Schule des Rades

Hermann Keyserling

Prolegomena zur Naturphilosophie

II. Vernunft und Weltordnung

Denkprozess - Naturprozess

Ces longues chaînes de raisons toutes simples
et faciles, dont les géomètres ont coutume de
se servir pour parvenir à leurs plus difficiles
démonstrations, m’avaient donné occasion de
m’imaginer que toutes les choses qui peuvent
tomber sous la connaissance des hommes
s’entre-suivent en même façon, et que, pourvu
seulement qu’on s’abstienne d’en recevoir
aucune pour vraie qui ne le soit, et qu’on garde
toujours l’ordre qu’il faut pour les déduire les
unes des autres, il n’y en peut avoir de si
éloignées auxquelles enfin an ne parvienne, ni
de si cachées qu’on ne découvre
   Descartes

Wenn es wahr ist, dass alle Phänomene, die psychischen sowohl als die physischen, auf einer Ebene belegen und von einem Standpunkte aus zu übersehen sind; wenn es ferner wahr ist, dass die kritische Philosophie weder ein Jenseits der Erscheinungswelt nachzuweisen, noch deren Unwirklichkeit darzutun imstande ist, so dass wir uns mit gutem Gewissen als Bewohner einer wirklichen Welt und als Besitzer gültiger Erkenntnisse betrachten dürfen: so liegt es nahe, aufs neue die Beantwortung einer Frage zu versuchen, welche zwar von jeher die Menschheit beunruhigt hat, neuerdings aber, unter der Vorherrschaft eines subjektivistischen Idealismus, als angeblicher Ausfluss einer falschen Fragestellung, von der Wissenschaft kaum mehr aufgeworfen worden ist. Ich meine die Frage nach dem Verhältnis des allgemeinen Geschehens zu den Normen unseres Denkens, nach dem Verhältnisse zwischen Weltordnung und Vernunft. Heute wird diese Frage, sofern sie überhaupt des Beachtens wert befunden wird, meist durch die Bemerkung abgetan, es gäbe keine objektive Weltordnung, was objektiv erscheint, sei tatsächlich Menschenwerk. Das mag richtig sein: jedenfalls kann die Lösung des Problems, dergestalt ausgesprochen, nicht für erschöpfend gelten. Ich möchte Ihnen deshalb vorschlagen, das Übernommene für eine kurze Stunde zu vergessen und das fragliche Verhältnis in aller Unbefangenheit einer eingehenden Musterung zu unterziehen.

Zwischen Vernunft und Weltordnung bestehen — kein ehrlicher Beobachter vermag dies abzuleugnen — sehr nahe und sehr merkwürdige Beziehungen. Sehen wir von allem Besonderen und Zufälligen ab, lassen wir alles beiseite, was allenfalls in Zweifel gezogen werden könnte, so bleibt als sichere Tatsache bestehen, dass wir nicht allein in der Sphäre des Frei-Erdachten, sondern auch innerhalb der äußeren Gegebenheit verallgemeinern dürfen; es kommt nicht vor, wenn die Tatsachen nur richtig bestimmt wurden und die Theorie diese unverfälscht wiedergab, dass die denknotwendigen Folgen der Theorie mit den Ergebnissen des Naturgeschehens nicht übereinstimmten. Man wende nicht ein, dass fast alle Theorien sich auf die Dauer als unzulänglich erwiesen haben, das ist richtig, kommt aber für unser Problem nicht in Betracht; worauf es hier ankommt, ist das unleugbare Faktum, dass es möglich ist, innerhalb des Gültigkeitsrahmens einer Theorie unabhängig von der Beobachtung richtige Schlüsse zu ziehen, Nichterfahrenes vorauszusehen, über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines Phänomens zu entscheiden, was nicht gut anders gedeutet werden kann, als dass in gewissen Fällen das Denknotwendige zugleich naturnotwendig sein muss.

Dieses Verhältnis richtig und genau zu bestimmen, ist nicht ganz leicht. Das Nächstliegende und Plausibelste scheint auf den ersten Blick, der Natur ein vernünftiges konstitutives Prinzip zugrunde zu legen, wie es denn auch von Anaxagoras an bis auf die Jung-Hegelianer unserer Tage geschehen ist. Aber das Nächstliegende wird meist zu unbedenklich ergriffen, und das Plausible nur oberflächlich untersucht. So haben die Denker sich an der Ordnung und Harmonie der Welt berauscht, ungenau zugeschaut, Gefühle mit Beweisen verwechselt, den rationellen Charakter gewisser Naturerscheinungen auf deren Totalität extrapoliert und schließlich aus ungenauen Beobachtungen und unklaren Begriffsbestimmungen Synthesen auferrichtet, die zwar durch ihre Schönheit beeindrucken, leider aber der mildesten Kritik nicht stand zu halten vermögen. Denn zugegeben, der Welt liege ein vernünftiges Prinzip zugrunde, was kann mit dieser Aussage gemeint sein? Doch nur zweierlei: entweder, dass die Welt vernunftgemäß, d. h. zweckmäßig eingerichtet ist, oder aber, dass sie als denknotwendige Folge eines gegebenen Prinzips zu entwickeln ist. Ich sehe keine dritte Möglichkeit der Auslegung, denn der gesetzmäßige Charakter des Naturgeschehens kann zu Gunsten der fraglichen Theorie kaum angeführt werden, da der Begriff der Notwendigkeit den der Vernunftgemäßheit nicht impliziert und viele Naturgesetze, vom menschlichen Standpunkte her betrachtet, ganz entschieden unvernünftig erscheinen. Von den zwei Möglichkeiten, die Welt als eine vernünftige Ordnung der Dinge zu deuten, wird nun keine durch die Tatsachen gestützt: von einem Zwecke ist im Weltall als solchen nichts zu spüren, und denknotwendig ist dieses von keiner Prämisse aus. Heute steht fest, dass das Denkmittel der Teleologie im Rahmen der ganzen unbelebten Natur nicht anzuwenden ist; soweit die Wissenschaft kompetiert, geht hier alles nach blinden Gesetzen vor sich. Zweckmäßig sind einzig die Organismen eingerichtet, nur diese sind als Naturzwecke zu begreifen. Deren Organisation entspricht allerdings den höchsten Anforderungen der Vernunft und ist ohne Voraussetzung eines zu verwirklichenden Zwecks überhaupt nicht zu verstehen; je weiter die Forschung vordringt, desto deutlicher offenbart sie den vernunftgemäßen Charakter der Lebenserscheinungen, desto geistiger erscheint das Walten der Entelechie.1 Aber was für die Lebewesen gilt, besteht für das Weltall nicht zu Recht. Jene verstehen sich den wechselnden äußeren Umständen auf das Erstaunlichste anzupassen, dieses nimmt gar keine Rücksicht auf sie. Wenn die Weltordnung uns denkenden Menschen zweckmäßig erscheint (was sie ja nur in beschränktem Maße tut), so beweist das lediglich das eine, dass wir uns angepasst haben. Dass sie vernünftig wäre, beweist es nicht.

Auch denknotwendig ist die Weltordnung nicht. Wäre sie dieses, so müsste es möglich sein, die Welt, wie sie ist, a priori zu konstruieren, wie dies denn Hegel, der die Vernunft als Urgrund der Welt ansah, auch wirklich unternommen hat. Aber sein Unternehmen war ein von vornherein verfehltes: kein Gegebenes ist als solches denknotwendig; die Natur und mit ihr der Mensch könnte in allen Hinsichten anders sein, als sie es ist, ohne den Denkgesetzen zu widersprechen. Alle Grundprinzipien des Naturgeschehens müssen an der Erfahrung festgestellt werden, und das gleiche gilt von den Grundprinzipien der erfahrenden Vernunft2 ohne eine vorausgesetzte Gegebenheit hätte keine Vernunftkritik zu positiven Ergebnissen geführt. Die Weltordnung ist also ebensowenig denknotwendig als sie zweckmäßig ist, und Hegels so ungemein großartige Weltanschauung ist nur dadurch möglich geworden, dass er, entgegen seinem eigenen Glauben, nicht durch apriorische Deduktion, sondern durch Verdichtung eines gewaltigsten empirischen Anschauungsmaterials seine Ergebnisse gewonnen hat3. Die faktische Konformität von Weltordnung und Vernunft erweist sich ausschließlich in dem, dass es angängig ist, aus Gegebenem Nichtgegebenes richtig abzuleiten, dass den Verallgemeinerungen des logisch-mathematischen Denkens objektive Gültigkeit zukommt4, und diese Konformität ist aus der Voraussetzung einer absoluten Vernunft nicht zu begreifen, da diese Voraussetzung mit den Tatsachen nicht in Einklang zu bringen ist.

Die Lösung des Problems muss also in einer anderen Richtung gesucht werden. Rufen wir uns zunächst den Tatbestand seinem vollen Umfange nach ins Bewusstsein. Hat uns exakte Forschung zu einer Gleichung oder Formel geführt, so lassen sich aus ihr alle faktischen Verhältnisse, die sie betrifft, ohne Rekurrenz auf die Erfahrung berechnen und vorausbestimmen, so dass es möglich ist, auf apriorischem Wege über Faktisches gültige Aussagen zu machen. Nachdem das Grundgesetz der Kristallographie entdeckt worden war, konnten alle möglichen Kristallformen aus reiner Mathematik entwickelt werden5, aus den Keplerschen Gesetzen wurde die Existenz und der Ort nie beobachteter Planeten deduziert, und Mendelejews periodisches System hat vorgreifend Elementen ihren Platz gewiesen, die erst viel später entdeckt wurden. Die Denknotwendigkeiten stecken also den Weg möglichen Naturgeschehens ab. — Bei erstem oberflächlichen Hinblicken erscheint es nicht unmöglich, dass die Gesetze, nach welchen verallgemeinert und geschlossen wird, aus dem Naturprozesse abstrahiert worden wären, dass also der Parallelismus des Denkprozesses mit dem wirklichen Geschehen als Ergebnis einer Anpassung verstanden werden könnte.

Diese Auffassung widerspricht indessen dem eigentlichen Wesen der logischen Normen: ihrer unbedingten Notwendigkeit für das Denken. Ein Denken, das sich nicht den Satzungen der Logik gemäß bewegt, hebt sich selbst auf, führt zu Widersprüchen, zur Sinnlosigkeit, zum Unsinn. Jedes Gesetz hingegen, das aus der Erfahrung abstrahiert wurde, kann anders gedacht werden, ohne dass man sich dabei in Widersprüche verwickelte. Was wirklich ist, braucht deshalb nicht denknotwendig zu sein. Wir können das Verhältnis auch von einer anderen Seite her fassen: die Normen, die aus der Erfahrung abgezogen wurden, etwa das Gravitationsgesetz, sind vom Standpunkte der Selbsttätigkeit des Geistes etwas Willkürliches: sie könnten sehr wohl auch anders sein, es lässt sich von ihnen abstrahieren. Man versuche aber nur, von den Grundsätzen der Logik abzusehen: es ist unmöglich. Es ist nicht möglich, anders zu denken als entsprechend ihren Regeln, sofern überhaupt gedacht werden soll; sie definieren das Denken als Denken. Folglich können sie aus der Erfahrung nicht entlehnt worden sein, sie sind apriorisch in des Wortes voller Bedeutung. Gedenken wir jetzt dessen, dass der Denkprozess, sich selbst überlassen, aus empirisch begründeten Prämissen unabänderlich zu empirisch wirklichen Ergebnissen führt, so scheint die Folgerung nicht zu umgehen, dass zwischen dem reinen Denken und dem objektiven Geschehen ursprüngliche und grundsätzliche Übereinstimmung herrschen muss.

Diese Übereinstimmung braucht indessen nicht wörtlich verstanden zu werden. Es ist eine Deutung denkbar, die zur oben behandelten in symmetrischem Gegensatze steht und gegen welche zunächst ebensowenig wie gegen jene etwas Grundsätzliches einzuwenden scheint: die Deutung, dass der Verstand der Natur seine Gesetze vorschreibt, dass also die logischen Normen nur für das Denken gelten und vom Geiste den Dingen willkürlich aufgezwängt werden. Diese Deutung trifft, wie wir später sehen werden, für die speziellen Naturgesetze innerhalb bestimmter Grenzen wirklich zu: in bezug auf die Grundnormen der Logik kann sie in keiner Hinsicht richtig sein. Denn wäre sie es, so folgte daraus sofort die Künstlichkeit der gesamten Wissenschaft und die Unwirklichkeit der ganzen Natur. In der Tat, wenn es möglich sein soll, auf Grund von Postulaten, die nur für das menschliche Denken gälten und über das Außermenschliche nichts präjudizierten, wirkliche Geschehnisse zu antizipieren und ein System der Wissenschaft zu schaffen, dem sich die Natur gehorsamst eingliedert, so darf die Natur nicht mehr als ein Produkt eben dieses Denkens sein. Sie existiert als Objekt also nicht und desto unbegreiflicher erscheint es, weshalb ein Forschen doch nötig ist, um zu Ergebnissen zu gelangen; es müsste sich alles a priori entwickeln lassen. — Oder aber die Natur existiert als Ding an sich, hat jedoch mit den Normen des Denkens nichts gemein: in dem Falle ist die Wissenschaft ein haltloses, freischwebendes Kunstprodukt und es ist schlechterdings nicht einzusehen, wie dieses Artefakt von praktischem Nutzen sein kann. Die Begriffe von den Beziehungen zwischen Vernunft und Weltordnung, welche auf Grund der Voraussetzung, dass die logischen Normen ausschließlich für das Denken gälten, gewonnen werden können, sind also nicht geeignet, einem den fraglichen Sachverhalt begreiflich zu machen.

Uns bleibt also nur übrig, eine wesentliche Übereinstimmung zwischen den Grundformen des Geschehens und denjenigen des Denkens anzunehmen. Diese Übereinstimmung, an die im geheimen wohl jeder ernste Denker, nicht zum wenigsten Kant, geglaubt hat, scheint aber jeder begrifflichen Fassung zu entrinnen. Wie soll eine Brücke geschlagen werden von dem, was a priori ist und nur im Apriorischen seinen Grund hat, zu dem, was ausschließlich a posteriori festgestellt werden kann? Es scheint auf kritischem Wege unmöglich. Deshalb greifen verzweifelte Denker bald zu Platos Ideenwelt, bald zu Leibniz’ Theorie einer prästabilierten Harmonie zurück, um sich mit dem Unbegreiflichen abzufinden, falls sie es nicht gar vorziehen, zum naiven Realismus zurückzukehren und schwierige Fragen ungestellt zu lassen. Aber diese Unmöglichkeit, das zu begreifen, dessen Statthaben keinem Zweifel unterliegt, ist die Folge eines sehr einfachen und sehr leicht zu beseitigenden Umstandes: des Umstandes, dass das Problem schief gestellt worden ist. In der gegebenen Fassung ist es wirklich nicht aufzulösen, aber diese Fassung ist in sich fehlerhaft. Die Antithese Denkprozess – Naturprozess als solche ist falsch und gegenstandslos, daher auch die andere, in der vorhergenannten enthaltene, der Begriffe a priori und a posteriori im hergebrachten Sinne. Das Denken ist gar kein außernatürliches Geschehen, was a priori ist in bezug auf die äußere Erfahrung, kann gleichwohl, von höherem Standorte aus betrachtet, in den allgemeinen Rahmen des Erscheinenden hinein gehören.

Und so ist es in der Tat. Besinnen wir uns auf die Ergebnisse unteres ersten Vortragsabends. Gedanken sind etwas anderes als schwere Körper, es ist unmöglich, physische und psychische Phänomene auf einander zurückzuführen oder als solche unter einen Begriff zu bringen. Aber gegeben sind sie uns trotzdem auf genau die gleiche Weise, sie sind gleich wirklich und für das Bewusstsein gleich gewiss. Es ist nicht wahr, dass ein Gedanke mir auf eine unmittelbarere Weise bewusst wäre als irgend ein Gegenstand der Außen-Welt: er ist da, er kommt oder geht, er lässt sich bestimmen und untersuchen, experimentell hervorrufen und gesetzmäßig begreifen, ja ich muss ihn recht eigentlich suchen, wenn er entschwunden ist, und seinem innersten Wesen nach ist er ein Ding an sich, von dem ich nicht das mindeste aussagen kann. Er ist für mich genau im gleichen Sinne Erscheinung wie irgend ein äußerer Gegenstand, von dem, was in mir vorgeht, kann ich nicht mehr und auf keine immediatere Weise erfahren, als von der Außenwelt. Die Gedanken gehören eben zur allgemeinen Gegebenheit, wir sind nicht mehr Herren über sie als über andere Dinge; wir können sie richten und lenken, umgrenzen und anwenden, aber schaffen können wir sie nicht und ihre Normen hängen nicht von unserer Willkür ab. Was will es denn heißen, wenn gesagt wird: aus dieser Prämisse folgt notwendig das Folgende, oder: diese Schlussfolgerung ist zwingend, was will es überhaupt heißen, dass Gedankenfolgen objektive Richtigkeit oder Gültigkeit zukommt? Nichts anderes, als dass wir es hier mit einem gesetzmäßigen Geschehen zu tun haben, dessen Lauf wir nicht ändern können, ohne das Geschehen als solches aufzuheben. Ein Denken, das den Normen der Logik zuwiderläuft, hebt sich als Denken auf, daran ist nichts zu ändern, durch keine wie immer beschaffenen Postulate. Aber diese Notwendigkeit hat durchaus keinen anderen Sinn, als die, nach welcher Naturerscheinungen bestimmter Art nur unter gewissen, genau zu bestimmenden Bedingungen auftreten können. Beide Arten der Notwendigkeit — die äußere, natürliche, sowie die innere, logische — haben also genau den gleichen Sinn. Sie sind beide etwas, das nicht von unserer Willkür abhängt, das uns gegeben ist, das wir hinnehmen müssen. Woher aber dann der Unterschied im Charakter apriorischer Normen und äußerer, a posteriori festgestellter Gesetzmäßigkeiten? — Dieser Unterschied ist die Folge der Stellung, die der Mensch im Rahmen des Erscheinenden einnimmt. Die Normen des äußeren Naturverlaufs sind nicht denknotwendig, weil sie die Seinsbedingungen nicht der Gedanken, sondern anderer Phänomene bezeichnen; sie sind vom Standpunkte des Denkens aus kontingent. Aber vom Standpunkte der Erscheinungen, die sie regieren, sind sie absolut notwendig, da die fraglichen Erscheinungen allein unter den genannten Bedingungen auftreten können, sie definieren deren mögliche Existenz. Ein Gott hebe in einer sonst unveränderten Welt das in keiner Weise denknotwendige Gesetz der Rationalität der Indices auf, und kein Kristall vermöchte mehr zu entstehen. Ganz im gleichen Sinne könnten die spezifischen Denkgesetze vom Standpunkte anderer Erscheinungsarten kontingent sein, sie könnten einen anderen Charakter tragen, ohne deren Normen zu widersprechen. Aber für das Denken sind sie absolut notwendig, denn dieses definieren sie als Denken. Nun ist klar, weshalb die Denkgesetze denknotwendig sind und absolut gewiss, während sich über die Notwendigkeit anderen Geschehens, zunächst wenigstens, streiten lässt, weshalb sie apriorisch sind im Gegensatz zu anderen Gesetzen und einer von diesen grundverschiedenen Sphäre anzugehören scheinen: Der Mensch als denkendes Wesen verkörpert die Grundsätze der Logik, gleichwie er als physisches Wesen das Gravitationsgesetz inkarniert. Deswegen kann er, von seinem Standpunkte aus, von der Logik nicht absehen. Da sein Denken vermittelst der Erscheinungen geschieht, die durch logische Gesetze regiert werden, so findet er sie überall wieder, wohin er sich auch wendet, trägt er sie allem auf, drückt er alles ihnen entsprechend aus. Die Antithese a priori - a posteriori bezeichnet demnach einen bloßen Unterschied in der Perspektive: innerhalb des einheitlichen Rahmens, der alles Gegebene umfasst, erweisen sich, von jeder bestimmten Erscheinung aus gesehen, die Normen gerade dieser Erscheinung, und keiner anderen, als absolut notwendig, so vom Standpunkte des denkenden Menschen aus, wie es nicht gut anders sein kann, diejenigen des Denkens allein. Aber das hindert nicht, dass, objektiv betrachtet, alle Erscheinungen, welcher Ordnung und welchen Charakters sie immer sein mögen, einer Sphäre angehören, und dass es überall nur eine Art und einen Grad der Notwendigkeit gibt.

Folgendes steht also fest: es gibt keinen Unterschied in der Wirklichkeit und in der Art der Gegebenheit zwischen den Erscheinungen, die uns von außen beeindrucken, und denjenigen, die in uns ablaufen; und auch die Gesetze, die sie regieren, haben überall den gleichen Sinn: es sind die Normen eines Gegebenen, die nicht aufzuheben sind, ohne dass damit das ihnen unterworfene Phänomen vernichtet würde. Folglich hat es keinen Sinn, die Frage aufzuwerfen, ob den logischen Normen eine bloß immanente oder auch eine transiente Gültigkeit zukommt, vorausgesetzt, dass überhaupt andere Erscheinungen als unsere Gedanken erfahrungsmäßig ihnen gehorchen. Denn da alle Erscheinungen im gleichen Sinne wirklich sind und wir die Denkgesetze auf keine andere Weise festzustellen vermögen als die Regeln des äußeren Geschehens, nämlich experimentell (welches Wort übrigens den gleichen Sinn hat wie bei Kant das Wort transzendental6, so ist auch die Beweiskraft eines gedanklichen Experiments, wie es die reine Logik anstellt, vom Kosmos her gesehen, keine größere als die eines physikalischen Versuchs. Vielmehr sind beide im gleichen Sinne entscheidend, oder können es wenigstens im gleichen Sinne sein. Wenn also feststeht, dass wir nicht nur innerhalb des Frei-Erdachten, sondern auch innerhalb der äußeren Gegebenheit, durch logisch zulässige Verallgemeinerungen zu richtigen oder empirisch-wirklichen Ergebnissen gelangen, so folgt hieraus mit absoluter Notwendigkeit, dass die Grundnormen des logisch-mathematischen Denkens für alle Naturvorgänge gültig sind.

Sie definieren das Daseiende oder Geschehende überhaupt. Es ist überflüssig und schädlich, dem eingewurzelten subjektivistischen Vorurteil dadurch Vorschub zu leisten, dass man, wie z. B. Riehl es an dieser Stelle getan hat7, für diese Erkenntnis halb-zweideutige Formeln verwendet, gleich der folgenden:

soweit die Dinge Gegenstände des Denkens sind, oder bildlich gesprochen, nach ihrer uns zugekehrten Seite, müssen sie ihrer eigenen Form nach denkbare Dinge sein.

Wir wissen nur von einer Gegebenheit, diese umfasst das physische wie das psychische Geschehen, und für diese ganze Gegebenheit kommt den logischen Grundnormen Gültigkeit zu. Diese bilden das Grundschema alles nur möglichen Werdens. Nunmehr ist es leicht zu übersehen, wie sich die freien Erfindungen des mathematischen Denkens zur empirischen Wirklichkeit verhalten. Der Mathematiker operiert unabhängig von aller Erfahrung, bloß den Denkgesetzen gemäß, und erhebt sich auf diese Weise zu Konzeptionen, die sowohl das Wirkliche als das Begreifliche weit unter sich lassen. Ich behaupte kaum zu viel, wenn ich sage, dass reichlich die Hälfte der Konstruktionen der höheren Mathematik nicht mehr zu verstehen ist, obgleich ihre Richtigkeit und Gültigkeit innerhalb des Rahmens begrifflichen Denkens bewiesen werden kann; und ganz gewiss ist es, dass unsere Erfahrungswelt vom mathematischen Standpunkte aus betrachtet nur eine unter unzähligen Möglichkeiten verwirklicht, sowie der Euklidische Raum, welcher allein für unsere Sinne in Betracht kommt, nur einen unter unendlich vielen konstruierbaren, oder genauer gesagt, formal ausdrückbaren Räumen bezeichnet. Andrerseits aber kommt es vor — und immer häufiger, seitdem die Physik sich der eingehenden Erforschung solcher Geschehnisse, die unseren Sinnen unmittelbar nicht zugänglich sind, zugewandt hat — dass ein wirkliches Ereignis nur vermittelst solcher Konzeptionen zu fassen und auf Gesetze zurückzuführen ist, die ursprünglich freie Erfindungen der Phantasie bezeichneten und überdies über alles Verständnis hinausgehen. Das wird uns jetzt nicht mehr verwunderlich dünken. Da das mathematische Denken gemäß den Normen verläuft, welchen alle Erscheinungen gehorchen, so ist es ebenso möglich als es zugleich nicht notwendig ist, dass mathematische Wirklichkeiten mit empirischen koinzidieren. Mathematisch existent ist eine Annahme, die keinen Widerspruch einschließt: das gleiche gilt, von seiner besonderen Voraussetzung aus, von jedem Gegenstande der Natur, nur dass bei weitem nicht alle Gegenstände, die ohne Widerspruch zu denken sind, tatsächlich vorkommen. Die Natur verwirklicht eine Reihe von Möglichkeiten, die durch Postulate zu definieren sind: nehmen wir diese Postulate an, so versteht es sich von selbst, dass das reine Denken zu Ergebnissen führen muss, die mit dem tatsächlich Vorhandenen übereinstimmen. Dieses ist der normale Weg der Naturforschung: zu einer gegebenen Erscheinung wird die Gleichung gesucht, nach welcher sie zu begreifen wäre. Es kann aber auch der entgegengesetzte Fall eintreten: ein Postulat der Mathematik, das ursprünglich ohne jeden Gedanken an die empirische Wirklichkeit aufgestellt wurde, findet sich irgend einmal in der Natur verwirklicht; hier hat dann die Erfindung das Wirkliche vorweggenommen. Das menschliche Denken verläuft innerhalb des gleichen Rahmens wie alles sonstige Geschehen, im Rahmen der Phänomene; und ob es sich nun an das Empirisch-Wirkliche hält oder seinerseits neue Wirklichkeiten schafft, neue Welten zur Welt tragend, aus dem Rahmen der allgemeinen Wirklichkeit führt es niemals hinaus. Ein kosmischer Geist, der die empirische Welt und die logisch-möglichen, alle Gegenstände der Erfahrung und alle Schöpfungen der konstruktiven Phantasie mit einem Blicke zu überblicken vermöchte, käme nie auf den Gedanken, dass er verschiedene Sphären zusammen schaute: er würde vielmehr sofort, der Wahrheit entsprechend, erkennen, dass alle noch so verschiedenartigen Erscheinungen sämtlich im gleichen Sinne wirklich sind, sämtlich einer Sphäre der Gegebenheit angehören und sämtlich den gleichen Grundnormen unterliegen.

Sollen wir uns jetzt noch den Kopf darüber zerbrechen, dass es möglich ist, die Wirklichkeit mit Begriffen zu fassen und nach Theorien zu begreifen, obwohl die Begriffe keine Abbilder der Gegenstände, sondern Werkzeuge der Erkenntnis, und Theorien niemals im absoluten Sinne richtig sind, sondern bloß einen Aufriss des Wirklichen von einem bestimmten, willkürlich zu erwählenden Gesichtspunkte aus hinzeichnen? Ich denke, das brauchen wir nicht mehr. Der Maßstab ist anlegbar, obwohl er mit dem zu messenden Gegenstande nicht identisch ist, und der Plan eines Hauses kann richtig sein, obschon er mit diesem nicht zusammenfällt, weil in Maßstab und Plan die gleichen räumlichen Beziehungen zum Ausdruck kommen wie im Meßobjekt und im geplanten Haus. Wer die Verhältnisse kennt, mag sie beliebig einkleiden. Genau so verhalten Theorien sich zur Wirklichkeit. Sie fallen mit dieser nicht zusammen, sind also niemals im absoluten Sinne wahr, aber sie wandeln die gegebenen Verhältnisse nicht um und stellen sie wahrheitsgemäß so dar, wie sie vom erwählten Standorte aus erscheinen müssen. Und dieses vermögen sie deswegen, weil die Grundnormen des logischen Denkens von Hause aus die gleichen sind wie die des sonstigen Geschehens, und nichts uns daran hindern kann, solche Postulate aufzustellen, die dem Konkreten Rechnung tragen. Allgemeiner ausgedrückt: die Erscheinungen, die wir als Theorien bezeichnen, verkörpern die gleichen Grundgesetze wie alle sonstigen Phänomene, und deshalb ist es immer möglich, zwischen beiden Erscheinungsreihen, die freilich nie zur Deckung zu bringen sind, Beziehungen herzustellen.

1 Man lese über diese Frage vornehmlich Uexküll und Driesch. Jener gibt eine gute Anschauung des Gegenstandes, während dieser die logisch-methodische Seite des Problems besonders gründlich untersucht hat. Von Uexkülls Schriften kämen in diesem Zusammenhang in Betracht sein Leitfaden in die experimentelle Biologie der Wassertiere (Wiesbaden 1905, Verlag J. F. Bergmann) und Innenwelt und Umwelt der Tiere (Berlin 1909, Verl. J. Springer). Drieschs Arbeiten stellen eine stetige Reihe dar und müssen daher eigentlich alle berücksichtigt werden, doch dürfte sein letztes Werk, die Philosophie des Organischen (Leipzig, Engelmann), die Hauptgesichtspunkte wohl sämtlich enthalten.
2 Dieser Wahrheit hat besonders Nelson in seiner bereits zitierten Arbeit einen glücklichen Ausdruck verliehen.
3 Die wahre Größe Hegels hat nicht seine Schule, sondern der Empirist William James am besten erkannt. Man lese das betreffende Kapitel in seinem Buche A plurastic Universe (London 1909, Longmanns, Green & Co.).
4 In diesem Zusammenhange brauche ich über das gegenseitige Verhältnis von Logik und Mathematik kein Urteil zu fällen: meine Auffassung bleibt wahr, gleichviel wie dieses zu bestimmen sei. Wenn ich daher beide Disziplinen unter einer Rubrik betrachte, so will das nicht sagen, dass ich den Logistikern in allem zustimme: mir scheint es z. B. schwer, um die Annahme synthetischer Urteile a priori ganz herumzukommen und ich glaube, dass hier Poincaré gegen Bertrand Russell und Couturat recht behalten wird. An dieser Stelle kann ich mich über die Grundprinzipien der Mathematik nicht ausbreiten, möchte indessen nicht versäumen, Mathematiker und Philosophen auf ein Werk aufmerksam zu machen, dessen faktische (wohl zu unterscheiden von den theoretischen!) Ergebnisse geeignet sein dürften, zu einem tieferen Verständnisse des Mathematischen a priori den Weg zu Weisen: E. von Cyon, Das Ohrlabyrinth als Organ der mathematischen Sinne für Raum und Zeit (Berlin 1908, Verl. J. Springer).
5 Vgl. mein Gefüge der Welt S. 195 ff.
6 Dieser Gedanke ist besonders gut und überzeugend von Ferdinand Jacob Schmidt in seinem Aufsatz Kant - Orthodoxie (Preußische Jahrbücher vom Januar 1903) ausgeführt worden.
7 Philosophie der Gegenwart S. 136 (Hamburger Vorträge des Herbstes 1900).
Hermann Keyserling
Prolegomena zur Naturphilosophie · 1910
II. Vernunft und Weltordnung
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME