Schule des Rades
Hermann Keyserling
Prolegomena zur Naturphilosophie
IV. Naturgesetze und Naturerscheinungen
Natur und Dichtung
Wir können nunmehr den Weg des Erkenntnisprozesses mit wenigen abschließenden Sätzen von Anfang bis zum Ende bestimmen. Der Mensch, gleich jedem Organismus, schafft sich seine Welt. Er schneidet sie aus aus der ganzen Wirklichkeit, er schneidet sie zu seiner Eigenart gemäß. Der Charakter der Welt, den er wahrnimmt, ist Produkt seiner Lebensformen. Um nun das Wahrgenommene zu begreifen, um einen Begriff von der Natur zu bilden, muss er sie aufschließen, zergliedern. Das unteilbare Werden teilt er entzwei, in Gesetze und Phänomene, und schafft bald ein luftiges Netz von Beziehungen, das allem Wirklichen und Möglichen Ort und Stellung weist. Aber wie dieses Netzwerk übersehen? Hier bedarf es der Organisation. Es wird ein Gesichtspunkt gewählt, das Gesichtsfeld abgesteckt, es werden sekundäre perspektivische Zentren festgesetzt, auch Hilfskonstruktionen errichtet. Dank solchem Organisieren gelingt es zuletzt, den Zusammenhang vollständig zu überblicken. Dieser Zusammenhang als solcher ist Realität, er stellt die spezifische Verstandesansicht der empirischen Wirklichkeit dar. Wohl mag die Natur an sich selbst ein unauflösliches Ganzes sein, wohl ist das konkrete Geschehen ein unaufteilbares Werden: insofern als gedacht wird, liegen den Phänomenen tatsächlich Gesetze zugrunde. Aber das gleiche gilt nicht von den Gesichtspunkten, den Projektionszentren und Hilfskonstruktionen, die wir aufrichten und anwenden: diesen entspricht keinerlei selbständiges Sein, sie sind ausschließlich das, als was sie bezeichnet wurden; auf Transzendentes weisen sie unter keinen Umständen hin. Empirische Wirklichkeiten sind sie insofern wohl, als sie, einmal erschaffen, hinfort gegeben sind, allein sie stammen vom Menschen her, nicht aus der äußeren Natur, und haben ihren Seinsgrund nur im Menschen. Nun scheinen sie aber mehr zu sein als Zentren der Perspektive, denn diese werden hier nicht, wie in der Geometrie, durch harmlose Punkte und Linien ausgedrückt, sondern durch Begriffe von verfänglicher Bedeutung. Der gegebene Zusammenhang kann aus dem Prinzip des Sollens und dem des Seins, aus vorausgesetzten Werten sowohl als aus erwiesenen Naturgesetzen, aus Urgründen und aus Endzwecken abgeleitet werden, und die perspektivische Verschiebung, die in der Mathematik nur formale Umformungen nach sich zöge, deren Zusammenhang mit den ursprünglichen Verhältnissen ohne weiteres zu übersehen ist, bedingt hier Sinnesänderungen so fundamentaler Art, dass ein Weltbild das andere aufzuheben scheint, wie die Wahrheit die Lüge aufhebt. Diese buntschillernden Möglichkeiten sind einerseits das Glück des erkennenden Menschen: da er ohne Schemen nicht zu denken weiß, und Schemen ihrem Wesen nach beschränken, so kann er zu erschöpfenden Begriffen überhaupt nur dadurch gelangen, dass er die Objekte von allen Seiten her betrachtet und die verschiedenen Bilder sorgfältig mit einander vergleicht. Sie bedeuten aber andrerseits sein bösestes Verhängnis. Denn da der Ort jedes Gesichtspunktes durch einen Begriff bezeichnet wird, der einen weitverzweigten Vorstellungskomplex vertritt, so liegt es außerordentlich nahe, der Sphäre des Begriffs, der sich als zweckmäßig erwies, selbständige Wirklichkeit zuzuerkennen. Der Mensch kehrt hierbei die wahren Verhältnisse um oder setzt sie als umgekehrt voraus: anstatt vom Gesichtspunkte aus das Gesichtsfeld zu betrachten, blickt er von diesem zu jenem hinauf; und da er hierbei nicht umhin kann, zu entdecken, dass der Gesichtspunkt feststeht und die Aussicht unverrückt beherrscht, während diese sich stetig verändert, so deutet er den Gesichtspunkt als höhere Wirklichkeit. Durch diese Art Umkehrung ist aus der Tatsache, dass die Natur gemäß Ideen zu begreifen ist, die reale Existenz einer Ideenwelt gefolgert worden, auf die gleiche Weise hat man neuerdings, nachdem sich ergeben hatte, dass die Wirklichkeit unserer Erkenntnisse aus Urteilsforderungen zu verstehen ist, die ihrerseits auf ein Prinzip des Sollens zurückgeführt werden können, vermittelst untadeliger Schlüsse die transzendente Wirklichkeit des Sollens
deduziert.
Alle Weltdeutungen solcher Art sind nun offenbar Geschöpfe eines grundsätzlichen Missverstehens. Ihre Urheber haben das Gerüst, das der Verstand aufführen muss, um das Gefüge der Welt zu begreifen, mit diesem selbst verwechselt, in den Staffeln des Gerüstes Abstufungen der Wirklichkeit erblickt. So hören wir noch heute, wie zu mythenbildenden Epochen, von transzendenten Reichen sagen, von Welten der Ideen, der Werte, von höchsten und letzten Wirklichkeiten, die metakosmisch sein sollen. Soweit es sich um geistige Welten handelt, die auf die Natur nicht übergreifen und im Reiche des Geistes allein auf Wirklichkeit Anspruch erheben, ist Mythenbildung berechtigt: hier ist das gültig, was wir anerkennen, hier ist das wirklich, was wir frei erschaffen, hier sind Natur und Dichtung im gleichen Sinne wahr. Dem Künstler gegenüber ist der Stoff ohne Macht, was er will, das hat zu geschehen, und was er wünscht, das ist auch da. Daher sind Kulturphilosophien, die von Werten ausgehen, gegenständliche Geistesgebilde, daher wird das Sollen
die berechtigte Grundvoraussetzung jedes Moralsystems sein, das sich Geltung zu verschaffen weiß. Aber das, was im Rahmen kultureller Zusammenhänge wirklich sein kann, ist ohne jede Wirklichkeit im Rahmen der Natur, wie weit dieser immer gefasst werde. Hier bedeuten Prinzipien, Ideen und Postulate, so groß und gewaltig sie scheinen mögen, ausschließlich Gesichtspunkte zum Verständnis des Gegebenen; mehr sind sie nicht und können sie nicht sein. Im Sinne einer absoluten Wirklichkeit liegt der Welt überhaupt kein Prinzip zu Grunde, kein Plan und keine Idee. Die Welt ist grundlos und ziellos, unzurückführbar und ohne geheimen Sinn. Sie ist, so wie sie ist, schlechterdings die letzte Instanz. Alle ihre scheinbaren Seinsgründe sind menschliche Erkenntnisgründe, allen Sinn wirkt das Leben in das Tote hinein, alle Ideenwelten sind Teilerscheinungen der einen Erscheinungswelt. Für die kritische Wissenschaft gibt es nur eine Wirklichkeit, bestehend aus Phänomenen, die nach Gesetzen zusammenhängen. Aller Idealismus kann daher nur den einen Beruf haben, diese Wirklichkeit begreiflich zu machen.