Schule des Rades

Hermann Keyserling

Reise durch die Zeit

I. Ursprünge und Entfaltungen

Einführung · Methode, Formgebung und Stil

Bei neuerlicher Durchsicht von Büchern, die ich schon in meiner Studentenzeit angeschafft hatte, fand ich die französische Ausgabe von Augustins Bekenntnissen wieder, welche als erstes mir bekannt gewordenes Beispiel von Gewissenserforschung bei mir Epoche gemacht haben. Und auf der ersten Seite fand ich in meiner damals sehr deutlichen Handschrift die Stelle aus Confessiones III, IX als Motto aufgeschrieben, die in jener Übersetzung also lautet — ich lasse es beim französischen Wortlaut, denn gerade dieser rief in mir damals ein so lebendiges Echo wach:

Toutes les actions de Vos serviteurs sont l’expression des nécessités du présent ou la figure de l’avenir.

Wie bedeutsam und symptomatisch zugleich erscheint dieses Zitat mir heute, nach über vierzig Jahren! Schon damals, ja damals vielleicht am meisten, weil ich das, was in mir vorging, kaum begriff und auch noch gar keine inneren Entscheidungen gefällt hatte, als welche immer irgendwie lösen wenn nicht erlösen, litt ich unter eben dem durch die Unvereinbarkeit des Erlebens im gegenwärtigen Tun mit dem durch die passive Betrachtung von Erinnerungsbildern bedingten Zwiespalt der Seele, dessen Grund-Sinn mir erst im vorletzten Kapitel des Buchs vom Ursprung für mich selber befriedigend zu fassen gelang. Und so tröstete ich mich mit dem Wort des anerkannten Heiligen, gemäß welchem alle Handlungen einerseits gegenwärtiger Notwendigkeit entspringen, andererseits Zukunft symbolisch vorbilden. Schon damals, wo es seine Eigenform noch gar nicht gefunden hatte, erlebte ich mein Leben ursprünglich-naiv als Mythos.

Könnte ich nicht statt dessen sagen, ich erlebte mein Leben als Dichtung? So habe ich mir den Sachverhalt zeitweilig selber gedeutet, ähnlich gewissen Stoikern, welche das Leben des geistbestimmten Menschen als Imagination seiner selbst auffassten, oder wie zuletzt Ortega, welcher die gleiche Auffassung sogar dahin übersteigerte, dass er schrieb:

El hombre es novelista de si mismo, original o plagiario.1

Doch diese Deutung fasst nicht die Wurzel des zu Fassenden. Dichtung bedeutet an sich nur Ver-Dichtung von geistig-seelischem Gehalt zu selbständiger Sondergestalt. Sie ist insofern, vom Dichtenden her geurteilt, nicht allein Ausdruck, sondern zugleich Entäußerung. Dichter sind als solche im gleichen Sinne Solipsisten, wie Träumende, gleichwie die Vielfalt der Traumbilder letztlich immer das träumende Subjekt meint und polyphon verkörpert, so schildert jeder Dichter in seinen auf noch so genauen Beobachtungen fußenden Darstellungen letztlich immer sich selbst; daher das unmittelbar Lebendige echtgedichteter Gestalten, welche als solche Geburtartig von innen heraus entstehen, im Unterschied von bloß von außen her beschriebenen. Andererseits jedoch sind erdichtete Gestalten Projektionen und damit, wie gesagt, Entäußerungen; der Dichter befreit sich selber durch die Herausstellung. Eben darum und insofern wirken seine Schöpfungen freilich auch auf andere befreiend: das Urbeispiel dessen bietet die Katharsis des Trauerspieles. Nichtsdestoweniger dient Dichtung in allererster Linie der Irrealisierung der eigenen Wirklichkeit. Daher das letztlich Bedenkliche dichterischer Existenz oder der Identifizierung mit solcher. Ich weiß buchstäblich von keinem Menschen, welcher durch Einfühlung in Erdichtetes, fremdes oder eigenes, innerlich und persönlich weitergekommen wäre. Und ich weiß von nur ganz wenigen Dichtern in der gesamten Weltliteratur, die nicht auf Kosten ihrer möglichen Selbstverwirklichung fabuliert hätten.

Ganz anders wie mit der Dichtung steht es mit dem Mythos. Ist dieser echt, das heißt dem ursprünglichen Wesen und der ureigensten Bestimmung eines Menschen gemäß, dann verkörpert gerade er dessen tiefst-Persönliches: nämlich seines Lebens geistigen Ursprung, Sinn und Ziel. Sinn und Ziel aber bleiben nicht allein wahr und wirklichkeitsgemäß, auch wenn sie nur undeutlich erfasst und in nur sehr geringer Annäherung verwirklicht wurden — in ihnen drückt sich das Wesen eines Menschen aus. Darum kommt es zur rechten Erfassung einer Persönlichkeit weit mehr auf jene an als auf die Tatsachen, welche als bloße Ausdrucksmittel immer auch anders sein könnten als sie jeweils waren oder sind; wer hier des großen Porträtmalers im Unterschied vom Photographen gedenkt, wird ohne weitere Erläuterung verstehen, was ich meine. Andererseits: ist ein Mythos nicht im hier skizzierten Sinne echt, dann ist er auch kein Mythos, sondern bloße Dichtung. Der Unterschied aber beruht, wohlgemerkt, nicht darauf, ob es sich jeweils um einen strikt persönlichen oder einen übernommenen Mythos handelt — ein übernommener kann genau so echt sein, sofern er dem Betreffenden genau entspricht; man denke nur an den tief und wahrhaft Gläubigen, welcher sein persönliches Leben von den Voraussetzungen des christlichen Mythos her und in dem von diesem vorgezeichneten Rahmen auslebt, oder an den Herrscher, welcher aus innerer Berufung Tradition fortsetzt: der Unterschied beruht auf der Entsprechung oder Nichtentsprechung zwischen Mythos und persönlicher Wirklichkeit. Vollkommene Entsprechung zu realisieren ist nun jedes Menschen wahres Lebensziel, welcher überhaupt ein von innen her bestimmtes Leben führt. Worin einer seine Lebensaufgabe sieht, ist demgegenüber gleichgültig; Anlagen, Begegnungen und Zufälle bedeuten letztlich nur Gelegenheiten. Nicolaus Cusanus begriff den Menschen tief, da er ihn einen deus occasionatus hieß: er ist Schöpfer wie Gott, in seiner Ausdrucksmöglichkeit jedoch bedingt und begrenzt durch die sich ihm bietenden Gelegenheiten.

Es ist eine der verderblichsten, weil die innere Wahrhaftigkeit und das Ausleben des ursprünglich Echten, das doch allein Werteträger sein kann, am meisten hindernden Auswirkungen dessen, dass der Mensch seine normale Lebensbasis im Zwischenreiche hat (vgl. die genaue Bestimmung desselben in meinem Buch vom Ursprung), dass nur ganz selten einer unter vielen Millionen den Mut aufbringt, aus seinem Ursprung heraus zu leben und sich damit unbefangen zu seinem letztpersönlichen Mythos zu bekennen. Hier liegt die tiefste Ursache der Vorherrschaft der Lebenslüge, die wenigstens im Fall der heutigen Menschheit auf schlechthin allen Ebenen den Primat hat gegenüber der Wahrhaftigkeit. Ich nun konnte, wie kritische Rückbesinnung auf seinerzeit unverstandenermaßen Getanes oder auf-mich-Genommenes unzweideutig erweist, schon als Schüler nur im Rahmen des mir einzig gemäßen persönlichen Mythos, von diesem her und auf diesen hin leben und erleben; alle meine vielen Um- und Irrwege beruhten darauf, dass ich dessen Sinn spät erst vollkommen deutlich erfasste und mich darum selber missverstand. Nie, seitdem ich geistig einigermaßen erwachte, haben mir Tatsachen letzte Instanzen bedeutet, nie Konventionen, nie allgemein anerkannte Glaubensartikel und Begriffe. Obgleich ich mir erst mit zweiundsechzig Jahren über das (vom Standpunkt der eigensten Bestimmung des Menschen) sehr Vorläufige, was das Zwischenreich ist und bedeutet, vollkommen klar ward, habe ich es doch niemals ernst genommen, wobei mir meine angeborene enfant-terrible-Freude am Ärgerniserregen besonders damals sehr zustatten kam, als mir der eigentliche Sinn meiner Bekämpfung des Zwischenreichs als solchen noch völlig unbewusst war. Sehr spät erst erkannte ich vollkommen deutlich, dass die wichtigste Aufgabe der Menschheit überhaupt in dieser Wende darin liegt, aus dem Zwischenreich zum Ursprung zurückzufinden, zum Ursprung sowohl der Natur wie dem Geiste zu, und unmittelbar aus ihm heraus zu leben. Hier liegt auch die geistige Rechtfertigung des Zerstörerischen dieser Zeit. Doch wie dem immer sei: ich habe von jeher völlig unbefangen nur das eine Ziel verfolgt, dasjenige, was mich von innen her bestimmte und trieb, in der Welt zu verwirklichen, ohne jede Rücksicht auf Meinungen und sonstige Äußerlichkeiten, die eigenen inbegriffen. Was sich in meinem Leben empirisch als Lust am Abenteuer, am Herausfordern, als Planung, Selbstvergewaltigung, rücksichtsloses-mich-Durchsetzen, mich-gehen-Lassen, auf-mich-Nehmen und bis-zur-Neige-Auskosten — äußerlich geurteilt — vermeidbaren oder verwandelbaren Geschicks oder Missgeschickes darstellte, bedeutete wesentlich dies. Zum ersten Male dämmerte mir diese Wahrheit, als ich den eingangs angeführten Ausspruch Augustins las. Seither strebte ich primär, was immer ich im besonderen betrieb, nach Selbstverwirklichung. Solche aber ist möglich allein in Form und auf der Ebene des bewusst gelebten Mythos.

Insofern und darum legte ich es nie besonders darauf an, im modernen Jargon ausgedrückt, Spitzenleistungen zu vollbringen oder überhaupt Sonderliches besonders gut zu machen, das Ideal jedwedes Spezialisten, in erster Linie des Handwerkers. Zunächst wollte ich persönlich weiterkommen, meine sämtlichen Möglichkeiten verwirklichen, später anderen auf dem gleichen Wege helfen. Seitdem ich auf dem meinen einiges erreicht hatte, dachte ich auch immer wieder gelegentlich darüber nach, ob sich nicht eine Form fände, in welcher ich dieses mein in meinen Augen Wesentlichstes als solches objektivieren und damit allübertragbar machen könnte. Mir fiel keine ein. Da erinnerte ich mich, es war beinahe zehn Jahre später, plötzlich dessen, was mir mein alter Freund und Mitarbeiter Cuno von Hardenberg, dem vor allem ich es zu danken habe, dass mir Großherzog Ernst Ludwig von Hessen dazumal, als ich Besitz und Heimat verloren hatte und nicht aus noch ein wusste, in Darmstadt eine Heimat anbot, kurz vor meiner Nordamerikafahrt gesagt hatte:

Sie werden noch verschiedene Reisetagebücher durch den Raum schreiben. Aber einmal kommt Ihr Reisetagebuch durch die Zeit und darauf freue ich mich am meisten. Dort erst werden Sie Ihr eigentliches Wesen offenbaren, welches bisher nur die Ihnen Nächststehenden kennen.

Damals und lange Jahre nachher war mir jedes historische Interesse dermaßen fremd, dass ich auf die des öfteren an mich herantretende Aufforderung, Lebenserinnerungen zu schreiben, regelmäßig antwortete, das würde ich niemals tun; die Vergangenheit als solche interessiere mich nicht, überdies fehle mir jeder Sinn für das Einzelne und Besondere und darum auch die entsprechende Darstellungsgabe. Meine zwei kurzen Autobiographien — von denen die eine im Jahre 1922 für die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen geschrieben wurde und die andere, unter dem Titel Von der Produktivität des Unzulänglichen veröffentlichte, einen integrierenden Bestandteil von Menschen als Sinnbilder bildet — würden meine letzten autobiographischen Versuche bleiben. Nun sah ich plötzlich eine Möglichkeit, an die ich nie vorher gedacht hatte: im Zusammenhang kosmischen, historischen und persönlichen Werdens meinen eigenen Mythos als Reise durch die Zeit darzustellen und damit zugleich die Leitidee meines Lebens von der Produktivität des Unzulänglichen — der Ausdruck stammt natürlich von Goethe, nicht von mir — überzeugend zu konkretisieren. Der Christenglaube gestand dem Sünder gegenüber dem Gerechten die Vorzugsstellung zu: genau in diesem, nur in einem viel allgemeineren und umfassender verstandenen Sinne sah ich von jeher in der Unzulänglichkeit überhaupt kein Negatives, sondern die beste Gelegenheit und den mächtigsten Ansporn zum mehr-Werden. Darum bekämpfte ich meine offensichtlichen Fehler auch nie im üblichen Verstand; die ernsteste Gefahr für den aufstrebenden Menschen und für seine wohltätige Wirkung auf andere sah ich vielmehr von Jugend auf in seinem im-Recht-sein-Wollen und seinem idealisiert-Werden. Zumal letzterer in meinen Augen besonders wichtigen Wahrheiten konnte ich, so ahnte ich jetzt, am überzeugendsten im Rahmen einer spirituellen Autobiographie Ausdruck verleihen.

Doch über Methode, Formgebung und Stil blieb ich lange im Unklaren. Erinnerungen üblicher Art kamen aus den eingangs angeführten Gründen nicht in Frage. Als ich einunddreißig Jahre alt war, fiel mir die Form des späteren Reisetagebuches eines Philosophen, also des Reisetagebuches durch den Raum, ohne dass ich mich je mit ähnlicher Arbeit befasst hätte, ganz plötzlich als die Form ein, welche mir erste Selbstverwirklichung ermöglichen würde. Für mein Reisetagebuch durch die Zeit nun gab es zwar nicht Vorarbeiten, wohl aber Präzedenzfälle aus meiner eigenen Geschichte: erstens das Buch Menschen als Sinnbilder, zweitens und vor allem die Bücherschau, welche ich seit 1920 ein bis zwei Male jährlich für den Weg zur Vollendung geschrieben habe und weiter schreibe, und in dem ich weniger über Bücher berichte als an der Hand von Büchern mein eigenes geistig-seelisches Erleben und Reifen schildere. Immerhin handelt es sich bei beiden Präzedenzfällen um nur entfernte Annäherungen an das nunmehr zu Leistende. Die rechte Form war noch im Mai 1936 unerfunden. Da kam mir an einem schönen Junimorgen der folgende Plan: mich selbst in Polarisierung mit den Zeitgenossen darzustellen, welche mir, solange sie noch lebten, etwas bedeutet hatten, und dies zwar unabhängig davon, ob ich sie persönlich gekannt hatte und wie gut. Das Buch sollte nun Zeitgenossen heißen, und im Zeichen dieses Titels fing ich zu schreiben an.

Wie ich mir dieses erst-konzipierte Buch vorstellte, geht aus den Teilen der ersten, seither verworfenen Einführung hervor, die ich den besonderen Betrachtungen des letzten, Mütter betitelten Kapitels dieses ersten Bandes vorgedruckt habe. Aber den 1936 gefassten Plan konnte ich nicht ausführen. Wohl schrieb ich ein Kapitel nach dem andern nieder, aber keines wurde das, was ich eigentlich meinte. 1941 setzte ich mit der Arbeit daran ganz aus, um erst die Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit, alsdann, 1942, das Buch vom Ursprung zu schreiben. Nach Vollendung des letzteren Buches, des Integrals all’ meines vorhergehenden differenzierten Schaffens, war ich nicht mehr der gleiche wie vorher; fortan hatte ich neue Möglichkeiten und Verpflichtungen. Was einmal als Erinnerungsbuch geplant war, musste nunmehr zur Einführung und zum Kommentar zugleich des Ursprungs und damit eines einerseits Zeitlosen, andererseits unmittelbar Zukunftweisenden gedeihen. Lange konnte ich das 1936 Begonnene, zu einem erheblichen Teil zwischen 1938 und 1940 vorläufig Vollendete überhaupt nicht wieder vornehmen; jede Rückschau widerstrebte mir. Da ergab sich mir in der Bergesabgeschiedenheit von Aurach bei Kitzbühel, woselbst ich mitten im Kriegslärm eines der stillsten Jahre meines Lebens verbringen durfte, im Oktober 1943 die innere Möglichkeit, den alten Plan in abgeänderter Form neu aufzunehmen, wobei alle früher geschriebenen Kapitel zu einem großen Teil neu verfasst wurden. Im Lauf des darauf folgenden Jahres vollendete ich unter dem endgültigen Titel Reise durch die Zeit zweieinhalb Bände des vorliegenden Werks.

Es ist nun aber ein ganz Anderes, sehr viel Umfassenderes und tiefer Schürfendes geworden, als was ich 1936 geplant hatte. Wie das Reisetagebuch eines Philosophen herauskam, ereiferte sich ein alter Freund darüber, dass dieses Buch eine recht eigentlich unmoralische Kreuzung von Religion, Philosophie, Geographie, Völkerkunde, Weltmanntum und privater Indiskretion sei: ich fürchte, jener seither Verstorbene würde die Reise durch die Zeit noch sehr viel unmoralischer finden. Denn hier erscheint in jedem einzelnen Kapitel, um einen jeweils verschiedenen persönlichen Mittelpunkt oder um ein jeweils verschiedenes Problem gruppiert, im Rahmen persönlicher Lebenserinnerung und auf das Ziel der Verdeutlichung der Möglichkeit eines Lebens auf allen Ebenen rein aus dem Geist und auf diesen hin ausgerichtet, Bekenntnis und Beichte im Sinne Augustins, aber auch Rousseaus, Intimstes und Kosmisches, Privatestes und universell Bedeutsames, Historisches und Künftiges, Zeitbedingtes und Ewiges, Abstraktes und Konkretes zusammengeschaut, das Ganze farbig durchsetzt mit Schilderungen einmaliger Zustände und Zuständlichkeiten — Schilderungen, die mir deren endgültiges Zerstörtwerden im Lauf des zweiten Weltkriegs nahelegte. Die Komplexität des Ganzen wird dadurch noch erhöht, dass der besondere Gesichtspunkt jeden Kapitels aus perspektivischen Gründen Widersprüche mit in anderen Gesagtem ergibt, die ich gar nicht aufzulösen versucht habe, und dass nicht nur die verschiedenen Kapitel, sondern in manchen Fällen auch die verschiedenen Teile derselben zu verschiedenen Zeiten und folglich in verschiedenen Zuständen entstanden, welche Unterschiedlichkeiten ich um der erlebnismäßigen Echtheit willen meist habe bestehen lassen. Im übrigen steht und besteht jedes Kapitel für sich. Um so mehr kann jeder einzelne Band für sich gelesen werden, von denen jeder auch einen besonderen, gerade dem Sinne seines besonderen Inhalts gemäßen Titel führt und führen soll. Der Titel des ersten Bandes lautet Ursprünge und Entfaltungen, derjenige des zweiten Abenteuer der Seele, der dritte soll Wandel der Reiche heißen. Es gibt kein Problem, dessen Behandlung die Grundkonzeption dieses Buches ausschlösse — darum können die bisher geschriebenen Bände, lebe ich lange genug, durch viele andere fortgesetzt werden. An dieser Stelle zitiere ich am besten eine Satzfolge, welche die Einführung in die ursprünglich geplanten Zeitgenossen enthält:

Im Herbst 1936 schritt ich, zuerst nur vorsichtig tastend, zur Ausführung meines neuen Plans. Anfangs ging es nur sehr mühsam vorwärts, so sehr widerstrebte mir alles Rückbeschwören von Vergangenem. Bald jedoch sah ich, dass gerade der Zwang, den ich mir auferlegen musste, heilsam wirkte: mir wurden Aus- und Einblicke allgemeiner Art zuteil, die sich mir sonst kaum eröffnet hätten. Und auf die Dauer schuf der Zwang eine neue Art Gelöstheit: insofern ich durch keinen der früher gewohnten Rahmen eingestellt, gerichtet und beengt wurde, konnte ich, ohne dass dies die Form sprengte, vieles zusammenbringen, was sich sonst ausgeschlossen hätte, und vor allem vieles aussprechen, was ich früher immer verschwiegen habe. Ich konnte Persönliches und Allgemeingültiges, Privat- und Völkerpsychologisches, Weitestes und Engstes in ihrer lebendigen Beziehung zueinander so darstellen, wie ich sie für mich immer erlebt und zusammengeschaut habe. Ich konnte jedes Problem allemal genau dann behandeln, wann es mich gerade intensiv beschäftigte, und in dem Zusammenhang, der die Herausarbeitung des für mich Bedeutsamsten am besten gewährleistete. Alles in allem: der erwählte Stil gestattete mir gerade die Form fortlaufender Improvisation, welche die mir natürlichste Art des Ausdrucks ist, und jenes Hinüberspringen von Problem zu Problem, welches dem sachlichen Geist ein Greuel ist und sein muss, allein jedoch dem realen Prozesse geistbestimmten Seelenlebens entspricht. Denn nur von konkreten Zuständen in ihrer Vielschichtigkeit her und auf vitale Bedürfnisse hin stellen sich Probleme. Lägen die Dinge anders, jeder Versuch einer Kulturgeschichte, welche im großen und ganzen eine Zusammenfassung von sachlich und logisch nicht notwendig Zusammengehörigem bedeutet, wäre von vornherein sinnlos.

Eine solche Zusammenfassung bedeutet denn letztlich die vorliegende spirituelle Autobiographie. In jedem Kapitel wirken andere Aspekte meines Erlebens und meiner Schau als Dominanten, weshalb allein schon so mancher Teilinhalt anderen Teilinhalten widersprechen muss. Eben so ist das wirkliche Leben. In jeder anderen Einstellung oder Situation stellt jeder Mensch sich nicht nur in seiner Vorstellung oder derjenigen anderer, sondern realiter anders dar, und auf diesem anders-Sein und -Werden beruht alle geschichtliche Bewegung. Mein Grundziel aber war von vornherein und blieb durchaus die Aufzeigung meines Weges der Selbstverwirklichung; in aller Offenheit und unter besonderer Berücksichtigung meiner Unzulänglichkeiten, Schwächen und Fehlleistungen, welche Behandlung eigenen Versagens allererst meine Kritik anderer Menschen und Zustände ins rechte Licht rückt. Hieraus folgt denn, dass der Grundakzent bei allen Betrachtungen dieses vielfältigen und vielschichtigen Buches auf dem Persönlichen und Intimen ruht — auch dort, wo ich rein abstrakte Erwägungen anstelle, denn das Entscheidende in diesem Zusammenhang ist, dass ich sie anstelle. Und dieses letztlich aus einem Grund, der bei meiner Arbeit der für mich entscheidende war und den ich absichtlich erst gegen Ende dieser Einführung offenbare: dass ich mir über mich selbst und meine Gesamteinstellung im Kosmos ganz klar werden und durch eine Generalbeichte meine Vergangenheit für mich erledigen wollte. Von jeher habe ich nicht geschrieben, weil ich wusste, sondern um zu wissen. Eine Beichte gar wirkt dann allein erlösend, wenn sie nicht allein vor Gott und einem selbst, sondern öffentlich vor den Menschen erfolgt. Mit diesem Buche ziehe ich recht eigentlich, wie eine geistreiche Freundin, die an seiner Entstehung von Kapitel zu Kapitel teilnahm, sich einmal ausdrückte, die ganze Welt ins Vertrauen (you take the whole world into your confidence). Da nun Vertrauen seinerseits Vertrauen schafft, so hoffe ich, dass der Mythos meines erlebten Lebens von so manchem als stellvertretende Selbstoffenbarung empfunden werden wird.

Mit dem Gesagten könnte ich diese Einführung beenden. Aber es ist wohl gut, wenn ich zum Schluss noch einmal ausdrücklich und eindringlich darauf hinweise, dass ich zeitlebens und darum erst recht in diesem Buch in der Zerstörung zwischenreichlicher Vorurteile eine Aufgabe gesehen habe und darum dort, wo ich gegen Konvention verstoße, dies vollbewusst und freudig tue. Ich sehe nichts als Verlogenheit, Feigheit und Rücksicht auf Neid, der einem schaden könnte, in der christlichen Verdammung der Selbstbespiegelung und des sich-selber-ernst-Nehmens. Wie jauchzte ich auf, als ich kürzlich von der antiken Auffassung las, gemäß welcher jeder verdiente Mann sich selber preisen dürfe, wogegen es eine Unverschämtheit sei, wenn ein anderer und geringerer es täte! Nicht anders erblicke ich im: de mortuis nil nisi bene nichts als den Überrest primitiven Aberglaubens, dessen längst unbewusst gewordener Urgrund Gespensterfurcht ist. Lebende anzugreifen kann direkt gemein sein und ist es beinahe immer, wo schädigende Absicht vorliegt. Tote können gar nicht mehr geschädigt werden; ihnen gegenüber ist einzig Wahrhaftigkeit am Platz, denn nur die Wahrheit über die Toten kann Lebendige fördern. Endlich halte ich alles Intime und Psychologische für ungleich wichtiger als alles dem öffentlichen Leben Zugehörige, Objektive und Sachliche. Letztlich sind alle großen Geschehnisse doch die Folgen seelischer Zustände; noch kein großer Krieg brach im Reich des Sichtbaren aus, der nicht schon lange in den verschwiegenen Tiefen der Einzelseelen getobt hätte. Überdies ist es einfach nicht wahr, dass das Subjektive weniger interessierte als das Objektive. Wer würde wohl Romane lesen, wenn die landläufige Behauptung wahrspräche? Dass nur bei erdichteten Gestalten und Schicksalen aller Nachdruck auf das Persönliche gelegt werden darf — darin sehe ich eins der dümmsten und häßlichsten und vor allem Fortschritts-feindlichsten unter den geltenden Vorurteilen. Gerade das wirklich Gelebte und Erlebte sollte, wo Einsichts- und Ausdrucksfähigkeit vorliegen, männiglich zugänglich gemacht werden. Aus einem echten und aufrichtigen Selbstbekenntnis ist mehr zu lernen als aus Tausenden von theoretischen Erwägungen und aus Zehntausenden, nicht einmal schlechter, sondern guter Dichtungen. Es ist ein gar nicht zu überschätzendes Unglück, dass so wenige je unbefangen über sich selbst geschrieben haben; jede nichtveröffentlichte Konfession eines Menschen von Rang bedeutet meiner Überzeugung nach einen Raub an geistig-seelischem Menschheitsgut. Wenn irgendwo das Gemeinschaftsgefühl über persönlich-privaten Erwägungen den Primat haben sollte, dann ist es hier. Die meisten je veröffentlichten Selbstdarstellungen sind, vom Wesentlichen her beurteilt, belanglos. Wo deren Verfasser nicht von außen her beschrieben, was nie lebendig und lebensfördernd wirkt, dort versteckten sie ihr wahres Selbst hinter anderen Gestalten und sachlichen Erwägungen und trugen an erster Stelle den Vorurteilen ihrer Zeitgenossen Rechnung. Ein Beispiel für viele. Der psychologisch wahrscheinlich interessanteste meiner Zeitgenossen war Rudolf Steiner. Wie ich von der Existenz einer Autobiographie von ihm erfuhr, da stürzte ich mich darauf in der Erwartung seltener Bereicherung. Doch was enthielt sie? Nichts von seiner höchst merkwürdigen, auf den ersten Blick unwahrscheinlich wirkenden Entwicklung, nichts vom Wege, auf dem er zu seinen Erlebnissen und Auffassungen kam, von seinen Seelenkämpfen und schicksalsmäßigen Konflikten mit seiner Zeit, nichts zumal von den offenbar besonders dunklen Untergründen seiner Natur. Das Buch enthält eigentlich nur Äußerlichkeiten, die ein unbegabter Doktorand kaum weniger richtig fest- und darstellen könnte. Dass ein Mann wie Rudolf Steiner so über sich geschrieben hat — darin sehe ich sündhafteste Gewissenlosigkeit.

Ich habe mein möglichstes getan, um die gleiche Sünde meinerseits nicht zu begehen. Trotzdem habe auch ich nicht annähernd das geleistet, was ich anstrebte. Ich bin es zu sehr gewohnt, abstrakte Überlegungen anzustellen, um so plastisch und farbig zu schildern, wie hier notwendig gewesen wäre. Dann kennt keiner sich selber wirklich, weil er sein Wirklichstes, die unmittelbare Ausstrahlung seines Wesens, direkt nicht wahrnehmen kann. Ferner ist auch der seiner Absicht nach Aufrichtigste von seinem Unbewussten her im Ausdruck seiner letzten Wahrhaftigkeit gehemmt. Darum ist kein Mythos jemals richtig, sondern nur wahr, so dass derjenige, dem es in erster Linie auf Richtigkeit ankommt, auf der Ebene der Tatsachen leicht Irrtümer feststellen kann. — Doch nun genug des Einführenden. Zum Schluss möchte ich meine Leser bitten, obschon jeder Band und jedes Kapitel für sich gelesen werden kann, dieses Werk trotzdem, wenigstens das erste Mal, in der von mir eingehaltenen Reihenfolge durchzulesen: so allein werden sie durch alle Vielfachheit hindurch von vornherein der einheitlichen Leitlinie inne werden.

Aurach, den 28. 8. 1944 Hermann Keyserling
1 Der Mensch ist der Novellist seines Schicksals als Original oder als Plagiat.
Hermann Keyserling
Reise durch die Zeit · 1948
I. Ursprünge und Entfaltungen
© 1998- Schule des Rades
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