als Halluzination zu begreifen ist. Ohne ein System solcher Art ist überhaupt kein Begriff zu gewinnen, es sind aber unendlich viele Systeme möglich, die im gleichen Sinne anwendbar sind, und sich nur durch den Grad ihrer Zweckmäßigkeit dem Werte nach unterscheiden. Das elementarste von allen ist das auf äußeren Merkmalen fußende, das System als vollständiger Katalog, ein rein statisches Gebilde, das nur den aktuellen Tatbestand umrahmt und nichts von dessen Gesetzen zum Ausdruck bringt. Die Zweckmäßigkeit eines solchen ist überaus gering, in mnemotechnischer Hinsicht höchstens kann es nützen, es spielt daher in der Wissenschaft kaum eine Rolle. Nur dynamische Systeme, d. h. solche, welche die allgemeinen und konstanten Beziehungen zwischen verschiedenen und wechselnden Erscheinungen festhalten und womöglich einen augenblicklichen vollständigen Überblick über alles nur mögliche Geschehen innerhalb aller konstruierbarer Räume und zu allen erdenklichen Zeiten gestatten, entsprechen wirklich den Anforderungen der Forschung. So hat sich die am weitesten vorgeschrittene Naturwissenschaft, die Physik, über das Konkrete schon vollständig erhoben und arbeitet ausschließlich mit abstrahierten Beziehungen zwischen Symbolen, die ihrerseits nicht für Gegenstände, sondern für Relationen stehen. Aber diese Vereinfachungen, Verdichtungen und Zurückführungen führen doch nirgends aus dem Rahmen der ursprünglichen Gegebenheit in eine andere Welt hinaus: kein Begriff der Physik, so abstrakt er auch sei, entspricht einer nichtphänomenalen Wirklichkeit. Atome, Elektronen, Ätherwirbel, unsichtbare Massen und Bewegungen, soweit es solche gibt und sie nicht willkürliche Hilfsannahmen der Wissenschaft bedeuten, sind Naturerscheinungen und weiter nichts; sie sind genau so wirklich und genau im gleichen Sinne wie die zusammengesetzten Phänomene, durch deren Analyse sie entdeckt wurden3. Freilich gehören viele Annahmen der Physik nicht in die Sphäre der objektiven Wirklichkeit: es sind Werkzeuge der Forschung, Hilfsmittel, Erkenntnisschemen; solche Wesenheiten sind wirklich nur als Geistesgebilde, das sie anerkennende Bewusstsein ist ihr Seinsgrund und ihr einzigstes Gebiet, in den Rahmen der objektiv zu erforschenden Natur gehören sie nicht hinein. Aber dies bedeutet offenbar nicht, dass sie keine Erscheinungen wären, sondern dass sie in engerem Sinne Erscheinungen sind als die Phänomene, zu deren Bewältigung sie dienen. Phänomenologie überhaupt bleibt die Wissenschaft unter allen Umständen, aus dem Umkreis der Phänomene hinauszuführen geht über ihre Kraft, Goethe hat der Forschung im allgemeinen einen Wahlspruch gegeben, den jeder einzelne Forscher zu dem seinigen machen sollte, denn ein besserer lässt sich nicht ausdenken. Er lautet:

Man suche nur nichts hinter den Phänomenen: sie selbst sind die Lehre.

Die Phänomenologie kann nun naiv oder kritisch sein, und letzteres in verschiedenem Grade und Umfange. Naiv ist sie, insofern sie bei der bloßen Feststellung des Tatbestandes Genüge findet, ohne nach dessen Sinne zu fragen, kritisch, soweit sie auf Sinn und Stellung der Phänomene Rücksicht nimmt und das Einzelne im Zusammenhange betrachtet. Naiv ist jede Einzelwissenschaft als Spezialdisziplin, da sie den Ausschnitt der Wirklichkeit, der ihr Forschungsobjekt ist, tel quel hinnimmt und seine Stellung im Gesamtbilde der Natur nicht in Frage stellt; innerhalb dieses Ausschnitts aber verfährt sie kritisch, indem sie nämlich den Zusammenhang der Phänomene und ihre Ordnung festzustellen und zu entwirren unternimmt. So ist die Psychologie qua Psychologie naiv, denn sie lässt die Stellung der psychischen Erscheinungen innerhalb der Totalität des Gegebenen außer acht, kritisch hingegen auf ihrem abgegrenzten Gebiete, insofern als sie eine Halluzination z. B. von einem äußeren Eindruck unterscheidet. Es liegt nun auf der Hand, dass eine allgemeine Phänomenologie überhaupt nur insofern von Wert sein kann, als sie kritisch ist, da hier das Spezialgebiet, welches vorausgesetzt wird, eben die Totalität als solche ist, und die Spezialaufgabe darin besteht, den Zusammenhang sämtlicher Phänomene zu begreifen. Und hieraus ergibt sich sofort und als erstes die Notwendigkeit einer Kritik der Vernunft. Es besteht nämlich ein überaus merkwürdiges Verhältnis zwischen den Dingen und der Art, wie sie uns begreiflich werden. Aus der scheinbar unverfänglichen Tatsache, dass wir nicht vermittelst der Dinge selbst, sondern vermittelst menschlicher Symbole, der Begriffe, denken, ergeben sich Erscheinungen wunderlichster Art4: zum wissenschaftlichen Verständnis der Natur, die als solche, in ihrem Dasein und Sosein, jedem Kinde ohne Umwege gegeben ist, sieht der Verstand sich genötigt, von Grundsätzen auszugehen, deren Gültigkeit aus der Erfahrung nicht erschlossen werden kann, Hypothesen aufzustellen, deren Verifikation meist unmöglich ist, und mit Wesenheiten als mit Wirklichkeiten zu operieren, die in der Gegebenheit unmittelbar nicht nachzuweisen sind. Es ist aus der Erfahrung nicht zu erweisen, dass die Substanz sich erhält, dass die Frage nach der Ursache überall berechtigt ist, dass zwei mal zwei vier und nicht fünf ergeben müssen; es lässt sich nicht entscheiden, ob es einen Äther wirklich gibt, um so mehr als seine postulierten Eigenschaften nicht zum geringsten Teil gedankliche Absurda sind5, es ist bei aller Phantasie nicht zu verstehen, wie die vielfache Natur aus einfachen Ureinheiten bestehen, das heißt also, wie Ungleichartiges aus der Summierung gleichartiger Teile zustande kommen soll. Und doch wäre ohne unerweisbare Grundsätze überhaupt keine Erfahrung möglich, ohne Ätherhypothese keine befriedigende Lichttheorie und ohne Atomistik kein handliches Natursystem. Es ist also möglich, auf Grund eines unerweislichen Allgemeinen alles Besondere zu erweisen, durch Erdachtes das Gegebene zu erklären, in der Fiktion die Wirklichkeit zu antizipieren. Wie wenig die Begriffe der Wissenschaft mit dem Gegebenen gemein haben, wie willkürlich und schlecht fundiert sie immer scheinen mögen: sobald wir die Resultate ins Auge fassen, müssen wir zugeben, dass ihre Annahme berechtigt war — denn die Ergebnisse des Denkens stimmen mit den Daten der Erfahrung überein. Unter diesen Umständen ist es jedenfalls das erste und wichtigste Problem der allgemeinen Phänomenologie, zu erforschen und festzustellen, wie sich die Gedanken zu den Dingen verhalten. Denn da unser Weltverständnis auf Begriffen fußt, und diese mit den Gegenständen nicht identisch sind, so hängt der Sinn jeder Theorie überhaupt von dem Sinne der Begriffe ab. Wie verhält sich die Wissenschaft der Phänomene zum Inbegriff der Phänomene? Denn auch die Theorie ist ein wirkliches Phänomen. — Diese grundlegende Frage entscheidet die Kritik des Erkenntnisvermögens. Diese bekümmert sich, kurz gesagt, nicht um die Ergebnisse, sondern um die Voraussetzungen möglicher Wissenschaft.

Wichtig ist es nun, zu begreifen, dass der Standpunkt der Vernunftkritik keiner anderen Sphäre angehört als der des exakten Naturforschers. Er unterscheidet sich von dem letzteren allein durch seine Höhenlage, durch die Weite des Gebietes, das er beherrscht. Er übersieht nicht allein die Außenwelt, wie sie dem Menschen erscheint, er überschaut noch dazu den erkennenden Menschen im Zusammenhang mit ihr. Unter den objektiven Beziehungen, die in der Wirklichkeit gelten, begreift der kritische Philosoph die Beziehung zwischen Weltall und Menschengeist mit hinein. Diese aber stellt er aus genau dem gleichen Wege fest, wie der Experimentator ein physikalisches Phänomen, und genau im gleichen Sinne wie dieser, ersinnt er die deutende Theorie. Unter Philosophen ist Kant als erster ein kritischer Forscher gewesen, er als erster hat nicht durch metaphysische Dekrete, sondern auf dem Wege exakter Analyse seine Ergebnisse gewonnen, und sein Scharfsinn war so groß, dass die Grundlagen seiner Theorie noch heute unerschüttert feststehen. Diese Grundlagen sind die folgenden: unsere Welt ist Vorstellung, von den Erkenntnisformen bedingt und gestaltet; die Anschauungsformen und Denkkategorien sind Bedingungen, die Begriffe und Ideen Instrumente der Erkenntnis; sie bedeuten keine extraphänomenalen Realitäten irgendwelcher Art, sondern Rahmen, in welche wir die Wirklichkeit einordnen müssen, sofern wir sie verstehen wollen. Ohne Erkenntnisschemen, die menschlichen Ursprungs sind, ist begriffliche Erkenntnis par définition unmöglich6. — Auf diese Weise erklärt sich das paradoxe Verhältnis, das jeden aufmerksamen Forscher stutzig machen muss — das Verhältnis, dass die Wissenschaft nicht zum geringsten Teil mit Begriffen operiert, deren Naturgemäßheit fragwürdig bleibt, ja dass sie oft dank Symbolen, die an sich selbst nicht zu verstehen und kaum zu denken sind, zu richtigen und verständlichen Ergebnissen gelangt: da Begriffe Werkzeuge sind, da sie nur für ein Verhältnis des Geistes zu den Dingen stehen, so können sie sogar, unbeschadet ihrer Brauchbarkeit, an sich selbst des Sinnes entbehren.

Nimmt die Kantische Grunderkenntnis, an welcher nicht zu rütteln ist, den Ergebnissen der Naturforschung irgend etwas von ihrem Wahrheitswert? Durchaus nicht; sie berichtigt bloß deren Sinn, naive Erkenntnisse formt sie zu kritischen um. Die Vernunftkritik gehört mit in den Rahmen der allgemeinen kritischen Phänomenologie hinein, sie stellt den Zusammenhang zwischen verschiedenen Arten des Erscheinenden fest, sie leistet also, was jede kritische Untersuchung im Reiche der Natur zu leisten hat und kann nicht mehr zustande bringen. Es ist nicht wahr, dass die Erkenntniskritik den übrigen Wissenschaften zugrunde läge und daher über deren Wahrheiten zu entscheiden hätte — mit ihnen allen gehört sie einer Sphäre an. Ob Kant sich über diesen Punkt ganz klar gewesen ist, lässt sich schwer mit Sicherheit entscheiden, seine Äußerungen sind vielfach missverständlich; gewiss ist, dass seine Nachfolger die Hauptsache meist nicht begriffen und daher die kritische Philosophie zu einer Irrlehre verbildet haben, die noch heute das Denken sterilisiert. Mit seltenen Ausnahmen behaupten nämlich alle Kantianer, zu welcher speziellen Sekte sie sich auch bekennen mögen, die Kritik lehre den reinmenschlichen Ursprung der Erscheinungswelt und mithin deren objektive Unwirklichkeit. Selbst wenn die Welt tatsächlich unwirklich wäre — keine Kritik der Welt vermöchte dies zu beweisen: sie setzt ja die Erfahrungswelt voraus, und aus der realen Voraussetzung einer Sache deren Nicht-Existenz zu folgern, ist ein unsinniges, selbstmörderisches Unterfangen. Wie sollte es gelingen, vermittelst spezieller Phänomene über die Wirklichkeit oder Unwirklichkeit aller Phänomene überhaupt, in welche jene offenbar als Teile hineingehören, ein Urteil zu fällen? Wie sollte es möglich sein, aus Mitteln der Vernunft die Vernunft selbst und die allgemeine Gegebenheit auf eine besondere dem Dasein nach zu begründen? Denkbar wäre dies nur in dem einen Falle, dass es eine apriorische, von der Erfahrung unabhängige Erkenntnisart gäbe, eine intellektuale Anschauung, die außerhalb des Rahmens der Erscheinungen wirksam wäre und letztere aus sich selbst hervorzuzaubern vermöchte. Aber eine intellektuale Anschauung gibt es nicht und es gibt keine apriorische Erkenntnismethode7. Dies steht heute unwiderleglich fest. Wer unabhängig von der Erfahrung Erkenntnis zu gewinnen glaubt, der weiß nicht zu beobachten und täuscht sich über den Sinn seines Vorgehens8. In diesem Zusammenhang haben Fichte, Schelling und zum Teil auch Hegel sich selber missverstanden. Kant ist nun in Wahrheit nicht anders verfahren als jeder exakte Naturforscher: er hat den Zusammenhang des Gegebenen zu entwirren und zu begreifen versucht, von den Resultaten hat er auf die bedingende Ursache geschlossen, seine Methode war eine regressive9. Kants Fragestellung ist im Prinzip die folgende: vorausgesetzt, dass die Naturwissenschaften wirkliche Erkenntnisse vermitteln, wie ist diese Wirklichkeit zu verstehen? Vorausgesetzt, dass es einen Zusammenhang des Wirklichen gibt, welchen Sinn kann dieser Zusammenhang wohl haben? Kants Kritik hat mit Metaphysik nichts zu tun: sowohl der Voraussetzung als der Methode als den Ergebnissen nach bleibt sie streng im Bereiche der Phänomene. Allerdings hat Kant Erkenntnisse besonderer Art entdeckt, die nicht aus der Erfahrung stammen, sondern dieser vielmehr zugrunde liegen und diese Erkenntnisse hat er leider! mit dem Adjektiv apriorisch belastet. Aber festgestellt hat er sie nicht auf apriorischem Wege, sondern an der Hand der Erfahrung, durch rückwärts greifendes Experimentieren, und ihr Sinn ist nicht der, dass sie außerhalb des Rahmens der erforschbaren Natur belegen waren, sondern der, dass sie nicht in der äußeren Natur, sondern in der des Menschen ihren Grund haben. Es kann nicht oft genug wiederholt werden: die Bedeutung, die ihr meistens zuerkannt wird, hat die Vernunftkritik nicht. Es ist nicht ihr Beruf, die phänomenale Wirklichkeit zu begründen, was auf keine Weise möglich wäre, sie hat nur das eine zu leisten, die Stellung des Erkenntnisprozesses innerhalb dieser Wirklichkeit zu bestimmen. Freilich muss sie dem erkennenden Menschen die Grundwissenschaft bedeuten, aber dieses bloß aus Gründen der Perspektive: da seine Grundeigenschaften die Mittel sind, durch die allein er zur Welt in Beziehung tritt, da sie die unerlässlichen Bedingungen seines Erkennens bezeichnen, so kann er von ihnen nicht absehen. Sie müssen ihm als letzte Instanzen erscheinen. Aber im absoluten Verstande des Wortes ist die Vernunftkritik keine Grundwissenschaft, sie ist eine Disziplin unter anderen. Gleich jeder anderen kritischen Wissenschaft, bestimmt sie das Verhältnis zweier Arten der Wirklichkeit zu einander, und Voraussetzung sowohl als Charakter und Methode hat sie mit allen gemein.

Die Kantische Philosophie ist eine Weltanschauung der menschlichen Perspektive. Kants Lehre gipfelt in den Sätzen: die Wissenschaft vermittelt keine absoluten Einsichten in das Weltgeschehen, sondern menschliche Einsichten; die Welt des Menschen ist Vorstellung, über diese hinaus kann er nicht blicken; alles, was er erkennt, ist wahr nur in bezug auf menschliche Erkenntnisformen; wie weit er immer ausholen mag: dem Rahmen, den sein Geist der Außenwelt aufzwängt, vermag er nicht zu entrinnen. Der Mensch, nicht die Außenwelt und nicht die Gesamtheit der gegebenen Natur, bezeichnet das Schlussglied der Kantischen Gedankenkette, seines Denkens letzte Instanz. — Es macht den Eindruck, als wäre die Natur durch Kants Kritik verengt worden, als schrumpfe die weite Welt, als deren Teil jeder Unbefangene sich fühlt, nun zum begrenzten Produkte eines beschränkten Verstandes zusammen. Diese Einengung ist indes nur eine scheinbare: die Kantische Welt ist gerade so weit wie die des Naiven, nur ist sie enger gefasst. Um den knappsten Ausdruck für das Verhältnis zwischen Geist und Natur zu gewinnen, hat Kant den allseitigen Zusammenhang auf eine dieser Seiten projiziert, das Unendliche gleichsam von einem Punkte aus betrachtet. Und er war dazu vollauf berechtigt, erstens, weil in einem gegebenen Zusammenhang alle Ausgangspunkte, sofern sie nur innerhalb desselben liegen, gleichberechtigt sind, und zweitens, weil es dem Denken zweifellos am nächsten liegt, vom Denken auszugehen. Gleichwohl ist nicht zu leugnen, dass der Kantische Standpunkt kein übersichtliches Weltbild gewährt, dass der Zusammenhang von Mensch und Natur von ihm aus nicht leicht zu übersehen ist. So ist es denn nicht zu verwundern, dass die meisten überzeugten Kantianer den Überblick verloren und es unternommen haben, die Naturwissenschaft auf Erkenntniskritik zu begründen, wodurch sie zu einer Philosophie gelangt sind, die den Menschen aus der Welt herausreißt und diese aus jenem deduziert; — und dass andrerseits diejenigen, die den Zusammenhang nicht aus den Augen verloren, Kant selten haben begreifen und würdigen können. Der traditionelle deutsche Idealismus vertritt gern einen aprioristischen Standpunkt, der sich mit den Tatsachen, die auch er wohl oder übel voraussetzen muss, schwer verträgt, und die meisten unbefangenen Denker, nicht zum wenigsten die, welche im Kantischen Geiste forschen, suchen abseits von Kant nach der Wahrheit.10 Die Irrtümer, welche die Philosophie auf diese Weise vertreten hat, sind aber durchaus keine notwendigen Fortbildungen der Vernunftkritik: wenn viele von Kants Standpunkt aus die Welt aus den Augen verloren haben, so beweist dies weder, dass diese nicht vorhanden wäre, noch dass Kant sich verstiegen hätte. Vielmehr gewährt der kritische Gesichtspunkt, richtig bestimmt und glücklich eingenommen, die denkbar weiteste Aussicht.

1 Diese Erkenntnis bricht sich jetzt allenthalben und auf den verschiedensten Wegen Bahn: die Pragmatisten in England und Amerika, Henri Bergson in Paris und in Deutschland vor allem Riehl und Rickert, begegnen sich, bei aller sonstigen Divergenz, in ihrer Anerkennung. Am tiefsten hat den wahren Zusammenhang bisher wohl Bergson erfasst, während es Rickert zugestanden werden muss, dass er auf den ersten 80 Seiten seines Gegenstandes der Erkenntnis Gedankengänge, die zum gleichen Ziel führen, in einer Weise durchgeführt hat, welche an Klarheit und methodischer Folgerichtigkeit nicht leicht übertroffen werden dürfte.
2 Ganz konsequent in dieser Auffassung ist meines Wissens nur W. K. Clifford gewesen, dessen (deutsch bei I. A. Barth in Leipzig erschienene Abhandlung Von der Natur der Dinge an sich aus diesem Grunde lesenswert ist. Aber denkt man gewisse Gedankengänge Ernst Machs zu Ende, so gelangt man notwendig zur gleichen Gesamtansicht.
3 Zu besserem Verständnis dieser Stelle wären Hans Driesch’ Naturbegriffe und Natururteile (Leipzig, Verlag von W. Engelmann, 1909.) nachzulesen, in welchen verwandte Gedanken des längeren ausgeführt sind.
4 Es sei an dieser Stelle auf interessante Unterfudiungen des Physikers Baron Heinrich Rausch von Traubenberg über die Art und die Grenzen physikalischer Begreiflichkeit hingewiesen, die 1911 unter dem Titel Über die Grundlagen eines vorstellbaren physikalischen Weltbildes erscheinen werden.
5 Man vergleiche hierzu mein Gefüge der Welt (München, F. Bruckmann 1906 S. 22 ff.)
6 Hier und in allem folgenden halte ich mich an den Geist und nicht an den Buchstaben der Kantischen Kritik; dies sei an dieser Stelle ein für alle Male ausgesprochen. Es ist, wo es sich um wahrhaft große Gedanken handelt, nicht nur ungerecht, bei durch das Zeitalter bedingten und infofern gewissermaßen unpersönlichen Irrtümern zu verweilen, sondern vor allen Dingen zwecklos und schädlich, da für uns Lebende nur das Positive in Betracht kommt und anhaltende Betrachtung des Unzulänglichen die Auffassung des Wahren beeinträchtigt.
7 Lesern, die auf diesem Erkenntnisgebiete nicht ganz zu Hause sein sollten, ist außer den klassischen Stellen über die Frage der intellektualen Anschauung bei Kant und Fries und den aufklärenden Auseinandersetzungen Windelbands in seinen geschichtsphilosophischen Schriften das gefällige Buch Leopold Zieglers Der abendländische Rationalismus und der Eros (Jena, Eugen Diederichs, 1905) zur Lektüre zu empfehlen.
8 Über diesen Punkt kenne ich nichts Lesenswerteres als die kleine Schrift von Jakob Friedrich Fries Reinhold, Fichte und Schelling wohl das Beste, was Fries überhaupt geschrieben hat. Dieses Büchlein, das seit 1803 nicht wieder aufgelegt worden ist, verdiente eine Neuausgabe, welche der Frieschen Schule hiermit angelegentlichst empfehlen sei.
9 Dieses hat der Hauptsache nach schon Fries eingesehen; treffendes über dieselbe Frage hat neuerdings Leonard Nelson vorgebracht. Vgl. dessen Werk Über das sogenannte Erkenntnisproblem (Göttingen 1908).
10 So sind die Pragmatisten, denen Kants Philosophie eine abgetane Sache ist, in Wahrheit bessere Kantianer als die Marburger Idealisten. Es würde jenen überaus ersprießlich sein, wenn sie sich eingehend mit dem Meister der Kritik, den sie bisher allem Anscheine nach überhaupt nicht kennen, befassen wollten — denn er würde ihnen lehren, sich selbst heller zu verstehen und zugleich höhere Anforderungen in bezug auf Ausdruck und Methodik zu stellen. Diesen aber, und allen deutschen Idealisten überhaupt, sei genauere Beachtung der neuen philosophischen Bewegung empfohlen. Barbaren sind zuweilen hellsichtiger als die Erben einer alten Kultur… Eine gute und klare Darstellung der Grundlehren des Pragmatismus gibt H. Heath Bawden in seinem Buch The principles of pragmatism (Boston und New York 1910, Houghton Mifflin Comp.)
Hermann Keyserling
Prolegomena zur Naturphilosophie · 1910
I. Der kritische Gesichtspunkt
© 1998- Schule des Rades
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