Schule des Rades
Hermann Keyserling
Prolegomena zur Naturphilosophie
IV. Naturgesetze und Naturerscheinungen
Ordnungen des Wirklichen
Unter Natur verstehen wir den ZusammenhangKant
der Erscheinungen ihrem Dasein nach, nach
notwendigen Regeln, d. i. nach Gesetzen.
Es sind also gewisse Gesetze, welche allererst
eine Natur möglich machen.
Wir haben nunmehr einen allgemeinen Überblick über das Weltbild gewonnen, das Kants Genius als das unserige abmaß, wir haben zugleich den Sinn seiner Grenzen erfasst. Wir wissen, dass es Erfahrung nur von Erscheinendem gibt, und nur innerhalb begrifflicher Schemen, die als solche Erkenntniswerkzeuge bedeuten. Und zugleich ist uns bewusst geworden, dass eben dieser Umstand die Wahrhaftigkeit unserer Weltanschauung und die Gültigkeit unserer Erkenntnisse. Das Erscheinen
im Kantischen Sinne ist der vom menschlichen Standpunkte aus einzig mögliche Ausdruck der Wirklichkeit, und begriffliche Erkenntnis ist nicht nur zweckmäßig für uns, sondern auch den Dingen adäquat, weil eine Theorie nur dann zweckmäßig sein kann, wenn sie, bei aller Inkongruenz ihrer Symbole mit den Dingen, die Verhältnisse zwischen diesen unverfälscht wiedergibt. Schon an unserem zweiten Vortragsabende haben wir gelernt, dass es keinen Sinn hat, die objektive Gültigkeit von Relationen anzuzweifeln, die erfahrungsgemäß andere Erscheinungen als unsere Gedanken regieren, weil uns der Denkprozess auf keine andere, unmittelbarere Weise gegeben ist, als das sonstige Naturgeschehen und weil das Beanstanden der Wahrheit äußerer Erfahrung notwendig das Bezweifeln jeder Erkenntnis überhaupt bedingen würde. Wenn sich also Beziehungen irgendwelcher Art — etwa die Fallgesetze, Maxwells Gleichungen, Mendelejews periodisches System, — an der Erfahrung als gültig erweisen, so dass sie das Gegebene zu bestimmen und das Künftige vorauszusehen gestatten, so haben wir ihnen ohne weiteres objektive Gültigkeit zuzuerkennen. Ja die Objektivität wissenschaftlicher Erkenntnis fußt überhaupt nur auf diesen konstanten Relationen, weder auf den theoretischen Voraussetzungen, welche immer zweifelhaft bleiben, noch auf den gegebenen Erscheinungen, weil diese uns entrinnen. Was ist z. B. objektiv wahr an der Lehre vom Lichte? Was das Licht eigentlich
sei, vermögen wir nicht zu sagen, als solches ist es nicht zu fassen; was aber die Theorien betrifft, so lehrt die schnelle Ablösung der Emissions- durch die Undulationstheorie, und dieser wiederum durch die elektro-magnetische, wie vorsichtig man damit sein muss, in Naturdeutungen absolute Wahrheiten anzuerkennen. Aber gewisse Beziehungen finden sich innerhalb aller Theorien wieder, sie sind das gewisse und dauernde Moment in der Flucht des Ungewissen; Fresnels Gleichungen sind ohne weiteres in diejenigen Maxwells umzuformen. Weshalb? Weil die Relationen, die den Formeln beider Forscher zugrunde liegen, das wirkliche Verhältnis der fraglichen Phänomene zu einander ausdrücken, unabhängig von aller Wahrnehmungs- und Deutungsart. Das gegenseitige Verhältnis der Phänomene ist ein gegebenes, keine Willkür vermag es umzuschaffen; Gleichungen aber verhalten sich zur Wirklichkeit wie der Maßstab zum Gegenstande, den er misst. Zwischen beiden als solchen besteht keine Identität, aber der Maßstab ist anlegbar und die Bestimmungen, die er vermittelt, sind richtig, weil die räumlichen Beziehungen, die in der Maßeinteilung zum Ausdruck kommen, keine anderen sind als die, welche sich innerhalb des Räumlichen überhaupt nachweisen lassen. Die Objektivität wissenschaftlicher Erkenntnis ist dem nach Funktion der Richtigkeit der Beziehungen, welche zwischen den Dingen postuliert werden, nicht Funktion des Zusammenstimmens der Begriffe mit den Objekten; vom beziehungslosen Ding gibt es kein objektives Wissen. So ist es denn auch kein Wunder, dass die Wissenschaft, je weiter sie fortschreitet, je tiefer sie die Naturvorgänge erfasst, desto weiter vom Konkreten sich entfernt. Im grandiosen Lehrgebäude der modernen mathematischen Physik steht kaum ein Symbol mehr für einen Gegenstand, ja viele derselben sind sogar in keinen unmittelbaren Zusammenhang mit der Gegebenheit mehr zu bringen und gerade deswegen gibt diese Wissenschaft einen beinahe erschöpfenden Begriff von dem Geschehen, das sie behandelt. Denn Beziehungen sind desto sicherer und genauer zu bestimmen, je weiter sie gefasst werden, Resultanten immer leichter zu übersehen und zu behandeln als Komponenten, und je abstrakter ein natürliches System begriffen wird, desto vollständiger gelingt es natürlich, das wechselvolle Geschehen auf Beharrlichkeiten zurückzuführen. Dieser Abstraktionsprozess, der im selben Maße der objektiven Erkenntnis zuführt, als er sich von der unmittelbaren Wahrnehmung entfernt, kann freilich nicht ins Unbegrenzte fortschreiten; für jeden Fall gibt es einen kritischen Punkt, wo das Begriffssystem sich von der Wirklichkeit loslöst und damit seine Fähigkeit verliert, das Gegebene begreiflich zu machen. Dieser Punkt ist erreicht, wenn das System so allgemein und umfassend geworden ist, dass es alles nur mögliche Besondere in sich begreift und folglich weder neue Erfahrung zu vermitteln, noch auch durch Erfahrung korrigiert zu werden vermag. Dann hat es seinen praktischen Wert verloren, es ist gegenstandslos geworden. Allein, was jenseits der kritischen Punkte geschieht, straft das, was sich diesseits derselben ereignet, nicht Lügen; so bleibt es wahr, dass wissenschaftliche Erkenntnis von objektiver Gültigkeit nur gleichsam durch Überwindung des Konkreten zu gewinnen ist.
Denn Wissenschaft gibt es überhaupt nur vom Allgemeinen: dies ist der kürzeste Ausdruck für die Wahrheit, dass die Objektivität der wissenschaftlichen Erkenntnis ausschließlich auf den Beziehungen beruht, die sich zwischen den Erscheinungen postulieren und feststellen Lassen, nicht auf den gegebenen Vorgängen, so genau sie beobachtet wurden, und nicht auf den theoretischen Voraussetzungen, so wahrscheinlich diese erscheinen. Ein besonderes Ereignis als solches kann gar nicht begriffen werden, nur als Sonderausdruck eines allgemeinen Verhältnisses ist es überhaupt zu verstehen. Allgemein
bedeutet aber das gleiche wie gesetzmäßig
, denn wo sich verallgemeinern lässt, dort waltet ein Gesetz. Daher können wir den Satz, dass es Wissenschaft nur vom Allgemeinen gibt, auch so fassen, dass die Wissenschaft es nur mit den Gesetzen des Geschehens zu tun hat. Und dieses gilt von jeder unter ihnen, von der Biologie und der philosophischen Kritik nicht weniger als von der Physik und Chemie. Wenn der Biolog den Plan erforscht, nach welchem die organischen Prozesse ablaufen, so sucht er nach dem allgemeinen Gesetz, dem alles Besondere untergeordnet ist; wenn der Philosoph die Formen der Erkenntnis bestimmt, so stellt er damit die allgemeine Norm fest, die für jede Erfahrung gültig ist. Alle Wissenschaft verfolgt nur das eine Ziel, das Erscheinende auf Gesetze zurückzuführen. Hat sie aber dieses erreicht, dann ist sie auch vollendet. Wir haben gesehen, dass kein wissenschaftliches Problem aus dem Umkreise der Phänomene hinausweist, und dass keine Theorie etwas anderes und mehr sein kann, als ein Werkzeug zum Verständnis des Erscheinenden.
Es gibt sonach zwei und nicht mehr allgemeine Ordnungen des Wirklichen, mit denen es die Wissenschaft zu tun hat: Erscheinungen und deren Gesetze. Wir haben bisher nur auf die erscheinende Wirklichkeit im allgemeinen, und dann auf den besonderen Charakter der Gesetze, zu deren Feststellung wir gelangten, unser Augenmerk gerichtet — so auf deren immanente oder transiente Bedeutung, auf ihren bloßmenschlichen oder universalen Charakter, auf ihren Sinn als Prinzipien des Erkennens oder als Normen der Dinge außer uns. Nun ist es aber möglich, eine weitere Frage aufzuwerfen: nach dem Sinne der Gesetze als Gesetze. Es ist nämlich nicht ohne weiteres klar, inwiefern Beziehungen
wirklich sein können. Als solche sind sie uns nicht gegeben, denn wir nehmen nur zusammenhängende Erscheinungen und Vorgänge wahr, ein unauflösliches Geschehen, was aber die Denknotwendigkeit betrifft, so eignet diese wohl den logischen Grundnormen, jedoch keinem einzigen Naturgesetz. Inwiefern können Gesetze wirklich sein? — Wenn wir an die Art ihrer Feststellung denken, so erscheint es wohl gewiss, dass ihnen keine vom Verstande unabhängige Wirklichkeit zukommen kann, denn sie entstehen durch Abstraktion, und Abstraktionen sind immer auf den Abstrahierenden zurückzuführen. Hier scheint diese Zurückführung sogar vollständig zu gelingen, da der besondere Charakter der Naturgesetze nachweislich davon abhängt, welche Stellung der Forscher einnimmt und ein wie weites Gebiet er in den Rahmen des Experimentes hinein begreift. Gleichwohl sind die Gesetze Wirklichkeiten, die wir hinnehmen müssen, willkürliche Annahmen, gleich den Hypothesen, sind sie nicht; als bloßes Menschenwerk sind sie nicht zu begreifen. Aber was es tatsächlich mit ihnen für eine Bewandtnis hat, das geht aus unseren bisherigen Ergebnissen nicht unzweideutig hervor. Wir müssen, um den Sinn der Gesetze genau zu bestimmen, eine besondere Untersuchung anstellen.
Sobald wir das Problem auf die Weise hinstellen, dass die Frage nach dem Sinne der Gesetze als Gesetze einer Beantwortung zugänglich erscheint, so verwandelt sich unsere Aussicht auf eine überaus merkwürdige Weise: wir sehen uns nicht, wie bisher, einer Gegebenheit gegenüber, innerhalb welcher es verschiedene Ordnungen gibt, sondern zwei Sphären der Gegebenheit, die zwar beide im gleichen Maße wirklich, untereinander aber grundverschieden sind und von einem gleichen Gesichtspunkte aus nicht überblickbar scheinen. Der einen Sphäre gehört das Flüchtige an, das Zeitliche, das Zufällige und Wandelbare; der anderen hingegen das Ewige, das Notwendige und Beharrende. Richten wir unser Augenmerk allein auf die Gesetze und Normen der Natur, ohne uns um die Phänomene zu bekümmern, so offenbart sich uns eine eigenartige Welt der Beziehungen, die unverbrüchlich feststehen, was immer sich ereignen mag, die alles nur Mögliche von Ewigkeit her zur Harmonie verbinden und gleich einem kunstvollen Netzwerk die unbeständige Erscheinungswelt umrahmen, umfassen und tragen. Und blicken wir auf die Phänomene allein, ohne ihres Zusammenhangs zu gedenken, so gewahren wir eine chaotische Flucht, ein gesetzloses Entstehen und Vergehen, ein buntes und wirres Durcheinander. Diese beiden Welten erscheinen dermaßen verschieden, sobald man sie gesondert betrachtet, dass es nahe genug liegt, ihren Zusammenhang nicht als selbstverständlich vorauszusetzen, sondern als ein Problem in Frage zu stellen, dessen Auflösung möglicherweise in der Negation dieses Zusammenhangs bestehen würde. Der erste, der die Wirklichkeit dergestalt doppeltgebrochen erblickt hat, ist Plato gewesen; er hat den scheinbaren Tatbestand dahin gedeutet, dass dem Erscheinenden eine Welt der Ideen zugrunde läge: ein Reich göttlicher Ursachen und Vorbilder des Gegebenen, der verwirklichten Ideale und Normen des Wirklichen zugleich. Wir vermögen die Gedanken des Griechen heute nicht mehr ganz nachzudenken, es ist sowohl zwecklos als historisch falsch, sie mit modernen Vorstellungen in unmittelbaren Zusammenhang zu bringen: gewiss ist gleichwohl, dass Platos Ideenlehre genau der gleichen Fragestellung entspringt, wie Lotzes Lehre einer Welt des Geltens, dass sie auf einer Ebene mit sämtlichen späteren idealistischen Weltanschauungen liegt und als deren Prototyp betrachtet werden darf. Der platonische Grundgedanke — ich sage absichtlich nicht der Grundgedanke Platos — ist der folgende: es gibt zwei Reiche des Wirklichen, ein Reich des Erscheinenden, Veränderlichen, und eines der ewigen Normen.
Dieser Grundgedanke ist im Laufe der Jahrhunderte auf jede nur erdenkliche Weise gewendet, gefasst und eingekleidet worden, die Idee hat von der Gottheit bis zum Hirngespinste jede Deutung erlebt und die Erscheinung von der Lüge bis zur Wahrheit. Den Orientalen erhitzte sich die Ideenwelt zum Urfeuer, dessen Strahlen die Schöpfung beseelten, den hellenistischen Christen verklärte sie sich zum Himmelreich, fanatische Logiker unternahmen es, alle Erscheinung hinwegzudisputieren und skeptische Praktiker misstrauten der ungreifbaren Idee. Erst mit Kant hat der Prozess kritischer Aufklärung, der schon mit Aristoteles begonnen und seit Descartes im Prinzip bereits deutlich gemacht hatte, dass die Wirklichkeit der Phänomene nicht gut zu diskutieren ist, und dass Ideen als Vernunftprinzipien und nicht als absolute metaphysische Substanzen verstanden werden müssen, einen methodischen Abschluss gefunden; erst Kant hat das doppeltgebrochene Weltbild wieder auf eine einzige Welt zurückzuführen versucht. Historisch betrachtet, ist ihm dieses jedoch nicht gelungen: gerade seine kritischen Nachfolger haben bald eine Schwenkung zu Plato zurück vollführt. Es ist dem Verstande eben schwer, Beharrliches und Veränderliches, Sein und Werden, Zeitliches und Ewiges im Zusammenhang zu denken, sehr schwer, über die Antithetik hinauszugehen. So ist aus der Kritik heraus der Platonismus wiedererstanden. Zumal Lotzes schönes Kapitel über die Ideenwelt — eine Welt des reinen Geltens und zugleich der höchsten Wirklichkeit — hat viele spätere Denker verführt. Heute gibt es gar viele Philosophen, die an ein besonderes Reich der Ideen glauben, bald im Sinne einer Universalmathematik, einer universal algebra, wie Whitehead sie nennt, bald wieder im Sinne begrifflicher Normen, und hie und da auch im Sinne einer Verschmelzung des Platonismus mit der Hegelschen Metaphysik. Sehr interessant, obwohl für uns nicht in Betracht kommend, ist die Abart des Platonismus, welche die Wirklichkeit auf Werte begründen will: es ist die Durchführung eines Gedankens, den der vorsichtigere Athener nur an der Grenze des Schweigens ausgesprochen hat — der möglichen Zurückführung aller Ideen auf diejenige des höchsten Guts. Die Psychologie aller platonisierenden Denker ist übrigens die gleiche: angesichts der Schwierigkeit, Beharrendes und Verfließendes auf einmal im Auge zu behalten, haben sie das Untrennbare aufgetrennt. Auf der einen Seite verblieb ihnen dann die erscheinende Wirklichkeit, auf der anderen ihr gesetzmäßiger Konnex, jede Seite für sich wesentlich leichter zu übersehen. Über den Charakter der Erscheinungswelt sind sich wohl alle einig gewesen, denn diese erscheint von jedem Standpunkte aus gleich geartet. Anders steht es mit dem gesetzlichen Konnexe: dieser lässt sich aus unendlich vielen Prämissen begreifen, und die resultierende Theorie wird jedesmal eine andere sein. So haben denn die modernen Platoniker, ihren individuellen Neigungen entsprechend, die letzte Instanz der Erkenntnis bald in Naturgesetzen, bald in Urteilsforderungen, bald in Werten erblickt.
Eines ist nun gewiss: gibt man sich dem unmittelbaren Eindrucke hin, so erscheint die platonische Weltanschauung plausibel genug. Es ist in der Tat etwas Besonderes um die Gesetze, die da ewig gelten, unwandelbar, unbedingt, in immer gleicher Kraft und Eigenart. Die Fallgesetze gelten, auch wenn nichts fällt, Newtons Formeln weisen ungeborenen Sternen von Ewigkeit her ihren Ort an und das mannigfachste Geschehen ist aus der Kenntnis weniger Gleichungen vorauszubestimmen. Es liegt überaus nahe, in den gesetzmäßigen Beziehungen selbständige Wesenheiten zu erblicken, um so näher, als ihr besonderer Charakter aus den Erscheinungen unmittelbar nicht abzuleiten ist und sie daher, von diesen her besehen, wirklich unzurückführbar sind. Auch hat der Verstand von Natur aus die Neigung, das Beharrende und Ewige dem Veränderlichen und Zeitlichen gegenüber zu überschätzen, und diese Neigung kommt dem Platonismus zugute. Dennoch ist es unmöglich, selbst wenn man einräumt, dass die platonische Deutung des Tatbestandes eine mögliche Deutung ist, dieselbe für erschöpfend zu halten. Denn zur Entdeckung von Gesetzen führt nur der eine Weg des Experimentes, und es ist nicht einzusehen, wie sich aus einer experimentellen Fragestellung die Erkenntnis einer Welt ergeben sollte, die jenseits ihrer Basis läge. Wenn der Abstraktionsprozess unter die Erscheinungswelt hinabzuführen vermöchte und dann zur Entdeckung von Ideen gelangte, so ließe sich deren absolute Realität allenfalls verteidigen; aber solches liegt nicht in seiner Macht. Die Atome, Elektronen etc., auf welche der Forscher das Erscheinende reduziert, bezeichnen keine außer-empirischen Wesenheiten, sondern einfach die Seiten des Empirischen, die am leichtesten zu handhaben sind. Also besteht das Abstrahieren vom äußeren Anschein, das der Forscher allerdings vollzieht, nicht in einem Absehen von der brutalen Wirklichkeit überhaupt, wie die griechischen Idealisten dies vermeinten, sondern in einem Absehen von einem Teil derselben zu Gunsten eines anderen, aus praktischen Gründen vorgezogenen. Schon aus diesen Erwägungen heraus scheint die Berechtigung der Annahme einer besonderen Welt des Geltens mehr als zweifelhaft. Ferner sind die ewigen Gesetze ihrem Charakter nach doch gar zu abhängig von der Stellungnahme des Forschers, um als Absoluta anerkannt zu werden. Ich weiß wohl, dass heute vielfach für erwiesen gilt, dass Normen unabhängig von dem, der sie anerkennt, definiert werden dürfen, dass also, weil die Fallgesetze gelten, auch wenn nichts fällt, oder weil die Wahrheit ein Ideal bleibt, selbst wenn keiner nach ihr streben würde, den Fallgesetzen oder dem Wahrheitsideal eine absolute Existenz zugesprochen werden muss. Aber diese Auffassung schließt offenbar einen Trugschluss ein. Allerdings ist es richtig, dass unter der Voraussetzung der Wirklichkeit, wie sie ist, und der Kulturforderungen, wie sie allgemein erhoben werden, den genannten Normen unbedingte Gültigkeit zukommt, dass also das Gesetz oder der Wert besteht, auch wenn keiner sie ausdrücklich anerkennt. Aber wer sieht nicht, dass diese Unbedingtheit
genau den gleichen Sinn und den gleichen Grad hat, wie die des Daseins eines Gegebenen überhaupt? — denn auch die Natur ist da, ob ich sie anerkenne oder nicht; dass also die Normen, denen absolute Gültigkeit zukommen soll, in unleugbarer Wechselbeziehung mit dem stehen, was ausdrücklich als relativ definiert wurde? Wenn die Welt, wie sie ist, unbedingt vorausgesetzt werden muss, auf dass den Normen absolute Gültigkeit zukäme, dann hat es ersichtlich keinen Sinn, diese Gültigkeit eine absolute zu nennen, dann mühen die Theorien, welche die Welt auf die angedeutete Weise zu erklären unternehmen, zum mindesten unzweckmäßig sein.
Aber objektiv gültig sind diese Normen wohl; bis zu diesem Punkte spricht der Platonismus wahr. Als bloßes Menschenwerk können sie ebensowenig begriffen werden wie als Wesenheiten transzendenter Art. Da sich Naturgesetze unzweideutig nachweisen lassen, da es möglich ist, auf Grund ihrer die fernsten Ereignisse mit Bestimmtheit vorauszusagen, so folgte aus der Antithese des eigentlichen Platonismus, der These Kants, dass der Verstand der Natur ihre Gesetze vorschreibt, falls diese behaupten soll, dass das Denken außerhalb der allgemeinen Gegebenheit vor sich geht, dass das ordnende Bewusstsein außerhalb des Rahmens der Natur belegen sei, unweigerlich der fiktive Charakter der gesamten erfahrbaren Natur. Dann könnten die Ergebnisse exaktester Forschung nicht richtiger
sein als die willkürlichsten Konstruktionen einer schwärmenden Einbildungskraft, dann wäre Wissen ein Ding der Unmöglichkeit. Folglich kann auch die Deutung der Gesetze als menschlicher Verstandesprodukte keine erschöpfende sein. Irgendwie muss dem menschlich-Wirklichen allgemeine Wirklichkeit zukommen, irgendwie muss die Notwendigkeit für uns, die Erscheinungen gemäß Gesetzen zu begreifen, auch vom Kosmos her verstanden werden können.