Schule des Rades
Hermann Keyserling
Prolegomena zur Naturphilosophie
III. Die Erkenntniskritik als Zweig der Biologie
Totalität der Erscheinungen
Das Höchste wäre: zu begreifen, daß allesGoethe
Faktische schon Theorie ist
Für Kant, dessen Kritik vom erfahrenden Bewußtsein ausging, war die Vernunft
die letzte Instanz; von seinem Standpunkte aus wäre es unmöglich sowohl als sinnlos gewesen, weitere Fragen zu stellen. Kant konnte es nicht als seine Aufgabe betrachten, zu erforschen, was denn die Tatsache, daß Erfahrung nur nach bestimmten Formen und Kategorien zustande kommt, die in uns selbst begründet und aus der äußeren Natur nicht abzuleiten sind, für einen allgemeinen Sinn haben möge, denn die Art seiner Problemstellung schloß das Problem des Zusammenhangs der Vernunftkritik mit den anderen kritischen Wissenschaften aus; er konnte mit Recht der Meinung sein, in der Kritik der reinen Vernunft und in den Prolegomena zu jeder künftigen Metaphysik den abschließenden Begriff von der Natur entdeckt und bestimmt zu haben. Für uns liegen die Dinge anders. Wir haben erkannt, daß die Vernunftkritik keine Grundwissenschaft, sondern eine kritische Disziplin unter anderen ist — in dem Sinne, daß sie über das gegenseitige Verhältnis zweier Ordnungen des Wirklichen, die beide der gleichen Sphäre angehören, Aufschluß gewährt; wir haben ferner erkannt, daß der erkennende Mensch im Gesamtzusammenhange der Phänomene begriffen werden muß, wofern er erschöpfend begriffen werden soll, und daß dieses Unternehmen nicht unmöglich sein kann, da wir von uns selbst auf keine andere, unmittelbarere Weise wissen, als von den Gegenständen der äußeren Natur. Wir wissen endlich, daß es einen Standpunkt gibt, der über Vernunft und Weltordnung einen gleichzeitigen Überblick gewährt. Daher können uns die Ergebnisse der Vernunftkritik keine letzten Erkenntnisse bedeuten. Wir müssen drei Wahrheiten im Zusammenhang begreifen, welche Kant als solche noch nicht bewußt geworden waren und deren möglicher Zusammenhang auch uns zunächst fraglich erscheinen mag: die Wahrheiten, daß alles Gegebene gleich wirklich ist, daß den Grundnormen des logisch-mathematischen Denkens objektive Gültigkeit zukommt, und daß unsere Welt gleichwohl im Kantischen Sinne Vorstellung ist. Und dieses Problem stellt sich uns geradezu in den Weg, wir können ihm nicht ausweichen: da unsere oberste Voraussetzung nicht das Ich der Apperzeption, sondern die Totalität der Erscheinungen ist, in welche wir als Teile hineingehören, so ist uns das System der Erkenntnisformen nicht Grundlage, sondern Element. Es kann aber keine Einzelerscheinung als verstanden gelten, bevor ihre Stellung im Gesamtbilde nicht bestimmt wurde. Wir müssen somit nach dem Sinne dessen forschen, was für Kant nicht mehr abzuleiten und zu deuten war, wir müssen einen Gesichtspunkt erklimmen, der den erkennenden Menschen im Zusammenhange des Naturgeschehens zu übersehen gestattet.
Prolegomena zur Naturphilosophie · 1910
III. Die Erkenntniskritik als Zweig der Biologie
© 1998- Schule des Rades
