Schule des Rades

Hermann Keyserling

Prolegomena zur Naturphilosophie

VI. Vom Ideal des philosophischen Denkens

Wahrhaftigkeit

Was ich Ihnen von den Anforderungen, deren vollkommene Erfüllung das Ideal des philosophischen Denkens bezeichnen würde, bisher gesagt, bezog sich bloß auf die technische Seite des Problems. Die gleichen Zusammenhänge lassen sich aber auch ethisch, vom Wesen des Menschen her, bestimmen. Sehen wir nun zu, was den Forderungen der Exaktheit, der Präzision und der Gegenständlichkeit auf ethischem Gebiete entsprechen mag, so entdecken wir, dass dieses das Gebot der Wahrhaftigkeit ist.

Es ist nämlich nicht nur unmöglich, ohne Wahrhaftigkeit exakt zu sein: dem Denker, der die Tugenden seines Berufs nicht nach bestem Vermögen übt, der sich hier gehen lässt und nicht das Äußerste von sich verlangt, fehlt es notwendig zugleich an Wahrhaftigkeit. Denn der Philosoph ist noch nicht wahrhaftig, wenn er bloß das ausspricht, was er meint: er darf bloß das meinen, was wirklich ist, seine Überzeugung muss dem wahren Verhältnis seines wahren Wesens zu Wirklichem Ausdruck verleihen. Bei den meisten tut sie dies, allem Anscheine entgegen, nicht. Die meisten gehen von Voraussetzungen aus, die sie teils blindlings übernahmen, ohne sich über sie Rechenschaft abzulegen, teils künstlich erschufen, indem sie ein undeutlich erschautes Bild in den Rahmen inadaequater Begriffe einfassten. Sie glauben ehrlich an diese Voraussetzungen, kein Moralist hätte das Recht, sie der Unaufrichtigkeit zu zeihen und dennoch lügen sie im tiefsten ethischen Verstande; sie bekennen sich zu Überzeugungen, die sie im Grunde nicht haben. Diese Lüge mag bei Menschen verzeihlich sein, deren Lebenszentrum im Praktischen liegt: beim Denker bedeutet sie die Sünde wider den Heiligen Geist. Der Denker darf sich über das Wesen nicht täuschen, denn Selbstbesinnung ist sein einziger Beruf. Sein Denken muss aus den Tiefen der Wirklichkeit hervorgehen, seine Gedanken haben Spiegel des Wirklichen zu sein, sein Glaube darf nur Wesentlichem gelten. Es ist freilich schwer, das Wesen zu erblicken, noch schwerer, es im Auge zu behalten. Einer Demut bedarf es hierzu, eines rastlosen Strebens nach Verinnerlichung, einer grausamen Bewusstheit, einer immerdar wachsamen Selbstkritik, die nicht jeder sich zumuten möchte. Aber es ist auch nicht notwendig, dass jeder sich mit Philosophie befasse. Die Weisheit liebt nur den wieder, der sich selbst überwinden kann.

Hermann Keyserling
Prolegomena zur Naturphilosophie · 1910
VI. Vom Ideal des philosophischen Denkens
© 1998- Schule des Rades
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