Schule des Rades

Hermann Keyserling

Reise durch die Zeit

I. Ursprünge und Entfaltungen

VII. Kosmopathische Seelen - Ganzheitserlebnis

Nun kann die psychologische Bedeutung der Umstellung, die mit der Konzeption des Reisetagebuchs in mir erfolgte, noch deutlicher bestimmt werden. Ich hatte mit ihr, wie gesagt, einen inneren Standort gefunden, von dem her ich unter Anerkennung meiner gesamten Natur, so wie sie war, und unter Ausnutzung aller ihrer Möglichkeiten einem mir wirklich gemäßen Ziele zustreben konnte. Das Zentrum nun, auf das ich zu dem Ende alle meine Lebensäußerungen bezog, war eben die Funktion der Intuition, die schon in meiner Kindheit meine Hauptfunktion gewesen war. Aber seither hatte ich sie bei meinem Schaffen vernachlässigt, gelegentlich gar bekämpft. Gleiches hatte vom Überwiegen der Einbildungskraft bei mir gegolten. Indem ich mich zu dem zu gestalten versuchte, als der ich vor dem Reisetagebuch erschien, hatte ich alle meine Natur recht eigentlich vergewaltigt. Daher die Unmöglichkeit, auf den bisher beschrittenen Bahnen zu bedeutender Leistung zu gelangen. Die Labilität meines Gesamt­organismus, die physiologische Basis meiner positivsten Eigenschaften, hatte ich bei meinem Schaffen nicht als Aktivum in Rechnung gestellt. Eben dies tat ich fortan, und damit legte ich den Akzent in mir auf das, wofür ich mit dem Titel dieses Kapitels das Wort Kosmopathie geprägt habe. Der als Ganzes eindeutige Sinn dieses Begriffs hat die folgenden Hauptkomponenten: die Anlage, als organische Ganzheit auf Ganzheiten zu reagieren, auf Ganzheiten vor deren Teilen, und dies zwar vor aller Differenzierung des Menschenwesens in Geist, Körper, Seele und was sonst. Kosmopathie bedeutet im Grenzfall direkte Bedingtheit durch das Weltall, auf allen nur möglichen Ebenen. Dieses Pathos hat natürlich seine ethische Korrespondenz. Doch im Zusammenhang dieses Kapitels soll nur der Pathos-Aspekt behandelt werden.

Mit dem Reisetagebuch (dieses Wort als Zustand verstanden) stellte ich mich als zusammenhängende Ganzheit auf die zusammenhängende Ganzheit dessen ein, was auf mich einwirkte. Daher die selbstverständliche Zusammenschau von Landschaften, Völkerschaften, Philosophien, Religionen, von Gegenwart und Zukunft, welche dieses Werk kennzeichnet. Beim Reisetagebuchzustand bin ich freilich nicht stehengeblieben. Damals bezog ich alles das noch gar nicht in mich hinein, was nicht vom rationalen Verstehen her zu realisieren ist; der Erde als konstitutiven Bestandteils meiner selbst wurde ich erst mit den Südamerikanischen Meditationen bewusst. Wohl aber stellt die Verwandlung durch das Reisetagebuch den ersten geglückten Versuch einer Psychosynthese meiner dar und aus dieser ersten sind alle späteren und höheren Formen organisch hervorgewachsen. Seither bin ich, welche Sonderziele ich immer verfolgte, was praktisch natürlich Einseitigkeit bedingte, bewusst vom Ganzheitserleben ausgegangen. Und dieses hat im Lauf der Jahre und Jahrzehnte immer mehr einer Kosmopathie im wörtlichen Verstande zugeführt. Am frühesten, als Kind schon, äußerte sich diese bei mir in der Dimension der Zeit; den ganzen Menschen als Melodie-Einheit erlebend, konnte ich den Unterschied von Kindern und Greisen nur durch Abstraktion oder durch Abblendung dessen, was mich am nächsten berührte, wahrnehmen. So konnte ich schon 1906, im Kapitel Dauer und Ewigkeit der Unsterblichkeit, die Gleichberechtigung sämtlicher Takte und Sätze jeder Lebensmelodie an ihrem Orte begrifflich fassen und ab dann auch praktisch in diesem Sinne leben und erleben. Nie später habe ich am Wahn des Fortschritts gehaftet, will sagen dem Wahn, dass jeder spätere Zustand in allen Hinsichten früheren überlegen sein sollte. Von Etappe zu Etappe erwachten in mir dann immer neue Äußerungsformen der Kosmopathie. Wie ich in Indien zum erstenmal den Begriff einer cosmic consciousness genannt hörte, als welche die metaphysische Wirklichkeit mit einschließt, leuchtete dieser mir als richtige Bezeichnung einer auch in mir lebenden Möglichkeit augenblicklich ein. Die integrale Offenbarung, wie ich das sachliche Korrelat zur Kosmopathie gewöhnlich heiße, ist mir freilich zur Zeit, da ich dies schreibe, 1940, noch nicht geworden. Doch, pour fixer les idées, musste ich auch dieses höchste Ziel kosmopathischer Einstellung schon an dieser Stelle nennen.

Dem formalen Gehalt des Begriffes nach ist nun Kosmopathie nichts Außerordentliches, sondern eine Selbstverständlichkeit. Kosmopathisch ist im Rahmen seiner Merkwelt jedes Tier; gleiches gilt vom Menschenkinde; bei beiden behindert kein verstandgeborenes Vorurteil das Einströmen sämtlicher kosmischer und das Ausströmen sämtlicher eigener Energien. Doch die Merkwelt beider ist, soweit eine bewusste Psyche in Frage kommt, sehr eng. Und nur auf subjektives Affiziertsein kommt es beim spezifisch menschlichen Erleben an. Objektiv wirkt natürlich der ganze Kosmos, in der Dimension des konkreten Raums sowohl als der konkreten Zeit, genau wie es die Astrologie meint, auf jeden Teil des Organismus ein. Dies beweist allein schon die Möglichkeit der Medikation: Mineralien, organische Produkte, klimatische, atmosphärische, seelische, geistige Einflüsse — sie alle können, je nach den Umständen, je nach Ort und Zeitpunkt, heilen und verderben, was unvorstellbar wäre ohne Affizierbarkeit des Gesamt­organismus durch alles, was im Weltall vorgeht. Da der Mensch nun als psychisches Wesen die Endgestalt der ihm entsprechenden Form und Ordnung nicht, wie das Tier von der Natur geschenkt bekommt, sondern jene aus dem Zusammenhang erstrebter Ziele mit bitteren Folgen des Irrens zum größten Teile selbst entdecken oder erfinden muss — sichere Instinkte besitzt er kaum — so ergibt sich daraus, dass jeder erwachsene Mensch, welcher Kulturstufe immer, im Rahmen dessen erlebt, was man am wenigsten irreführend mit dem Allgemeinbegriffe Vorurteil bezeichnet; die Bezeichnung ist auch dann richtig, wenn das jeweilige Vorurteil einmal wirklichkeitsgerecht ist. Es bedeutet nun einen großen Irrtum, anzunehmen, den Naturmenschen beengten weniger solche Vorurteile als den Zivilisierten: jener hat deren noch sehr viel mehr, und diese sind oft gleich starr wie die den Vorurteilen der Menschen auf ihrer Stufe entsprechenden Instinkte der Insekten. Unter allen Umständen grenzen sie einen sehr viel engeren Erlebnisraum ab, als derjenige ihn hat, welcher nicht auf seine persönliche Erfahrung und die eines beschränkten Kreises angewiesen ist, sondern sich am allgemeinen Wissensschatz der Menschheit orientieren kann. Auch die für ihn bestehende Möglichkeit, seinen Erfahrungsbereich durch Maschinen auszuweiten, wirkt im gleichen Sinn: nichts ist nämlich törichter als die Mechanisierung als solche zu verwerfen: die Erzeugnisse der Technik gehören als zoologisches Differentialkennzeichen zum Menschen, wie das Netz zur Spinne. Andererseits aber ist wahr, dass der Wilde und der Naturnahe überhaupt, sei er Wasser-, Berg-, Wüsten- und Steppen-, Land- oder Waldmensch, Natureinflüsse unmittelbar wahrnimmt, die das Bewusstsein der Zivilisierten nicht berühren, und dass er häufig Sinne oder sonst Anlagen besitzt, welche jenen abhanden gekommen sind. Ebenso wahr ist, dass die Psyche des Menschen in steter Metamorphose begriffen ist, weswegen es falsch ist, zu behaupten, der sich gleichbleibende allgemeine Mensch habe von Jahrhundert zu Jahrhundert verschiedene Ansichten: er verändert sich real von Zustand zu Zustand, jede neue Ansicht ändert etwas an der organischen Gesamtwirklichkeit. Aus dem zitierten Fragment meines Erstlingswerkes geht nun hervor, dass ich schon damals, 1905, das Ideal in der Einschmelzung sämtlicher den Erlebnisraum einengender Vorurteile sah. Die Maschinen können und sollen so weit als möglich vervollkommnet werden, wohl aber sollen die innere Starrheit und Festgelegtheit aufhören, welche unmittelbares Erleben sämtlicher Einflüsse, welche der Mensch grundsätzlich erleben könnte, hindert. Und wenig später wurde mir klar, dass die Begriffe Organe der verstehenwollenden Psyche sind, genau wie die Sinne Vermittler sinnlicher Erfahrung sind, und dass im Menschen darum neue Begriffe zu erwachsen hätten im Verstande dessen, wie das Auge einmal am Licht erwuchs, wenn neue Erfahrung sinngerecht assimiliert werden soll. Mir wurde schon damals bewusst, dass die Gepflogenheit der Wissenschaft, möglichst alles und jedes Unbekannte auf bekannte Begriffe zurückzuführen, direkt Erkenntnis-feindlich ist. Aber gelebt hatte ich dieser relativ späten Einsicht gemäß von meiner Kindheit an, nur eben in jenen Jugendjahren, wo bei jedem intellektuell Begabten ein Überschätzen des Verstandes und seiner Gesetze das Normale ist, durch Vorurteile behindert. Meine ursprüngliche Neigung ging dahin, mich vollkommen geöffnet aller Erfahrung zu stellen und hinzugeben, mit meinem gesamten psychischen Organismus zu experimentieren, alles Nicht-Ich zur Erweiterung meines Ich in dieses aufzunehmen und eben darum niemals zu diskutieren, nie einen beschränkten Standpunkt zu vertreten, nie bei irgendeiner bloßen Meinung oder Ansicht stehenzubleiben. Nur echte Einsichten darf ein nach Erkenntnis Strebender überhaupt vertreten, Erkenntnis und Bekenntnis müssen bei ihm zusammenfallen; und irrt er sich, so entlastet ihn nur die Einstellung dessen, welcher jederzeit zur Aufgabe eines festgestellten Irrtums bereit ist. Jedes sogenannte charaktervolle Beharren auf einmal eingenommener Position empfand ich von früh an als innere Entscheidung für die Lüge, mithin als verwerflich; darüber hinaus aber als Erweis von Unlebendigkeit; denn das Lebendige behauptet seine Identität inmitten des Wechsels der äußeren Bedingungen der Verwandlung. Überdies erlebte ich schon als Kind mittels der Sinne und Psyche nicht meiner selbst allein, sondern aller Wesen, mit denen ich en rapport war. Und meine Einfühlungsgabe war in Kindertagen größer noch als später. Als Kinder nun erleben wohl die allermeisten so, wie ich es tat, oder wenigstens ähnlich; sonst wirkten unbewusst erhaltene Kindheitseindrücke nicht beinahe ebenso nachhaltig, am späteren Phaenotypus mitbildend, nach, wie die physische Vererbung wirkt; sonst merkten und verstünden nicht völlig unbegabte Kinder nicht sehr viel genauer und besser, was um sie da ist und vorgeht, als alle nicht hochbegabten Erwachsenen: sonst harmonisierten sie sich nicht selbstverständlich mit der ihnen entsprechenden Umwelt, das heißt mit primitiven und naturnahen Menschen und mit Tieren. Umgekehrt gibt es kaum nicht kinderliebe Primitive und sogar selten Tiere, die einer persönlichen und positiven Beziehung zu Menschen überhaupt fähig sind, welche Kindern nicht mehr verstehende Rücksicht entgegenbringen als Erwachsenen. Doch die allermeisten Menschen erstarren erschreckend früh, sehr oft schon in den zwanziger Jahren, in der Zwangsjacke irgendeines Korsetts von Vorurteilen. Bei Philosophen sind dies die von ihnen selbst erfundenen Systeme. Ich nun ahnte bereits in meiner frühesten Jugend, dass nur das absolut Wahre, sofern es derartiges gibt, dem Erkennen-Wollenden ein Endgültiges bedeuten darf. Mit der Herausstellung des zitierten Epilogs zu meinem Erstlingswerk gewann ich denn Klarheit darüber, dass die ersehnte letztgültige Erkenntnis zu ihrer Erlangung eine besondere Physiologie voraussetzt, und seither pflegte ich meine Impressionabilität und Verwandelbarkeit, meine Emotivität und Leidensfähigkeit, meine Abneigung gegen Festigkeit und das Endgültige überhaupt, anstatt sie zu bekämpfen.

Alles dies zu dem einen Ziel, dem eigentlichen Ziel des echten Philosophen, so wie ich diesen vorstellte, mein beschränktes Individualbewusstsein zu einem unmittelbaren Bewusstsein des Kosmos auszuweiten. Damals wurde auch meine angeborene Abneigung gegen sture Männerwelt zur lebensgestaltenden Überzeugung. Es ist nicht so unrichtig, was der französische Biolog René Quinton, zu dessen ersten Lesern ich in Paris gehört hatte (ich meine sein großes Werk L’eau de mer, milieu organique, in dem der Verfasser nachzuweisen versuchte, dass das Leben, im tropischen Meerwasser entstanden, durch alle Entwicklung hindurch sein Urmilieu in der chemischen Zusammensetzung von Blut und Lymphe zu erhalten strebt), in seinem an sich schauerlichen Kriegsbuch behauptet, die Männer seien nur dazu da, zu töten und zu sterben: der sture Mann, dem der Charakter im Sinn der Beschränkung Ideal ist, der nur für beschränkte Ziele zu kämpfen fähig und des inneren Fortschritts unfähig ist, weil er nur greifen, nicht ergriffen werden kann, ist wirklich wesentlich Kanonenfutter. Das meint ohne Zweifel die Natur, die alles auf schnelles Sterben der Männchen und Erhaltung der Weibchen angelegt hat. Wer nun auf Allverstehen und dauerndes Wachstum und innere Ausweitung aus ist, dem müssen sture Männer widerwärtig sein. Jeder Schöpferische, zumal jeder Künstler, hat denn auch übernormal starke weibliche Komponenten, und gleiches gilt von jeder begabten Rasse: nicht nur der indische, chinesische, hellenische, besonders auch der deutsche Mann (siehe Spektrum) ist weiblicher geartet als es der Brite, Afghane, Beduine usw. ist. So habe ich, seitdem mir dieser Zusammenhang klar ward, möglichst wenig in unmitigierter Herrengesellschaft verkehrt.

Doch dies nur nebenbei. Ich wollte also soweit als irgend möglich unmittelbar Kosmos-bewusst werden. Dieses Ziel verfolgten in theoretischer Herausstellung bereits die völlig verfehlten philosophischen Versuche, die ich in meinem ersten Pariser Jahr zu Papier brachte. Im Gefüge der Welt trachtete ich schon sehr bewusst danach, einen jenseits des Kantschen Subjekts belegenen und damit eben kosmischen Standpunkt zu fundieren. Der erste Titel der späteren Prolegomena, der meines Hamburger Vortragszyklus von 1907, lautete Die Welt vom Standpunkt der Natur. Damals und später noch umfasste mir der Natur-Begriff den ganzen manifesten Kosmos. Je mehr ich heranreifte, desto mehr erlebte ich auch kosmisch-weite Zusammenhänge bewusst als Ganzheit und berührten mich, umgekehrt, solche Ganzheiten direkter und näher als Einzelereignisse. Überdies nun aber eigneten mir von Kindestagen an, wenn auch in sehr rudimentärer Form, verschiedene Fähigkeiten, die der Zivilisierte normalerweise nicht besitzt, so dass ich von der Möglichkeit einer Erweiterung des Bewusstseins über das Normalmenschliche hinaus aus frühester persönlicher Erfahrung wusste. Hiermit meine ich nicht allein das, was Intuition im weitesten Verstand vermittelt, als welche immer in hohem Grade telepathisch ist, sondern auch Sonderfähigkeiten im Sinne tierartiger Vorfühligkeit, unmittelbaren Schicksalsbewusstseins sowohl im Sinn des organischen Fatums als desjenigen geistig-seelischer Bestimmung und der konkreten Möglichkeiten ihrer Erfüllung, eines von Fachkenntnissen unabhängigen Wissens um Krankheit und deren im gegebenen Falle besten Heilungsmethode, und eines gewissen mit den Jahren wachsenden prophetischen Vermögens auf der Ebene historischer Zusammenhänge. Hiervon hoffe ich, in späteren Kapiteln mehr und weniger Vorläufiges berichten zu können. Wie ich nun 1911, mit dem Antritt der Weltreise, die meinem damaligen Ziel wie meinen damaligen Fähigkeiten entsprechendste Einstellung fand, da stellte ich mich eben damit darauf ein, nicht mehr als Denker, sondern von meiner Ganzheit her zu erleben, nicht allein mit dem Kopf, sondern auch mit Haut und Haaren, mit Herz und Eingeweiden zu philosophieren. Und meine Hoffnung war, auf Grund dieser Einstellung und mittels bewusster Kultur der Fähigkeiten, welche dank ihr erwachten oder ins Bewusstsein hineinbezogen wurden, auf die Dauer fähig zu werden, die Welt als unteilbares Ganzes im Verstehen lebendig wiederzugebären — nicht bloß im Rahmen eines einheitlichen Gedankensystems zusammenzufassen. Damit wandte ich mich bewusst und überzeugt von aller systematischen Philosophie für immer ab.

Dies ist der Punkt, von dem aus vollständig zu verstehen ist, warum mir Chamberlain bei unserer ersten Begegnung so unermeßlich viel bedeuten konnte. Er zuerst brachte mich darauf, das Persönliche über das Sachliche, den Menschen über die Sache, die Begabung über die Leistung zu stellen. Er wollte ein allem Bedeutenden geöffneter Dilettant (in dem hohen Sinn, welchen das Wort ursprünglich in Italien hatte) im Gegensatz zum beschränkten Fachmann sein. Auch Chamberlain strebte danach, alle echten Werte im Zusammenhang gelten zu lassen. Faktisch nun war Chamberlain viel weniger kosmopathisch weit, als ich 1901 wahrhaben wollte. Wirklich wurde er nur von Geschriebenem affiziert, er war wesentlich Bildungsmensch und im übrigen alles eher als vorurteilsfrei; man entsinne sich dessen, was ich über sein Katholisches schrieb. Doch in bezug auf den literarisch fixierbaren Kosmos war Chamberlain umfassenderer Erfahrung fähig als irgendeiner, der mir bis dahin begegnet war. Darum genügte die bloße Annäherung an mein Ziel, welches er darstellte, um mir das zu geben, was ich mit einundzwanzig Jahren brauchte: einen an einem Leitbilde orientierten Ausgangspunkt.

Trotz allen späteren Impuls-Gebertums, in dessen Rahmen ich jeweils sehr Bestimmtes ausgestrahlt habe, habe ich für mich von da an bis zum Tage, da ich dieses schreibe, unausgesetzt nach nichts anderem auch nur annähernd so ernst gestrebt, wie nach diesem Einen: in meiner Weltoffenheit, Befruchtungs- und Bildungsfähigkeit durch sämtliche kosmische Einflüsse zu wachsen. In meinen Leistungen habe ich selber nie anderes gesehen, als was ich im Schlusskapitel der Südamerikanische Meditationen Divina Commedia folgendermaßen umschrieb (S. 381 ff.)

Gleichwie das Auge nur nach außen blicken kann, so führt nur Projektion des Inneren nach außen zu dessen Realisierung, für sich sowohl als für die anderen. Durch Introspektion erfuhr noch keiner auch nur theoretisch, wer er ist, denn sie erweist bestenfalls den Zusammenhang der Gegenwart mit der Vergangenheit, nie jedoch den mit der Zukunft, auf die allein es bei dem einsinnig-vorwärtsstrebenden Charakter des Lebens praktisch ankommt. Realisierung der Zukunft ist nur möglich durch Darstellung dessen, was man von sich nicht weiß. Dieses wird eben durch die Darstellung wirklich. Auch hier heißt es: es werde Licht. Die Darstellung transponiert einen gegebenen Zustand aus dem Virtuellen ins Aktuelle, legt ihn damit fest in der Erscheinung, und dadurch erst wird sichtbar, was er ist. Daraus aber ergibt sich zugleich die Möglichkeit, über ihn hinauszugelangen. C. G. Jung hat gezeigt, dass ein typischer Weg psychologischer Entwicklung darin besteht, die Dinge von der Objektstufe auf die Subjektstufe zu erheben: der Mensch beginne damit, sein Innerliches außer sich zu erleben und im Fortschritt der Integration beziehe er es in sich zurück. Eben dank dem kann der Mensch weitergelangen als er war. Andererseits: so allein vermag er’s: nachdem er einen Zustand herausgestellt, wird dieser ihm zu neuem Ausgangspunkt. So muss der Mensch sich wieder und wieder darstellen, um voranzukommen. Der junge Schriftsteller muss schreiben, nicht bloß denken, um der zu werden, der er ist; er muss nicht allein schreiben, sondern drucken: denn nur über die Festlegung im Unvollkommenen hinaus kann er einmal Vollendung erreichen. Solche Festlegung schafft auf der Ebene des realisierten Geistes alle Etappen und Stufen. Hier wurzelt schon der Sinn des Entschlusses, des Versprechens. Unbindbar von außen her, kann sich der Geist freiwillig binden. Einmal auf bestimmte Weise gebunden, ist er zu neuer Selbstdarstellung fähig, welche ehedem unmöglich war. Er sieht sich, so wie er ist, und nun ist sein dunkler Grund bereit, Neues zu gebären. Das Herausgestellte aber wird alsbald zum Vorbild, ob in positivem oder negativem Verstand, gleichviel. Unter allen Umständen bedeutet die bloße Tatsache der Herausstellung Hinausgewachsensein. So muss der Geist Welt auf Welt schaffen, um er selbst zu werden. Alles Herausgestellte verkörpert für sich einen neuen Anfang. Es wird zu neuem Vor-Bild für seinen eigenen Schöpfer und wirkt auf diesen zurück.

Die meisten haben den positiven Sinn dieses Strebens nicht verstanden. Sie haben mir wieder und wieder Inkonsequenz und Selbstwidersprüche vorgeworfen. Sie haben trotz allen Goethe-Zitierens nie begriffen, dass Voranstreben unter Preisgabe des vorher Geglaubten und Geleisteten ein Höheres ist, als sogenanntes charakterfestes Beharren auf seinem Standpunkt und dass Wachstumsfähigkeit bis ins hohe Alter hinauf das wichtigste Moment ist, was die Physiologie des Menschen der tierischen überlegen macht. Es gibt keine verderblichere Theorie als die, dass das Leben wesentlich Kampf und dass aller Aufstieg nur Folge von Kämpfen sei: im Gegenteil, in der Kampfeinstellung ist inneres Vorwärtskommen unmöglich, weil der Kämpfende sich ja nur als der durchsetzen kann, der er schon ist, und nur zu ergreifen, nicht ergriffen zu werden vermag (vgl. die ausführliche Betrachtung über diese beiden sich polar entsprechenden Einstellungen im Kapitel Leiden des Buchs vom persönlichen Leben). Welche inneren Kräfte immer beim Kämpfen eingesetzt werden mögen, die als solche natürlich auch innere Folgen zeitigen — äußerer Kampf ist nur auf der Ebene tierischen Daseins letztentscheidend. Wie wenig es dieses auf der geistigen ist, hat die Geschichte wieder und wieder bewiesen. Immer wieder ist der äußere Sieger durch den Unterworfenen von innen her erobert und assimiliert worden. Immer wieder hat sich die äußere Niederlage sogar als Weg zum totalen Sieg erwiesen. Auf das Innerliche allein kommt es eben letztlich an, und inneres Wachstum und Gedeihen hängt ganz und gar vom Ausmaß der Fähigkeit zum Ergriffenwerden ab. Der Mensch ist das ewig unfertige Tier. Er hat es in sich, psychisch ebenso unbegrenzt plastisch zu bleiben, wie dies das Protozoon physisch ist, ja als individuelle Seele Metamorphosen durchleben zu können, wie sie die Geschichte der körperlichen Typen im Lauf der Jahrmillionen als möglich erweist. Und je bedeutender ein Mensch, in desto höherem Grade ist er also plastisch. Das Urbild des Fachmanns ist das Tier, welches nur ganz eng Bestimmtes, dieses aber vortrefflich kann. Das Urbild des Spezialisten ist das Insekt. Weltoffene Tiere gibt es überhaupt nicht. Folglich sollte alle Erziehung dahin zielen, die Weltoffenheit so weit als möglich zu steigern und das ernsteste Streben jedes Erwachsenen darauf gehen, trotz aller vom Daseinskampf aufgenötigten Spezialisierung doch Ganzheitserlebnis-fähig zu bleiben. Gerade dieses mein Bestes, mein rastloses Streben ist eigentlich nie gewürdigt worden. Sobald ich über einen Zustand hinauswuchs, an den sich die Menschen gewöhnt hatten, wurde ich geschmäht. Da war es mir denn eine wahre Wohltat, als der menschlich größte Mann, von dessen Existenz ich in meiner Darmstädter Hauptzeit wusste, seitdem Tagore aus meinem Gesichtskreise verschwunden war, und der mich mit seiner Freundschaft beehrte, der damals, glaube ich, dreiundachtzigjährige ungarische Staatsmann Graf Albert Apponyi1, der sich selber die hier geforderte Plastizität bis ins höchste Alter bewahrt hatte, nach einem Budapester Vortrag im Februar 1927 über mich das Folgende schrieb — sicher wird es mir übel genommen werden, dass ich selber diesen Artikel zitiere, aber mir scheint es wichtiger, der Wahrheit zum Siege zu verhelfen, als Vorurteilen zu schmeicheln:

Wer heute nachmittag den großen Saal der Musikakademie betrat, verließ diesen Raum eine Stunde später geistig bereichert und zur Gewinnung weiterer Reichtümer ausgerüstet. Der Philosoph, dessen Vortrag eine quantitativ und qualitativ ansehnliche Zuhörerschaft mit verhaltenem Atem lauschte, war ja dieser Zuhörerschaft kein Unbekannter; sein Name versprach viel, was er aber heute abend hielt, war noch mehr. In einem gewaltigen Bogen überwölbte der etwas über eine Stunde währende Vortrag die Jahrtausende menschlicher Entwicklung, indem er mit großer Klarheit die Tiefen darlegte, die für sie maßgebend sind, und insbesondere die Bedeutung jener Individuen, deren Stil schöpferischer Natur ist. Der Stil ist es in Kunst und Wissenschaft und auf jedem Gebiete des geistigen Schaffens, der das abstrakte Gesetz zur Wirklichkeit macht. Der Stil kann der Gesetze nicht entbehren, aber auch sie brauchen ihn, sie müssen ihn in irgendwelchen Menschen finden, um ins Leben zu treten, mit ihm zusammen, durch ihn individuell gefärbt. Die Mission jener aber, die Stil haben, differenziert sich, wie die Schöpfungstätigkeit in der physisch-organischen Welt, in die männlich-zeugende und die weiblich-empfangende Bestimmung. Erstere streut den Samen der Uridee aus, letztere formt ihn. Dieser Prozess bedeutet eine stete Wiedererzeugung und Wiedergeburt; denn: Einmaligkeit ist das Gesetz jeder großen Anregung. Darin, in der Assimilierung, nicht aber in der Anhäufung des Wissensstoffes vergangener Jahrhunderte besteht die Entwicklung, der Fortschritt. Der Urtypus der geistigen Ahnen bleibt, selbst wenn der Nachkomme ihn verleugnen will, aber er erneuert sich stets, nicht durch bloßen Zuwachs, sondern im Wesentlichen durch Neuerfassung. In frappierender Weise zeigt dies der illustre Redner am Beispiel des Bolschewismus, der den ersten in betonter Weise antichristlichen Organisationsversuch bedeutet, aber doch seine Kraft aus der christlichen Grundidee der Liebe zum Schwachen und Bedrängten schöpfen muss. Von diesen allgemeinen Darlegungen ausgehend, sucht Keyserling nach der Grundidee jener Umgestaltung, die die Welt jetzt durchmacht, worin ich ihm allerdings nur mit einigen Vorbehalten folgen kann, da ich seiner fundamentalen These von der Vorherrschaft des Übertragbaren über das Nichtübertragbare eine etwas divergierende Auslegung geben möchte; von diesem Ausgangspunkt gelangt er zum entstehenden Typus des ökumenischen Menschen, der aber nicht das Aufhören der Spannungen zwischen den verschiedenen Stilen bedeutet, sondern vielmehr deren Bewusstwerden und besser-Verstehen, daher Beherrschen; nicht Internationalismus, nicht Aufhören des Nationalen, das ebenso wie der einzelne zum Schaffen Befähigte Stil haben muss und durch das allein Stil in die Menschheit kommt, sondern im Gegenteil, sein schärferes Hervortreten in dem jeder Nation eigentümlichen Stil und Erkenntnis seiner Einstellung in die Gesamtheit der Stile.
Von dieser hohen Warte aus betritt Keyserling das Gebiet, das er sich für diesen Abend abgegrenzt hatte: den Sinn des neuen Europa. Dieses lässt sich weder durch Verträge noch durch künstlich ausgedachte Gebilde und Pläne schaffen. Es muss hervorquellen aus der Neugeburt seiner geistigen Grundlagen, wie sie die Neugeburt der Welt erfordert. Diese Neugeburt verstärkt nicht nur die Spannung zwischen dem Westen und dem Osten, welch letzterer uns technisch und organisatorisch immer näher kommt, sondern auch zwischen dem außereuropäischen und europäischen Westen, der uns technisch vielleicht schon überlegen ist und seine Machtmittel fortwährend ausbildet. Was kann da das kleine Europa bedeuten? Weder politische noch wirtschaftliche Hegemonie kann es in dieser Doppelspannung behaupten; aber eines bleibt ihm: das Gebiet des Geistes, wo es über die größeren Traditionen und die höchstentwickelten Neugeburten verfügt, und den entwickelten Stil seiner Nationen, von denen jede diesen Stil nicht nur zu bewahren, sondern zu potenzieren hat.
Die Zuhörerschaft war von dem hier nur sehr mangelhaft skizzierten Vortrag im wahrsten Sinne des Wortes hingerissen. Jeder fühlte die Bedeutung der Ideen, die er, zu meisterhafter Form zusammengefasst und dem Verständnis nahe gebracht, wahrgenommen hatte. Hatte jemand gegen diese oder jene Aufstellung etwa innerliche Einwendungen oder Schwierigkeiten empfunden, so fühlte er sich eben angeregt, diesen Schwierigkeiten nachzugehen und sich in das Problem zu vertiefen. Das ist es aber, was Keyserling will; darin liegt seine Bedeutung.
Es ist nicht leicht, die Stellung dieses Philosophen im Gebiete des Geisteslebens zu charakterisieren. Er bietet keine in sich abgerundete Lehre, kein System, wenigstens vorläufig nicht; er hat auch meines Erachtens noch lange nicht den Zenit seines Schaffens erreicht, und seine abnorme Rezeptivität hemmt ihn vielleicht im Aufstiege zu einem endgültigen Positivum ebensosehr, wie sie ihn andererseits fördert. Aber eben den ökumenischen Menschen, der, ohne auf seinen eigenen geistigen Gehalt, seine Stellungnahme zu verzichten, im Gegenteil, daran festhaltend, alles, was um ihn herum ist, versteht und sich inmitten dieses Alls selbst behauptet, darin seinen Platz findet, diesen ökumenischen Menschen vorzubereiten, hilft wohl kein Denker unserer Tage in dem Maße wie er. Dieser ökumenische Mensch soll eben nicht ein verwaschener Skeptiker oder Agnostiker sein, dem alles gleich wahr oder — was auf dasselbe herauskommt — gleich falsch ist; sondern einer, der seinen Stil und sein Geistesleben wahrt, ausbildet und vertieft und sich gleichzeitig seiner Relation zu anderen Stilen bewusst ist, sich an dieser Relation stärkt. So ist es auch mir in meinen Geistesbeziehungen zu Keyserling ergangen. Nicht einen Augenblick habe ich mich durch ihn in meinem intransigenten Christenglauben erschüttert gefühlt, es fiel ihm auch nicht ein, das zu wollen; wohl aber fühlte ich mich angeregt, tiefer in die Fundamente dieses Glaubens einzudringen, ihn stärker zu erfassen und seine beglückende Wirkung intensiver zu fühlen.
Ich kann diese in Eile und unter dem Eindrucke des heutigen Vortrages hingeworfenen Worte nur mit dem Wunsche schließen, dass wir Keyserling in nicht allzu langen Zwischenräumen der Zeit wiederholt begegnen mögen. Er hat sein letztes Wort noch nicht gesprochen, er ist noch nicht bis zur endgültigen Synthese seines überreichen Gedankenstoffes vorgedrungen. Aber was er heute bietet, ist schon Reichtum und Kräftigung, Mahnung an den Ausbau unseres naturechten Stils und Übersicht der Weltentwicklung und fortschreitenden Kenntnis ihrer Gesetze. In diesen Zeilen soll er, wenn er uns verlässt, die Wiedergabe der Eindrücke finden, die heute viele Hunderte mit mir geteilt haben und die, wie ich ihn zu kennen glaube, wohl seinen Wünschen entsprechen.

Es ist in der Tat bei der Strebensrichtung, welche seit dem Reisetagebuch unentwegt die meine gewesen ist, vollkommen ausgeschlossen, dass einer jemals wähnte, sein Ziel erreicht zu haben. Dieses Ziel ist ein lebendig-unmittelbar-in-Beziehung-Treten zum ganzen Kosmos in seiner Ganzheit, im Raum wie in der Zeit, und praktisch eine den Rahmen aller bisherigen Menschengrenzen sprengende Existenz. Ich habe den Tod nie auch nur einen Augenblick als Abschluss des geistigen Lebens empfunden, so notwendig er das physische abschließt. Angesichts der Frage, wie denn das Leben entstanden sei und ob auch andere Sterne bewohnbar sind, was bei Sonnen jedenfalls ausgeschlossen ist, da die chemischen Verbindungen, in denen sich das Leben auf Erden verkörpert, so große Hitze keinesfalls aushielten, habe ich einfach still für mich gelächelt: wie soll das Leben, ein primär Psychisches und Geistiges, das sich wohl materialisiert, nie jedoch mit der Materie zusammenfällt, durch die Existenzbedingungen bestimmter chemischer Verbindungen in seinem möglichen Dasein beschränkt sein? Sicher gibt es lebendige Wesenheiten, deren empirisches Dasein nicht an Kohlehydrate gebunden ist, und die mögen nicht allein Sonnen, sondern sogar Höllen bewohnen. Da aber der geistbestimmte Mensch wesentlich über alle Grenzen hinausstrebt, so kann es gar keine Grenze geben für mögliche Höherentwicklung; es muss der Tod ein künstliches Abschneiden bedeuten einer an sich unbegrenzten geistig-seelischen Entwicklung auf bestimmter Ebene. Wer dies nun einmal begriff, und mein Unbewusstes erfasste es früh, der wird sich keiner bereichernden und vertiefenden Erfahrung verschließen wollen, so grausam sie früher aufgerichtete Gebäude zerstöre; der wird schlechthin alles dafür tun, um seine Physiologie fähig zu erhalten oder zu machen, auch innerhalb der Grenzen irdischer Existenz zeitlebens weiter zu werden und so dem Ideale echten Kosmosbewusstseins von Jahr zu Jahr näherzukommen. Das ist das eine, was mich persönlich zeitlebens wirklich angegangen hat. Darum habe ich umschichtig, dem Abwechslungsbedürfnis der Physis und der niederen Psyche Rechnung tragend, meine Aufmerksamkeit bald mehr der Natur, bald mehr der Kultur, bald mehr der metaphysischen Wirklichkeit zugekehrt. Gemeint habe ich aber immer nur die Ganzheit als solche. Und nicht allein gemeint, nur Ganzheiten kosmischen Ausmaßes habe ich je so persönlich erlebt, wie andere Menschen Sondersituationen. Dies gilt sogar von meinem Erlebnis mit einzelnen mir teuren Persönlichkeiten. Nie habe ich sie unabhängig von Topos und Kairós erlebt, nie abgelöst von ihren Hintergründen aller Art. Und heiraten habe ich nur deshalb können, weil es eine Frau gab und ich dieser begegnete, welche gleich mir innigste persönliche Beziehung auf der bewusst als wichtigstempfundenen Grundlage der Schicksalsgemeinschaft aufzubauen ursprünglich geneigt war. Dass alle früheren Lieben nur bestimmten Stadien gemäß waren, verstand sich für mich von selbst. So habe ich — was ich allerdings erst in meinem sechzigsten Lebensjahre eingesehen habe — zeitlebens weit mehr aus Schicksalsgefühl als aus persönlichem Wollen heraus gelebt. Da ich meine Aufgabe von früh an in vollkommenem Verstehen sah, so konnte ich mir nie erlauben, etwas blind zu glauben, im übrigen aber weigerte sich das Freie in mir, auf seiner Ebene Determiniertheit anzuerkennen. Wie ich das erstemal, 1910, über das Schicksalsproblem schrieb, versuchte ich es ganz zu rationalisieren (dieser Aufsatz steht jetzt in Philosophie als Kunst). In der Hauptzeit meines Darmstädter Wirkens, wo ich vor allem historisch fühlte, wollte ich keine Instanz oberhalb des frei Sinn-gebenden Subjektes anerkennen — womit ich auf der besonderen Ebene der Geschichte freilich recht hatte. Erst mit den Meditationen fand ich einen Weg zu verstehender-Assimilierung des Irrationalen, und so konnte ich dort dem biologischen Fatum bereits gerecht werden. Aber noch im Buch vom persönlichen Leben bekämpfte ich die Vorsehungsidee, von der ich die Schicksalsidee nicht reinlich abzuscheiden wusste. Über das Positiv zu dem angeführten Negativ, das ich jetzt, 1940, bestimmen zu können beginne, will ich mich erst in einer späteren Studie ausführlich äußern. An dieser Stelle soll nur dies gesagt werden: blicke ich heute zurück, so darf und muss ich sagen, dass in meinem Falle zwischen außen und innen kaum zu scheiden ist. Das heißt, die einigermaßen wichtigen Dinge, die mir von außen zufielen, spielten im Sinneszusammenhang meines Gesamtlebens genau die gleiche Rolle, wie die, die in mir aus subjektiver Tiefe einfielen, ob es ein Mensch war oder ein Buch oder eine Betätigungsgelegenheit oder eine Katastrophe. So lag mein eigenes Erlebniszentrum offenbar jenseits meines eigenen freien Willens. Gleiches gilt meiner Erfahrung nach von nicht eben vielen Menschen. Es muss einer die ihm zuteil werdenden Ein- und Zufälle innerlich akzeptieren, auf dass sie bedeutsam werden — die meisten bemerken sie nicht einmal: sogar Gottes Stimme hat, laut der Lehre aller Mystiker, über den keine Macht, der sie nicht vernimmt. Ich habe zeitlebens wie ein Haruspex oder Augur aufgepasst. Darum konnte mir von außen entgegenkommen, was ich von innen her initiatorisch vorstoßend nicht erreichen konnte.

Von hier aus wird der Leser dieses Bandes auch einiges, was das zweite Kapitel enthielt, nachträglich besser verstehen, als er es vielleicht im Augenblick des Lesens tat. Geborener Philosoph nun ist meiner Auffassung nach der Geist und der allein, dessen Spezialität es ist (um mich ein wenig paradox auszudrücken), unmittelbar von weltumspannenden Zusammenhängen affiziert zu werden. (Hier erinnere ich noch einmal daran, dass Balzac in Seraphita gerade den Kosmos-bewussten Menschen Spezialist geheißen hat.) Schon der seines Amtes würdige Minister, Feldherr, König erlebt unmittelbar anderes als der Sekretär, der Unteroffizier, der Schutzmann; die kleinen Zusammenhänge als solche, welche die Komponenten seines Amtshorizontes sind, bemerkt er nicht, dafür aber übersieht er unmittelbar die großen Linien. Im höchsten Grade sollte gleiches vom Philosophen gelten. Dieser sollte unmittelbar vom Kosmos als solchem, von der Ganzheit alles Daseienden und Möglichen affiziert werden und diesen Zusammenhang übertragbar machen. Dies kann aber bei der Unermeßlichkeit des Kosmos nur sukzessive, im Verlaufe inneren Wachstums, und an gewissen kritischen Punkten nur durch regelrechte Mutation geschehen. Daher, noch einmal, die absolute Unmöglichkeit für einen Philosophen, der seinen Namen verdient, sich jemals am Ziel zu wähnen, jemals seine Aufgabe darin zu sehen, ein zusammenfassendes letztes Wort zu sagen. 1921 meinte ich noch, im Zustand der Weltüberlegenheit (siehe Schöpferische Erkenntnis) ein wenigstens formal gültiges Ziel bestimmen zu können. Seither habe ich auch diese Beschränkung überwunden. Das letzte, was ich über das Problem inneren Wachstums bis zur Zeit, da ich dieses schreibe, zu sagen hatte, steht im Kapitel Weltfrömmigkeit des Buchs vom persönlichen Leben. Es gilt letztlich nicht, einen Zustand vollkommener Kongruenz von Geist und Erde, Sinn und Ausdruck auf Menschenniveau zu erlangen, sondern über den Menschen als solchen hinauszuwachsen. Kosmos-Bewusstsein setzt eine übermenschliche Physiologie voraus, und die gilt es heranzubilden; hier den Weg zu bereiten, ist die letzte Aufgabe des Philosophen in dieser Wendezeit. In dem Sinn hat er sich sukzessive mit allem zu polarisieren, was ihm etwas bedeuten kann. So polarisierte ich mich zuerst mit Chamberlain und anderen reifen Geistern, dann mit Kulturen, dann mit Weltanschauungen und ganzen Kontinenten, mit Katastrophen und Ausbrüchen der Unterwelt. Zur Zeit, da ich dieses schreibe, 1940, bin ich vollkommen in mich gekehrt und hoffe dergestalt, vom metaphysisch-wirklichen Geist auf die Dauer ebenso befruchtet zu werden, wie in Südamerika vom Geist der Erde. Das Ziel der integralen Offenbarung sogar vom beschränkten Standpunkt des heutigen Menschen werde ich in diesem Leben schwerlich erreichen. Aber potentia bin ich immer das gewesen, was ich kosmopathisch und Ganzheits-bewusst geheißen habe. Daher mein mir selbstverständliches Zusammenschauen von Dingen, die vom Standpunkt anderer kaum zusammenhängen. Daher mein unmittelbares Erfassen von Gesamtsituationen und Schicksalsmelodien. Daher, umgekehrt, meine physiologische Unfähigkeit, Einzelnes losgelöst für sich zu sehen und meine große Unsicherheit in der Beurteilung losgelöster und abgeblendeter Einzelheiten, auch und gerade wo ich selber diese Einzelheit hin. Daher mein direktes Affiziertwerden von Kontinenten und Epochen, während mir das Sonderliche als solches nie viel bedeutet hat. Einmal wünschte ich von C. G. Jung analysiert zu werden. Dieser weigerte sich. Wie ich Jahre später durch das Bewusstwerden des Erdhaften in mir in hohem Grade verwandelt aus Südamerika heimkehrte, rief Jung bei unserer ersten Wiederbegegnung aus:

Jetzt weiß ich, warum mein Instinkt mir verbot, Sie in Behandlung zu nehmen: Sie können nur von einem ganzen Kontinent analysiert werden.

Hiermit diagnostizierte Jung implizite, wahrscheinlich ohne es zu wissen, richtig auch den paradoxalsten, und sagen wir ruhig groteskesten Aspekt meiner Kosmopathie — ich sage wahrscheinlich ohne es zu wissen, weil tief eingewurzeltes schweizerisch-bürgerliches Vorurteil es gerade Jung oft schwer macht, durch herrschende Konventionen innerlich nicht berührten, ja unberührbaren Persönlichkeiten gerecht zu werden. Meine Fehler habe ich allezeit ohne Hemmung öffentlich abreagiert; meine ganze Erziehung durch die Kollektivität ist dementsprechend im hellsten Licht der Öffentlichkeit verlaufen. Es hat mich auch niemals gewurmt, dass ich in der Öffentlichkeit die Püffe erhielt, die sonst in der Klausur von Familie, Schule und Kaserne abgemacht werden. Gleichsinnig treibt es mich, mit diesem Buch öffentlich zu Nutz und Frommen aller auszusprechen, was ich überhaupt zu sagen habe, und damit die ganze Welt ins Vertrauen zu ziehen: auch hier muss ich, nur auf anderer Ebene als im Fall des Reisetagebuchs, den Umweg um die Welt machen, um zu mir selbst zu gelangen. Meine Sonderart von Kosmopathie erfordert eben diesen und keinen anderen Selbsterziehungsweg. Wer unmittelbar von einem großen Ganzen her erlebt, kann sich selbst nur in Beziehung auf anderes und andere erleben, und dies zwar desto mehr, je mehr ein starkes und starres Ich in ihm die Labilität des Gesamt­organismus kompensiert, welche Kompensation zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichtes unerlässlich ist. Dies hat nichts mit Altruismus, Gemeinschaftssinn, einem persönlichen Verhältnis zum Du und ähnlichem zu tun, welche Anlagen sogar völlig fehlen können. Der Ganzheits-Bewusste erlebt sozusagen die Beziehung als solche vor dem aufeinander-Bezogenen; das rechte Verhältnis der Teile zueinander ist ihm bedeutsamer als der private Wille. Ihm eignet in weltumspannender Weite, was man in bloß-menschlichen Beziehungen Gerechtigkeitssinn heißt und was auf unterster Stufe den positiven Aspekt der sogenannten Sachlichkeit ausmacht.

1
Zur Erinnerung an dieser großen Mann drucke ich hier den Nachruf ab, den ich im Weg zur Vollendung, Nr. 22, veröffentlichte:
Graf Albert Apponyi, der mitten in seiner Tätigkeit am Völkerbund als hoher Achtziger im Februar 1933 plötzlich, aber sanft, verstarb, gehört zu den Menschen, die ich am meisten verehrt habe und deren nicht-mehr-Dasein ich am schmerzlichsten empfinde. 1908 lernten wir einander zuerst näher kennen, anlässlich des ersten philosophischen Vortrags, den ich überhaupt hielt: im Herrenhaus von Pest. Damals wirkte Graf Apponyi als beinahe junger Mann. Erst nach seinem fünfzigsten Lebensjahre hatte er geheiratet. Und nach allem, was man hört, war er mit fünfzig wirklich ungefähr so weit wie andere mit dreißig. Sein Lebensrhythmus war ein anderer als der aller Menschen, denen ich sonst begegnet bin. Die wunderbare Frische, die er vom Kriegsende bis jüngst bewiesen hat, rührt daher, dass er physiologisch um schier ein Vierteljahrhundert jünger war, als er Jahre zählte.
Von seinem richtigen Alter übernahm er nur die überlegene Weisheit. Wie er einmal auf einer Darmstädter Tagung (er war lange Jahre hindurch Mitglied unserer Gesellschaft) über den Sinn der Autorität redete, da kamen dem Juristen Professor Graf Dohna Tränen in die Augen: So etwas gibt es, und ich ahnte nichts davon! Ich weiß nicht, ob Graf Apponyis politische Ansichten zum größeren Teil richtig oder unrichtig waren. Nie jedoch habe ich ein solches herrenmenschliches Niveau gesehen wie das, von dem her er sie vertrat.
Wir standen uns menschlich nahe. In den letzten Jahren korrespondierten wir viel über Alterwerden und Tod. Ich habe Briefe von ihm, die sich antiken Schriften de senectute zur Seite stellen lassen. Und was mich da wieder und wieder so sehr beeindruckte, dass ich nur ehrfürchtig staunen konnte, war dies: sein katholisch-christlicher Glaube war so felsenfest, so echt, dass nicht allein der Tod keinerlei Schrecken für ihn hatte, sondern auch das Leiden. Unser für mich interessantester Briefwechsel betraf die Südamerikanischen Meditationen. Es war das erste meiner Werke, bei dem Graf Apponyi nicht mitkonnte. Mit Trauer, schrieb er mir, las ich, was Du über den Tod sagst. Für ihn existierten die Schrecknisse des Irdischen und des Unterweltlichen einfach nicht, denn ihm war jene übernatürliche Ordnung, an welche das Mittelalter glaubte, so selbstverständlich wirklich, dass Gottes Gnade ihm alles, mit der einzigen Ausnahme der Hölle, verklärte. Und auch das Irdische an sich war ihm nicht das Massive, Schwere, Unspiritualisierbare, was es mir bedeutet. Als einer der wenigen ganz echten und zugleich großen Zeugen mittelalterlichen Christenglaubens lebte er in der modernen Welt.
Und er wurde auch ihr gerecht. Doch eben von seinem Ewigkeitsstandpunkt, von seiner Gegründetheit in der Ewigkeit her. In diesem Sinn und deshalb hat er für sein Land, für Europa, ja für die ganze Welt so viel bedeutet. Inmitten einer von Oberflächenströmungen hin- und hergezerrten Menschheit kämpfte Graf Apponyi unentwegt für das, was ewig gilt: für Menschenrecht und Volksehre, für Gerechtigkeit und Humanität. Und er kämpfte auch mit zeitlosen Waffen: mit jenem unbeugsamen Mut, mit jener letzten Überlegenheit, die den wirklich vollkommen freien Mann, den einzigen ganz echten Edel-Mann, was immer ihm äußerlich widerfahre, kennzeichnet. Deswegen war er weitaus die erhabenste Gestalt des Völkerbundes. Deswegen war er bei weitem der ehrwürdigste aller Politiker Europas.
Sein dankbares Volk hatte dem Grafen bei Gewährung einer Ehrengabe aufgetragen, seine Erinnerungen zu schreiben. (Diese Denkwürdigkeiten erschienen einige Jahre später auf Deutsch im Scherl-Verlag, Berlin, unter dem Titel Erlebnisse und Ergebnisse). Nach dem, was er selbst mir davon mitteilte, sollte es ein strenges Gericht werden mit seiner Zeit sowohl als mit sich selbst. Auch sich selbst war Albert Apponyi in seinen letzten Jahren wunderbar überlegen geworden. Seine heitere Ironie wurzelte jenseits möglicher Tragik. Er war wie ein ewiger Geist, in der Gestalt eines Patriarchen verkörpert.
Hermann Keyserling
Reise durch die Zeit · 1948
I. Ursprünge und Entfaltungen
© 1998- Schule des Rades
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