Schule des Rades

Hermann Keyserling

Reise durch die Zeit

II. Abenteuer der Seele

III. Puritaner - Oliver Cromwell

Auch das abgespaltene Gute ist ein Böses… Dieser Satz floß mir, als ich das vorhergehende Kapitel niederschrieb, ganz natürlich in die Feder, ohne dass ich mir etwas Besonderes dabei dachte. Nun aber scheint mir, dass von ihm aus eine besonders fruchtbare Zusammenschau der bisherigen Menschengeschichte möglich wird. Ich will eine solche versuchen, und zwar unter dem Titel Puritaner. Über das abstrakte Problem, welches dieser Menschentypus bietet, habe ich mich freilich schon sehr ausführlich geäußert, besonders im Kapitel Moralismus von Amerika und in den dem Islam gewidmeten Abschnitten des Reisetagebuchs. Dieses Werk soll konkrete Koordinaten hinzeichnen zur Bestimmung dessen, was ich letztlich — oberhalb aller Theorie — meine. Und weniges bei mir hat so ausgesprochen persönliche Hintergründe, als mein Interesse für und meine Stellung zum Puritanismus.

Leicht wird es nicht sein, gerade aus diesem Kapitel ein einheitliches Ganzes zu machen, denn sein Thema hat zu viele Aspekte, die von einem Standort aus überhaupt nicht überschaut werden können. Immerhin glaube ich den richtigen Ansatzpunkt gefunden zu haben, nachdem ich gestern Abend — dies schreibe ich Ende März 1941 — Arnold Oskar Meyers Studie über Englands größten Puritaner Oliver Cromwell las1.

Cromwell, schreibt dieser, fühlte sich als Werkzeug Gottes, bestimmt, dem auserwählten Volke des Herrn zu dienen. Auch als ihm das Schwerste bevorstand, den König hinrichten lassen zu müssen, war er, und zwar gerade jetzt, einig mit seinem Gewissen, mit seinem Gott. Wir haben schon früher, bei der Beschreibung seines religiösen Werdens, jenes fast unheimliche Bekenntnis des Glaubens an die eigene Erleuchtung gehört; jene Worte, mit denen er vor dem Königsprozess einem Freunde des gefangenen Karl in seiner Gewissensbedrängnis zusprach. Diese Worte lauteten: Wenn der Herr sein Volk, wie er es zu tun pflegt, von der Rechtmäßigkeit, ja der Pflicht seiner Maßnahmen überzeugt hat, so ist diese Überzeugung, die das Herz beseelt, Glaube und das Handeln danach ist Handeln im Glauben, und je größer die Bedenken, um so größer der Glaube. Nie ist Cromwell ein Zweifel an seiner göttlichen Sendung gekommen. Gott hat mich nie verlassen, wenn ich ihm vertraute. Ich kann lachen und singen in meinem Herzen, wenn ich zu Euch im Parlamente oder sonstwo spreche. In all seinen Kämpfen mit dem ungebärdigen Parlament beruft Cromwell sich auf die Stimme Gottes, wie ein Prophet des alten Bundes, der mit Israel hadert. Und nie ist Englands Prophet irre geworden an dem Glauben, dass sein Volk vor anderen von Gott gesegnet sei. Seine und Englands Feinde sind ihm Menschen, die ohne Gott in der Welt sind und nicht mit Ihm wandeln.

Aus diesem Auserwähltheitsgefühl heraus konnte Cromwell natürlich grausam gegen die Iren sein wie kein Engländer vor ihm.

Schrecklich, schreibt A. O. Meyer, wie Cromwell nach der Einnahme von Drogheda dastand und den Befehl gab, die gesamte, nach Tausenden zählende irische Besatzung niederzumachen; mitleidslos, wie er kalten Bluts die Ausführung des Befehls überwachte — so steht sein Bild als Würger in der Geschichte Irlands. Hier glühte nicht nur der Hass des Puritaners gegen die Papisten, hier kühlte sich nicht nur das Verlangen nach Rache für die Protestantenmorde in Ulster, hier enthüllte sich zugleich die angelsächsische Verachtung für die fremde minderwertige Rasse. Die sonst nur gegen schwere Verbrecher geübte Justiz der Verschickung nach Barbados, als Sklaven im Dienste englischer Plantagenbesitzer, hat Cromwell auf die überwundenen Iren übertragen, politische Vernichtung verbindend — auch darin ganz englisch — mit wirtschaftlicher Ausnutzung. Alles aber geschah mit reinem Gewissen und zum Ruhme des Herren.

Das Wesentliche ist, dass es wirklich mit reinem Gewissen geschah. Keiner versteht das erste Wort von dem Menschentypus, als dessen Höchstausdruck im Westen Cromwell dasteht, der an seinem guten Gewissen zweifelt. Mag der echte Puritaner außerdem heuchlerisch und scheinheilig erscheinen, in seiner Tiefe ist er es nicht. Und darin, nicht in seinem etwaigen cant, liegt sein Böses. Damit nun spreche ich, ich weiß es, ein sehr großes Wort gelassen aus. Allein die Wahrheit ist so und nicht anders.

Dass andererseits alle unbestreitbare Größe des Puritanertums im gleichen wurzelt, ist dermaßen klar, dass es keinerlei Auseinandersetzung bedarf. Aber das Gute des puritanischen Auserwähltheitsgefühls ist nicht puritanisches Monopol: jeder Erleuchtete hat hier am gleichen teilgehabt. Dieses Gute ist das ganz Allgemeine der Verbindung von Gott- und Selbstvertrauen. Bei anderen Typen tritt dies, je nach der jeweiligen Seelenart, mit tiefster persönlicher Demut, vernichtendem Sündbewusstsein, Toleranz als Ausdruck vollkommener Selbstbescheidung oder allumfassender Liebe verbunden in Erscheinung; hier setzt, auf Hegelisch ausgedrückt, das seiner Auserwähltheit nach so bewusste Ich jedes andere. Man gedenke nur dessen, wie der letzte große Heilige, Ramakrishna, sich vor jeder Hure in Demut beugte, weil auch hinter ihr Gott stehe, und wie er jeden Andersgläubigen selbstverständlich als gleichwertig anerkannte. Dabei war Ramakrishna seiner persönlichen Erleuchtetheit absolut gewiss. Man gedenke sogar Mohammeds, des geistigen Vaters des reinsten Puritanismus, der aber persönlich kein reiner Puritaner war und welcher das herrliche Wort sprach: Die Meinungsverschiedenheit unter den Gläubigen ist ein Zeichen der Gnade Gottes. Demgegenüber fühlt der europäische Puritaner sich und seine Art ganz allein im Recht2. Nur seiner Art erkennt der europäische Puritaner Existenzberechtigung zu. Er kann gar nicht Unrecht haben noch tun. Schon gar nicht kann er Unrecht zugeben. Täte er’s, so übte er von seinem Standpunkt aus nicht nur moralischen Selbstmord — er bewiese ruchlosen Zweifel an Gottes Ratschluss. Damit nun gewinnt das Gleiche, was sonst das reinste Gute bedeuten kann, einen bösen Aspekt. Gut und Böse verhalten sich zueinander wie Ja und Nein. Das Nein ist als Grenze und Form jedes Ja überall nachweisbar und nicht nur aus der gegebenen Schöpfung, sondern überhaupt aus keiner, welche der Mensch vorstellen kann, wegzudenken. Einen Himmel, in welchem keinerlei Nein irgendwelche Existenz negierte und irgendwelche Gefühle kränkte, mag es geben, aber vorzustellen ist er nicht. Darum findet sich Glaube an einen menschliche Wünsche erfüllenden Himmel überall durch Glaube an eine korrelative Hölle ergänzt, deren absolut Negatives vom absolut Positiven des Himmels selbstverständlich akzeptiert wird. Der unlösliche Zusammenhang zwischen Gut und Böse gewinnt einen mehr guten oder mehr bösen Aspekt, je nachdem und in welchem Verhältnis zum Gegenpol das Ja oder das Nein betont wird. Das Nein wird am stärksten natürlich vom reinen Zerstörer betont. Nach dem reinen Zerstörer aber kommt gleich der Puritaner, weil dieser sich aus seinem Auserwähltheitsgefühl heraus berechtigt fühlt, alles, was nicht er selber oder seiner Art ist, auszurotten. Damit wären wir denn bei einer der Grundlehren Jesu angelangt, von welcher jeder redet, die indes so wenige verstehen. Woher Jesu Verurteilung zunächst der Selbstgerechten, sodann der Gerechten überhaupt und schließlich ganz allgemein der Richtenden? Weil diese, indem sie sich bejahen, alles andere verneinen. Diese Art Gerechtigkeit stellt freilich den polaren Gegensatz zur Liebe dar, wie Jesus sie verstand, viel mehr so als das Verbrechen. Aus dem gleichen Grunde machte Jesus Gottes Gnade dem sündigen Menschen gegenüber davon abhängig, dass dieser vorher jedermann, aber wirklich jedermann, verziehen hatte. Verzeihen bedeutet Verzichten auf gerechten Ausgleich. Beinahe dürfte man sagen: Jesus verdammte nur eines: die Gerechtigkeit. Wer da nun moderne Psychologie studiert hat, der könnte zunächst daraus folgern, dass Jesus eben damit das Böse verdammte. Mir scheint, in der Tat, Ludwig Klages’ Nachweis geglückt, dass der Gerechte und der Böse als zwei Zweige aus der gleichen Wurzel sprießen. Hierauf geht Klages’ Feindschaft gegen alles Ethos zurück. Aber so meinte es Jesus wiederum nicht. Erstens vertrat er persönlich eine sehr bestimmte Ethik, die eben darum so viel Nein-Elemente enthielt als erforderlich war, um sie gegen andere abzugrenzen, dann und vor allem hasste Jesus gerade das Böse nicht: dieses wollte er erlösen und damit in Gutes umwandeln. Zu dem Zwecke fuhr er ja sogar zur Hölle nieder, und die tiefste christliche Überlieferung lehrt, Satan selber könnte, wenn er umkehrte, in den Himmel zurück; nur seine Geschöpfe seien unwiederbringlich verdammt. Die übliche Scheidung zwischen dem Sünder und der Sünde beruht auf nicht ernstzunehmender Spitzfindigkeit: abstrakte Wirklichkeiten wie die Sünde, die Schuld, das Böse gibt es gar nicht; nur als Eigenschaftsbezeichnungen haben diese Begriffe Sinn und Wirklichkeitsgehalt. Ja, Jesus liebte sogar den Sünder und vor allem: er zog diesen dem Gerechten vor. Damit ist erwiesen, dass er nur, gegen die Selbstgerechten unbedingt verneinend Stellung nahm. Und das ist als Höchstausdruck der Puritaner.

Aber das Grundproblem ist mit dem Gesagten noch nicht ganz umfriedigt. Zum Wesen des Puritaners gehört auch und vor allem, dass er bewusst das Gute will. Es gehört noch ein Weiteres dazu: dass er, den Tatsachen nach beurteilt, mehr Gutes als Böses schafft. Es gehört endlich dazu, dass er wie kein zweiter Typus auf Erden Erfolg hat. Nun erscheint sein Problem vollends kompliziert. Aber wer die bisherige Geschichte unbefangen überschaut, muss zugeben, dass gerade die letzten Sätze nachweislich wahrsprechen. Die extremsten Puritaner waren die Propheten Israels. Cromwells schreckliche Behandlung der Iren wurde durch Elias, der persönlich Tausende von Baalspriestern geschlachtet haben soll, weit in den Schatten gestellt. Und doch geht das ganze positive Ethos der abendländischen Menschheit auf ihn und seines gleichen zurück. Die angelsächsischen Puritaner sahen sich als Fortsetzer der alttestamentlichen Propheten. Das waren sie auch; sie waren durchaus keine Christen, wie Jesus sie haben wollte. Aber das ganze Positive des Fortschrittszeitalters ist protestantischen Geists, und darunter verstehe ich nicht nur den materiellen Fortschritt, sondern auch den wissenschaftlichen, die Gedankenfreiheit, die religiöse Toleranz, die soziale Gesinnung. Und das, was am Protestantismus das praktische Leben wesentlich gefördert und gebessert hat, ist calvinischen und nicht lutherischen Geists, und die reinsten Calvinisten waren die Puritaner. Das meiste dessen, was das spätere England groß gemacht hat, war puritanischen Geists. Gleiches gilt seit der Aufklärung von aller Charakterkultur. Wer also meint, dass es seit dem mittelalterlichen Zustand überhaupt einen Fortschritt gegeben hat, muss den Puritanismus positiv bewerten. Keinesfalls kann geleugnet werden, dass die Lehre von der Gnadenwahl, gemäß welcher die Gnade Gottes am persönlichen materiellen Erfolge auf Erden ihren Exponenten hat, welcher Erfolg jedoch aus eigener Kraft angestrebt werden soll, so tolle logische Widersprüche sie enthielt, jahrhundertelang wie keine zweite auf Erden den pragmatic test bestanden hat. Seit dem Weltkriege scheint sie freilich den kritischen Punkt erreicht zu haben, wo das Positive in rein Negatives umschlägt. Sobald Reichtum nicht mehr als Gnade Gottes, der Reiche nicht selbstverständlich als der den Armen gegenüber Bessere und die bestimmte Einstellung der Angelsachsen nicht als vorbildlich anerkannt wird, seitdem das Angelsachsentum gar materielle Niederlagen erleidet, ist das Prestige des Puritaners schwer erschüttert. Aber keine Lebensform lebt ewig, keine bleibt zeitlebens auf der Höhe, bei jeder gewinnt ihr Negatives über ihrem Positiven irgend einmal die Oberhand, und Tatsache bleibt, dass der Puritanismus jahrhundertelang Positiveres bewirkt hat, als irgendeine ethische Lebensgestaltung. Auch die Gegenreformation vertritt ja in dem, was sie erfolgreich machte, zum Teil puritanischen Geist. Man verwechsele ja nicht Psychologie mit Konfession: das wahre Puritaner-Problem ist überhaupt kein konfessionelles, sondern ein psychologisches. Ignatius von Loyola vertrat so viel Puritanismus, als mit dem katholischen Glauben, dem Gehorsamsprinzip und spanischer Seelenart vereinbar war. Letztere aber ist der nordafrikanischen nahe verwandt und damit der islamischen, der reinst-puritanischen, die es überhaupt gibt, wie denn die Idee einer Militia Christi und einer Santa Hermandad ihre ganze Verwandtschaft nicht unter Christen, sondern unter Mohammedanern findet. — Soll man sich nun, verzweifelt über so viel Komplikation, dabei beruhigen, dass der Puritanismus ein Teil der Kraft sei, die stets das Böse will und stets das Gute schafft? Aber gerade das gilt ja nicht, weil der Puritaner mit einer Ausschließlichkeit sondergleichen das Gute will. Wahrlich und ehrlich, die Widersprüche und Verwicklungen, die verwirrenden Verwirrungen, wie sie Goethe hieß, scheinen unauflöslich. Sie sind es auch. Gleiches aber gilt von allen Äußerungen der Tiefen und Untiefen der Menschennatur.

1 In Deutsche und Engländer, München 1937, C. H. Beck.
2 Diese Zuspitzung würde Danilewsky, der Verfasser des heute mehr denn je lesenswerten, obwohl 1865 geschriebenen Standardwerkes des Panslawismus Russland und Europa als Ausdruck der spezifisch-europäischen Neigung zur Gewalttätigkeit werten.
Hermann Keyserling
Reise durch die Zeit · 1948
II. Abenteuer der Seele
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