Schule des Rades

Hermann Keyserling

Reise durch die Zeit

II. Abenteuer der Seele

VI. Die Schule der Weisheit - Worauf es ankommt

In diesem Zustand hauste ich denn ab Oktober 1920 in Darmstadt, im bisherigen Hofpredigerhaus, das Graf Hardenberg mühsam für uns freibekommen hatte; dessen Haustür zierte damals eine Kupferplakette, welche den Kampf Jakobs mit dem Engel darstellte und unter welcher der Spruch stand Ich lasse dich nicht, Du segnest mich denn. Viele meiner ersten Besucher übertrugen diesen Spruch auf mich, was mich so sehr bestürzte, dass ich die Plakette schleunigst fortnehmen ließ. Es begann nun eine Auseinandersetzung mit meiner Umgebung und der Außenwelt überhaupt ähnlich schwieriger Art, wie die, welche in mir stattfand; ja die eine spiegelte die andere oft genau. War die mit der Welt einerseits noch schmerzhafter wegen meiner Abneigung gegen das Zwischenreich, so bedeutete sie andererseits eine Erleichterung des erstgenannten Prozesses, indem sie vieles von jeher Wirkliche aus der Verdrängung herausholte; hier waren die Schwierigkeiten doch zu ernst, als dass ich sie durch Humor und Witz, meine beliebtesten Waffen, weil sie nämlich entwaffnen, hätte meistern können. Ebendarum gelangte ich denn verhältnismäßig schnell in (gegenüber der Zeit bis 1920) neuer Gestaltung zu mir selbst. Damals konzentrierte sich ein erschreckend großer Teil des seinem Wesen nach auf Irreales gerichteten Verehrungsbedürfnisses der Deutschen auf mich. Das Reisetagebuch, in Wahrheit ein Jugendwerk und der Abschluss der ersten Periode meines Lebens, wurde als Ausdruck erreichter höchster Vollendung missdeutet, und dementsprechend erwarteten die meisten derer, welche es zu mir zog, von mir, ich würde gewissermaßen als verklärter thronender Buddha von Darmstadt aus wirken. Es ist dies wohl der für jeden Wahrhaftigen, welcher Verehrung weckt, entsetzlichste und für jeden nicht ganz Wahrhaftigen verderblichste Ausdruck der Irrealität des deutschen Geistes, dass der Verehrte nie als der verehrt wird, welcher er wirklich ist, sondern als verstiegenes Ideal oder weltfremdes Idol, von welchem ganz naiv verlangt wird, dass er sich in seinem Verhalten nach den Phantasmagorien seiner Verehrer richte. Eben darum finden nirgends in der Welt so leicht Charlatane Anhängerschaft, wenn sie nur schlau genug sind, genau die Rolle zu spielen, die man von ihnen erwartet. Eben darum wird im Falle ehrlicher Leute auf grausamste Weise zwischen Leben und Werk geschieden. So soll es einem Bedeutenden bei Lebzeiten möglichst schlecht ergehen, weil eben dies seine Größe beweise. So haben mir mindestens zehn Menschen ins Gesicht gesagt, es sei ein Jammer, dass ich noch nicht tot sei, sie hätten so schöne Nachrufe in petto — früher konnten und wollten sie natürlich nicht für mich eintreten, und ob ich darüber verhungerte. So spricht sich beinahe jeder Deutsche das Recht auf Enttäuschung und dementsprechend auf Verrat am Menschen zu, wenn er sein Trugbild der Wirklichkeit gegenüber nicht behaupten kann. Idealisierung und Idolatrie habe ich nun in den ersten Jahren nach dem Berühmtwerden des Reisetagebuchs in mehr als üblichem Grade erlebt. Hätte ich mir nur die allergeringste Unwahrhaftigkeit mir selber gegenüber erlaubt, hätte ich die mir von anderen vorgezeichnete Rolle übernommen, ich hätte unzweifelhaft jahrelang, wenn nicht zeitlebens, die Stellung eines von einem weiten Kreise frenetisch verehrten und fanatisch gegen alle Welt verteidigten Kirchenvaters innehaben können. Mein sehr humorvoller Freund und Mitarbeiter Graf Cuno von Hardenberg, der über die erstaunlichsten Gaben im reichsten Maß verfügte, aber nur wenige derselben ausnützte, sagte mir einmal:

Eine Zeit lang hatte ich andauernd Gesichte, wie sie ein buddhistischer Arhat haben soll. Ich dachte auch einen Augenblick daran, in deren Geist als Lehrer aufzutreten. Dann aber fiel mir ein, dass in diesem Fall Tausende blind an mich glauben und mir blindlings folgen würden — das Bedürfnis der Deutschen, blind zu folgen, ist unermeßlich groß —, womit ich meiner ganzen Freiheit verlustig gegangen wäre. Darum behielt ich mein mir damals geschenktes Wissen lieber für mich und gab meinem Leben eine solche Form, dass ich frei, so wie es mir passt, weiterleben konnte.

Hardenberg hatte den Fehler, sich seinen ungewöhnlichen Gaben nicht verpflichtet zu fühlen. Mir eignete dieses Pflichtgefühl von früh auf in allerhöchstem Maß. So begann ich vom ersten Tage der Gründung der Schule der Weisheit an dem, was ich eigentlich meinte und wollte, nicht nur unabhängig von den Wünschen anderer, sondern, wo immer ich in diesen ein grundsätzlich Verfehltes sah, im Gegensatz zu ihnen Form zu geben. Darunter litt natürlich die Gründung von vornherein. Zunächst ließ ich mich nicht als Gott oder Halbgott verehren. Dann bekämpfte ich jede Festlegung der Art, wie sie sonst jeden Kreis charakterisiert. Zu was ich die Schule der Weisheit, sobald ich mir über meine Möglichkeiten, Grenzen und Ziele klar war, entwickeln wollte, gibt ein Teil des Prospektes des Jahres 1925 so gut wieder, dass ich ihn hier einfach abdrucke.

Die Schule der Weisheit.

Die Schule der Weisheit ist ein Geisteszentrum und ein geistiger Brennpunkt. Sie ist keine Lehranstalt. Sie hat kein festes Programm. Sie ist auch nicht die Heimstätte einer exklusiven Gemeinschaft. Ihr Sinnbild ist nicht der geschlossene Kreis, sondern der offene Winkel.
Ihr Sinn, Stil und besonderer Rhythmus ist durch die Persönlichkeit ihres Gründers und Leiters, des Grafen Hermann Keyserling gegeben. Dessen Grundüberzeugungen, soweit sie hier in Frage kommen, sind die folgenden:
Erstens: dass das Heil in dieser Weltwende nicht von einem neuen Glauben, sondern von tieferer Erkenntnis kommen wird. Dies hängt mit der veränderten psychologischen Struktur der Menschheit zusammen.
Zweitens: dass es sich bei der erforderlichen Erkenntnis um Verstehen im Gegensatz zu Wissen handelt. Man kann alles wissen und mag doch nichts verstehen. Nun muss Wissen freilich sein; Graf Keyserling ist kein Feind der wissensvermittelnden Lehranstalten. Aber allerdings sieht er im bloßen Gelehrten, wie im Spektrum Europas ausführlich dargetan, nicht den tiefen, sondern den wesentlich oberflächlichen Menschen. Die Schule der Weisheit will den bloß Wissenden in einen Verstehenden verwandeln.

Hieraus folgt denn

Drittens: dass die Schule der Weisheit ein Zentrum der Inspiration im Gegensatz zur Erziehung ist. Erziehung kann nur schon Geborenes ausbilden, sie entspricht dem weiblichen Prinzip; Neues schafft allein der zeugerische, das heißt der männliche Geist. Diesem ist es andererseits nur darum zu tun, Keime zu säen. Nach Ansicht des Grafen Keyserling beruht die Unfruchtbarkeit der letzten Zeit hauptsächlich darauf, dass die westliche Menschheit noch in Funktion des weiblichen Geistes denkt, wo nichts mehr auszutragen ist. Demgegenüber vertritt die Schule der Weisheit mit gewollter Einseitigkeit den zeugerischen Geist allein.

Daraus ergibt sich

Viertens: dass die lebendige Individualität immer mehr ist als jede Sache. Der große Fehler von der Aufklärung bis zu der vor kurzem herrschenden Geistesperiode war, dass sie die Konstruktion des abstrakten Menschen über den lebendigen persönlichen Menschen stellte. Daher ihr Mechanismus und Materialismus. Das Heil kann heute nur noch vom neu-bewusst-Werden des konkreten Geistes kommen — nicht etwa von den Müttern, wo ihn weite Kreise vom Intellekt Enttäuschter suchen. Dementsprechend betont die Schule der Weisheit den persönlich-lebendigen und insofern subjektiven Charakter alles geistig Bedeutsamen. Das kommende Zeitalter ist nach der Überzeugung Graf Keyserlings nicht eins des verleugneten Geists, sondern zunächst des erdbeherrschenden, alsdann des Heiligen Geistes.
Wenn aber nun Geist immer persönlich ist, wie ist eine Sache, welche die Schule der Weisheit doch darstellt, überhaupt möglich? Dies führt zum
Fünften Punkt: Alles kommt, bei der Vertiefung wie bei der Erneuerung, auf die Einstellung an. Was Geistesinhalte bedeuten, hängt einzig davon ab, wie sie verstanden und in welcher Beziehung zum Selbst sie erlebt werden. Darauf allein — nicht auf sachlicher Neuheit — beruht auch die einzig wahre Originalität. Insofern ist es der Schule der Weisheit nicht allein um Verstehen im Gegensatz zum Wissen zu tun, sondern um die Einstellung im Gegensatz zur bestimmten Lehre. Hier zeigt sich denn, wieso die Schule der Weisheit wirklich alle angeht: jedem muss daran liegen, im Gesamtkosmos der Menschheit richtig eingestellt zu sein und so die Welt in der ihm einzig gemäßen Perspektive zu sehen; denn diese allein führt ihn zu seiner persönlichen Vollendung sowohl, als zum wahren Einklang mit seinen Mitmenschen.

Von hier aus gelangen wir denn zum letzten und

Sechsten Punkt: inwiefern ist das, was die Schule der Weisheit vertritt, Weisheit? Jeder lebendige Geist gibt den Worten, die er verwendet, einen neuen Sinn. Unter Weisheit im Gegensatz zum abstrakten Wissen versteht Graf Keyserling richtige Einstellung des ganzen lebendigen Menschen, und nichts anderes. Deshalb widerstreitet der rein inspiratorische und insofern dynamische Charakter des Darmstädter Zentrums dem Begriff der Weisheit nicht; im Gegenteil, er ist im gegebenen Fall dessen einzig möglicher Ausdruck.

Ich habe hier einiges gekürzt. Den Rest des Prospektes zitiere ich nicht. Nur die Schlusssätze seien hier noch angeführt:

Immer stellt der Impuls der Schule der Weisheit etwas Überpersönliches dar, obgleich er sich jedes Mal durch vollbejahte Subjektivität hindurch manifestiert. Nie gilt ihr der einzelne Mensch oder die einseitig-bestimmte Lehre als letzte Instanz. Dies führt uns denn zum Gemeinschaftsgedanken der Gesellschaft für Freie Philosophie. Das Sinnbild der Schule der Weisheit ist nicht der geschlossene Kreis, sondern der offene Winkel. Dementsprechend sind die Mitglieder der Gesellschaft für Freie Philosophie nicht Schüler oder Bekenner, sondern grundsätzlich freie selbständige Menschen, die sich gegenseitig befruchten.

Doch wie schwer war es, diesen Sinn der Schule der Weisheit auch nur meinen nächsten Mitarbeitern gegenüber zu behaupten! Wo immer er kann, verkriecht sich der Deutsche in ein Mauseloch, in dem er seinen angeborenen Partikularismus ausleben kann. Die einen wollten mein Aktionszentrum als großherzogliche oder partikularistisch-hessische oder aristokratische oder gesellschaftliche Sache ausbauen, die anderen einen möglichst exklusiven Kreis gründen; wieder andere einen Mysterienbund, noch andere den Sitz einer bestimmten Lehre und Schule unter anderen. Schlechterdings alle klammerten sich an die Worte Schule und Weisheit und Weiser, so wie sie dieselben zu verwenden gewohnt waren und begriffen nicht, dass ich ganz Neues meinte, über dessen genaue Bezeichnung ich mir bei der sinnbildlichen Art meines Denkens am Anfang überhaupt nicht den Kopf zerbrach — so gewohnt war ich von meiner eigenen Gesellschaft her, in welcher allein ich die längste Zeit meines Lebens verbracht hatte, dass der gemeinte Sinn durch die Worte hindurch intuiert werde. Dass jemand sich daran stoßen konnte, dass die Schule der Weisheit keine eigentliche Schule und ich kein Weiser im üblichen Sinne war, kam mir als größte Überraschung. Das, was für mich das Wesentliche war: das Sinnbild des offenen Winkels im Gegensatz zum geschlossenen Kreis, die Herausarbeitung eines Radiators für einen alle angehenden und darum allem Partikularismus überlegenen Weltimpuls, begriff damals meines Wissens keiner. Hatte ich trotzdem gerade als Leiter der Schule der Weisheit mehrere Jahre lang großen Erfolg, so lag das an von meinem Standpunkt Zufälligem: meiner Rednergabe und meiner Fähigkeit, jeden Menschen, für den ich mich interessierte, in der Richtung seines eigenen Seins zu steigern sowie verschiedene Menschen aufeinander abzustimmen, an der Pflege nicht nur edler, sondern auch wirklich geistvoller Geselligkeit, die meine Tagungen kennzeichnete, auf denen sogar allemal das für deutsche Menschen Schwierigste, die Befreundung des Feindlichen, gelang; es lag ferner an der vielen erwünschten Möglichkeit, sonst schwer zugängliche bedeutende Geister menschlich kennen zu lernen, ja oft leider an reinem Snobismus. Nun habe ich nicht allein andauernd mit vielen anderen kämpfen müssen, um das zu schaffen und zu erhalten, was ich meinte — ich selber habe für meine Zeitbegriffe, wie schon gesagt, lange getastet, bis ich die Formen fand, mittels derer ich wahrhaftig sein konnte, indem ich praktisch wirkte. Und dies alles in einer Situation des Kompromisse-machen-Müssens, die mir in der Seele zuwider war und mein Innerstes in einem Zustande dauernder Hochspannung erhielt. Weil dies die im Ganzen besonders spannungslosen Südwestdeutschen trotz all meiner Selbstüberwindung doch spürten, warfen sie mir immer wieder asiatischen Despotismus vor. Theoretisch wusste ich ja längst, was ich im Tagungsvortrag Politik und Weisheit des Jahres 1921 öffentlich aussprach, dass Sinneserfassung und Realpolitik zusammengehen müssen, damit Geist sich auf Erden verwirklichen könne. Aber von Anlage war ich so hart und unerbittlich dort, wo ich einmal wirklich Bestimmtes wollte, was bei mir selten der Fall war, und überdies lag mir an den Menschen so wenig, dass es mich oft maßlose Selbstvergewaltigung kostete, wenn ich auf friedlich-freundlichem Wege das, was ich wollte, gegen die anderen, welche meistens anderes wollten, durchsetzte. Ich konnte ja nicht wie Gott aus dem Nichts schaffen — wie oft beneidete ich Ihn dazumal! — ich musste überall mit Vorhandenem rechnen und dieses unmerklich in eine neue Form bringen, soweit dies ging. Und es ging immer nur bis zu einem gewissen Grad. Da ich auf Darmstadt angewiesen war, konnte ich auch während der schwersten Krisen die Flinte nie ins Korn werfen, nie überhaupt mich richtig gehen lassen. Dass ich dies wirklich nicht tat, bemerkte damals von Freunden und Mitarbeitern nur einer: Hans von Hattingberg, der mir nach einigen Tagen der Analyse erschreckt mitteilte, ich hätte mich noch niemals losgelassen. Hätte ich das getan, die lieben Leute hätten ganz andere Dinge erlebt. So waren meine ersten Darmstädter Jahre durchaus ein rechtes Fegefeuer, ein weniger glühendes als das, welches ich später in Südamerika erlebte (siehe das Schlusskapitel dieses Bandes), doch ein desto schwelenderes. Aber eben diese Drangsal ermöglichte es mir in die erforderliche neue Lebensform verhältnismäßig schnell hineinzuwachsen.

Die allerersten Prospekte der Schule der Weisheit, zum größeren Teil von anderen redigiert, trugen dem, was ich eigentlich anstrebte, noch sehr wenig Rechnung. Der Anhang Die Schule der Weisheit zur Schöpferischen Erkenntnis stellte noch Richtlinien zur Fortentwicklung auf, die ich zum Teil nie verwirklicht sehen wollte. Erst im Tagungszyklus 1921 (Was wir wollen — der Weg — das Ziel, in Schöpferische Erkenntnis aufgenommen) bestimmte ich zum ersten Mal ganz richtig die großen Linien dessen, was ich von innen her wirklich anstrebte, erst im Zyklus der Tagung 1922 Spannung und Rhythmus (in Wiedergeburt abgedruckt) den Sinn jenes rücksichtslosen Dynamismus, zu dem ich mich, im Gegensatz zu der Abgeklärtheit, welche alle von mir erwarteten, bekennen musste, erst 1925 im letzten Kapitel der Neuentstehenden Welt, Philosophie und Weisheit, was genau ich unter Weisheit verstand. Zu einer Synthese all des Verschiedenen, was seinen Brennpunkt im Darmstädter Zentrum hatte, gelangte ich sogar erst mit einem Aufsatz im New Yorker Forum, welchen ich 1928 über die Schule der Weisheit zu schreiben hatte. Da nun die Zeit, wo sehr viele von meinem Darmstädter Wirken wussten, längst vorüber ist, sei an dieser Stelle, ehe ich mit meinen persönlichen Bekenntnissen fortfahre, im allgemeinen Rahmen eben dieses Aufsatzes, welchen ich später der englischen und der spanischen Ausgabe von Schöpferische Erkenntnis vordruckte, welchen Aufsatz ich nur zu dem Zweck der Vollständigkeit ergänze, das Folgende über Sinn und Ziel des Darmstädter Mittelpunktes als Brennpunkt eines Weltimpulses, wie ich ihn mir 1930 vorstellte, gesagt.

Die spezifische Qualität jeder Lebens- genau wie diejenige jeder Kunstform hat ihren Seinsgrund darin, dass die gleichen Elemente in jedem Sonderfall als Teile oder Organe eines anderen Ganzen in Erscheinung treten. Im gleichen Sinne unterscheiden sich die verschiedenen Kulturen nicht durch ihren Inhalt, sondern durch die sonderliche Einstellung, welche das gleiche geistig-seelische Material von Fall zu Fall erfährt. Insofern bedeutete die Christianisierung des Westens zutiefst weniger den Sieg eines bestimmten Glaubens, als die Ersetzung der Grundeinstellung der Antike durch eine neue. Der antike Mensch hatte seinen Mittelpunkt in sich. Der Christ situierte das Zentrum seines Seins in einer Sphäre jenseits seiner selbst, zu welcher er sich hinnehmend-verehrend verhielt. Im Kapitel Heiligung des Buchs vom persönlichen Leben hieß ich die christliche Einstellung lunar im Unterschied von der heidnischen Solarität; im Kassner-Kapitel des ersten Bandes dieses Werkes verdeutlichte ich den Unterschied von Grundeinstellung zu Grundeinstellung durch den Vergleich mit Unterschieden in der Wellenlänge im Rundfunk: von jeder hört man mittels der gleichen Luftwellen anderes. Das bestimmende Zentrum des antiken Menschen war der Geist, dasjenige des Christen die Seele. Darum herrschen verschiedene Werte von Zeitalter zu Zeitalter vor, während die Elementartatsachen des Lebens allemal die gleichen bleiben.

Doch mit Renaissance und Aufklärung begann sich der psychische Organismus des Abendländers zu verändern. Sein innerer Schwerpunkt begann sich von der Seele zum Geist zurückzuverschieben; eine neue männliche Phase in seiner Geschichte setzte ein. Da der Übergang jedoch stufenweise verlief, merkten wenige die schon statthabende Veränderung. Schließlich, an der Schwelle des zwanzigsten Jahrhunderts, passierte Ähnliches, wie wenn sich langsam erwärmendes Wasser den Siedepunkt erreicht und das Wasser zu Dampf wird: es ereignete sich eine qualitative Veränderung. Plötzlich erschien nunmehr der traditionelle Zustand verjährt. Dementsprechend erlangten die zerstörerischen Gewalten innerhalb der Seele die Oberhand. Der Weltkrieg und die Weltrevolution — beides schicksalsgewollte Katastrophen kosmischen Umfangs, die durch keinerlei Handlungen und Unterlassungen einzelner Führer zu erklären sind — waren das Endergebnis. Seither versuchen die Menschen mit wechselnden Mitteln von Land zu Land den Weltzustand zu verbessern, indem sie das Problem von außen anpacken. Doch sie können keinen entscheidenden Erfolg damit haben, weil das sichtbare Chaos nur der äußere Ausdruck ist einer konstitutionellen Krise innerhalb der Seele. Wie in der Neuentstehenden Welt ausführlich gezeigt worden ist, liegt der Schlüssel zum Problem in der Tatsache, dass der Schwerpunkt im Menschen vom Unübertragbaren auf das Übertragbare ver-rückt worden ist, weswegen alle traditionellen Lösungen des Lebensproblems eben ihren Lösungscharakter verloren haben. In der Einführung zum Buch vom persönlichen Leben zeigte ich, dass es vor allem darauf ankommt, Geist und Seele dem durch Wissenschaft und Technik so außerordentlich erweiterten Lebens- und Wirkungsraum anzugleichen. Nunmehr sind neue Ansätze der Lebensgleichung und neue Lösungen erforderlich, sofern aus dem Chaos ein neuer Kosmos hervorgehen soll, und zwar im Sinn einer kaum weniger radikalen Neuerung, als die es war, dass die antike Welt zum Besten der Geburt der christlichen zu sterben hatte. Das Entscheidende bei dieser Krisis ist, dass die Menschheit zu einem höheren und schöpferischeren Verstehen gelangen muss, als es alles bisherige war, dass sie den Intellekt dem echten Geiste unterordnend, einen großen Schritt weitergelangen muss in der Richtung der inneren Unabhängigkeit und Selbstverantwortung; dass eine weitere Sympathie, als sie die traditionelle christliche Liebe verkörperte, die Beziehungen unter den in Raum und Zeit einander so nahe gerückten Menschen regieren muss. Endlich und vor allem, dass nur Seinskultur im Gegensatz zur herrschenden Könnenskultur, Verpersönlichung im Gegensatz zur Versachlichung eine Wendung zum Besseren einleiten kann. Allerletztlich aber gilt es, aus dem differenzierten Zwischenreich, in welchem sich der heutige sogenannte Gebildete verirrt und verfangen hat, zum Ursprung zurückzufinden, zu welchem Ende es alle vorhandenen Gestaltungen welcher Art auch immer zu durchschauen, zu durchstoßen und eine Existenzebene oberhalb ihrer zu begründen und auszubauen gilt. Alle diese Probleme aber müssen an der Wurzel angepackt werden. Über letzteren Punkt schrieb ich am Ende der Programmschrift Was uns not tut, was ich will:1

Aber liegen die Dinge wirklich so, dass die Lösung eines geistig-seelischen Problems, und sei dieses noch so fundamental, eine Wendung im Gesamtleben herbeiführen kann? Die Massen, die heute entscheiden, bekunden wenig Sinn für geistige Problematik überhaupt. Sehr viele Einzelne haben die Bewusstheitsstufe, die hier vorausgesetzt wird, noch gar nicht erstiegen. Kommt es daher nicht viel mehr, dem Geist dieser Epoche entsprechend, auf soziale Reformen und unmittelbare Massenveredelung an? — Es ist freilich wahr, dass auf geschwinde Beeinflussung der Niederung von der Höhe her heute weniger als jemals früher zu rechnen ist. Aber eine schnelle und zugleich nachhaltige Beeinflussung findet niemals statt; auf solche muss von vornherein verzichtet werden; sie gelingt auch den reinen Volksbeglückern nicht. Bei der Überwindung einer so gewaltigen Krisis, wie der heutigen, handelt es sich um einen jahrhundertelangen Prozess. Und da kommt es, unter Geführten wie unter Führern, niemals auf die Zurückgebliebenen, sondern auf die Vordersten an; zu allen Zeiten waren es Einzelne, ob Individuen oder Typen, auf deren Beispiel und Einfluss die Richtung, in welcher die Menschheit sich jeweilig fortbewegte, zurückgegangen ist. Jene Beispiele und Einflüsse sind, zur Zeit, da sie unmittelbar wirksam waren, oft kaum gemerkt worden. Aber ihre Wirkungskraft steigerte, ihr Wirkungsfeld verbreiterte sich, sofern sie stark waren an sich, im Laufe der Zeit. Nach Jahrhunderten, nach Jahrtausenden, nachdem ihr Historisches längst verflüchtigt, nachdem alles Faktische im Symbolischen aufgegangen war, erwiesen sie sich manchmal als schier allmächtig. Deshalb kommt es auf die Dauer nur auf die an, die ihrer Zeit voraus waren. Es liegt keinerlei Anmaßung in dem Glauben, dass die Lösung eines bestimmten, nur wenigen zunächst fasslichen geistigseelischen Problems durch einen kleinen Kreis die wichtigste Zeitaufgabe bedeutet, dass von einer neuen Typisierung der Anlagen, einem neuen Anlagetypus gar das Heil kommen kann. Es irren vielmehr die Vielen, die da glauben, dass das Ziel der Menschheitsvergeistigung in den Tiefen und nicht auf der Höhe zu fassen ist, wie notwendig und nützlich deren Bestrebungen im übrigen seien. Alle Entscheidung erfolgt auf der Höhe. Sie kann nur auf ihr erfolgen. Dem Nachweis dieses Sachverhaltes widme ich den letzten Abschnitt dieser Schrift.
Gleichwie der Schnittpunkt der Schenkel den Winkel bestimmt, dessen Größe keine Rundfahrt innerhalb dieser zu erkennen gestattet, und zwar desto weniger, je weiter man sich von jenem entfernt; wie jede Philosophie in ihrer ursprünglichen Fragestellung eindeutig enthalten ist, in vollendeter Ausgestaltung jedoch zu den verschiedensten Missdeutungen Anlass gibt: so ist das klare Erfassen des Urproblems einer Zeit der einzig mögliche Weg zu seiner endgültigen Lösung. Mit der Klarheit hat es nämlich eine eigentümliche Bewandtnis: sie bedeutet nicht allein den Höhepunkt des intellektuell Befriedigenden, sondern organische Krisenlösung. Probleme würden den Menschen nicht beunruhigen, ganze Zeitalter nicht unentwegt um die Wahrheit ringen, wenn es sich bei der Dialektik, die sich für die Vorstellung im Reich der Abstraktionen abspielt, nicht um die gegenseitige Auseinandersetzung wirklicher, das heißt lebendiger geistiger Mächte handelte. Darum handelt es sich in Wahrheit. Deshalb bedeutet richtige Problemstellung und -erfassung recht eigentlich gute Strategie, Problemlösung Kampfesentscheidung und die gewonnene volle Klarheit den erreichten Dauerfriedenszustand. Diesseits der Klarheit ist Entscheidung deshalb faktisch ausgeschlossen. Solange die Grundfrage einer Zeit nicht vollkommen deutlich erfasst ist und den strategischen Ausgangspunkt bildet, bleiben alle Heilversuche, desto mehr, je mehr sie aufs Ganze gehen, letztlich ziellose Massenbewegungen; solange jene als solche nicht gelöst ist, ist an Sieg nicht zu denken, desto weniger, je größer die im Spiel befindlichen Kräfte sind. Nur Massenmord im ungeheuersten Maßstabe kann erfolgen, und an der Grenze gegenseitige Vernichtung. Daher das letztlich Unbefriedigende aller Lehren, welche, richtig an sich, doch ihren Wesensgrund nicht anzugeben wissen: sie vermögen die Krisis nicht zu lösen. Sie haben ihren Ort in der Sphäre der Wirkungen, wo alles Schöpferische aus derjenigen der Ursachen stammt. Bei dieser nun handelt es sich um die Sphäre höchster Geistigkeit, jener Sphäre, die dem griechischen logos spermatikós entspricht. Von ihr, der Region ewiger Klarheit, kommt alle Entscheidung.
Von ihr allein kommt sie auch in dem Fall, wo, äußerlich betrachtet, Massenbewegungen siegen. Christentum und Buddhismus haben Welten erobern können, weil Gautama und Jesus nicht an die Massen dachten, sondern, nach bitterem Kampfe selbst zur Klarheit gelangt, in ihren Lehren letzte Entscheidungen verkörperten. Diese sind dann in einer immer wachsenden Anzahl von Seelen angeklungen, von innen heraus, einer dem Bewusstsein meist unzugänglichen, nur den wenigsten geistig erfassbaren Tiefe her, und auf die Dauer hat dann eine Verwandlung aller stattgefunden, die überhaupt in der Einflusssphäre der neuen Lehre lebten. So ist alle Entscheidung von jeher auf der Höhe gefallen und kommt daher. Wohl zieht das Unklare, das Vorläufige, zumal in Übergangszeiten wie der heutigen, weite Kreise an, weil es deren Zustande am besten entspricht. Eben deshalb wird es auch leichter verstanden als das Klare, aber es bewirkt nichts Wesentliches; oder wenn es doch etwas bewirkt, so liegt dies am prinzipiell Geklärten, das sich in der Unklarheit verbirgt. Solches gilt in vielen Hinsichten vom Sozialismus. So wird auch die lauterste Wahrheit immer missverstanden und wirkt doch fort, weil deren innere Leuchtkraft so groß ist, dass sie die dichtesten Hüllen, noch so gedämpft, durchdringt. Aber Entscheidendes bewirkt allein das Klare, klar erfasst.

Am hier Schnittpunkt des Winkels genannten ideellen Ort, an dem allein alle Entscheidungen fallen, steht die Schule der Weisheit. Ihr eines und einziges Ziel ist Neueinstellung des Menschen der neu erforderlichen vorgeschrittenen Seinsstufe gemäß. Nur Wurzelprobleme interessieren sie, nur im wörtlichen Verstande radikale Entscheidungen. Das heißt Entscheidungen, die den tiefsten Urgrund und Sinn und nicht irgend ein Oberflächliches und Abgeleitetes betreffen, — handele es sich um Sonder-Sinne oder Sonder-Erscheinungen. Darum interessiert sie sich für keine bestimmte Weltanschauung, keine bestimmte Konfession, kein bestimmtes soziales Programm als solche: sie interessiert sich einzig und allein für den Sinn, aus dem sich, gemäß den zwei Grundgesetzen des geistbestimmten Lebens, erstens, dass der Sinn den Tatbestand schafft und nicht umgekehrt, und zweitens, dass Sinn und Ausdruck in Korrelationsverhältnis zueinander stehen (das heißt jeder Sinn manifestiert sich vollkommen nur in ihm genau entsprechenden Ausdruck, und umgekehrt evoziert jeder vollkommene Ausdruck in dem, der ihn innerlichst erlebt, den ihm entsprechenden Sinn) alles Konkrete a posteriori ganz von selbst ergibt. Daher einerseits die Unbegrenztheit ihres möglichen Wirkungsbereiches, denn es gibt keinen Menschen und keinen Problemkreis, der nicht einer Neueinstellung in neuem Zusammenhange fähig wäre und diese gegebenenfalls benötigte. Daher andererseits die Unmöglichkeit, einen bestimmten Plan für ihre Wirkung im Voraus festzulegen. Methodisch geurteilt kann sie eigentlich nur improvisieren. Auf das rechte Wort zum rechten Menschen im rechten Augenblick allein kommt alles an. An großen und gleichsam objektivierten Veranstaltungen hat die Schule der Weisheit nur die großen orchestrierten Tagungen herausgestellt. Aber auch die waren ganz und gar auf das Persönliche von Persönlichkeiten bezogen, und ihr Sinn war nie die Herausarbeitung einer bestimmten Lehre, sondern die Schaffung einer Geistesebene oberhalb der bisher als letzte Instanzen geltenden bestimmten Weltanschauungen, welche Ebene aber nicht in der sachlichen Herausstellung, sondern von Fall zu Fall in den Seelen der aufmerksamen Zuhörer und Teilnehmer geschaffen wurde. Mehr brauche ich hierüber nicht zu sagen: wer sich ernsthaft für das Darmstädter Werk interessiert, dem steht ein reichhaltigeres Material zur Verfügung, als es wahrscheinlich je innerhalb so kurzer Jahre angesammelt ward. Die beiden Standard-Werke der Schule der Weisheit sind Schöpferische Erkenntnis und Wiedergeburt. Aber alles an mir, was der Einstellung des Weisheitslehrers entspringt, gehört dem gleichen Zusammenhang an; jedes Buch, jede Rede, ja jeder Brief, welcher geistig-seelische Problematik betrifft. Das für den Nacherlebenden vielleicht wichtigste Material enthalten die alljährlich von 1920-1927 als Veröffentlichungen, seit 1928 als Manuskripte ausschließlich für die Mitglieder der Gesellschaft für Freie Philosophie als Jahresgabe gedruckten Mitteilungen der Schule der Weisheit, Der Weg zur Vollendung.

Zum Schluss dieser allgemeinen Orientierung sei noch aus der 1919 geschriebenen Programmschrift Worauf es ankommt2 das Folgende zitiert:

Soweit Wesenheit in Betracht kommt, worüber freilich Erfahrung entscheidet, erklärt kein Bestehendes sich letztlich aus sich selbst; alle Notwendigkeit folgt hier letztlich aus den Möglichkeiten der Freiheit, gleichviel, wie es mit deren Äußerungen jeweilig beschaffen und wie deren Begriff letztlich zu bestimmen sei; unter Freiheit verstehe ich hier einfach die spezifische Äußerungsart des lebendigen Geists, welchem grundsätzlich Spontaneität eignet im Unterschied von der trägen Natur. Diese Einsicht, die ich an dieser Stelle nicht näher ausgestalten noch begründen will, ist nun für die Lebensanschauung von unermeßlicher Bedeutung. Wenn nämlich die Notwendigkeit aus den Möglichkeiten der Freiheit folgt, überall also, wo Wesen in Frage stehen, nicht die letzte Seinsinstanz bezeichnet, dann bedeutet das Wirkliche grundsätzlich nie ein Fatum, sondern gleichsam eine freiwillige Stillstandsgebärde inmitten des ewig flüssigen Schöpfungsstroms. Für alles Geschehen, was in der vom Menschen ergreifbaren Welt verläuft, verantwortet dieser mit — mag seine jeweilige Mitverantwortung noch so gering sein… Wir Menschen sind wesentlich frei. Aber da der Weg der Freiheit eigene Gesetze hat, so liegen für jeden, welcher an jeweils bestimmten Punkten ansetzt, nur bestimmte Möglichkeiten vor, von denen die, welche ins Reich der Wirklichkeit übertritt, sofort zur Notwendigkeit von Fatumcharakter auskristallisiert. Nachdem ein Entschluss gefasst, eine Entscheidung gefällt ist, entsteht jedesmal eine buchstäblich bestmögliche Welt. Jeden Tag mag dies jeder im Kleinen an sich selbst erfahren. Ihrem Urgrunde nach betrachtet, entspringen unsere Entschlüsse aus sich selbst heraus; die Tatsache des Wählenkönnens lässt sich nicht weiter ableiten, und sie allein genügt zur Fundierung des empirischen Freiheitsbegriffs, wie wir ihn hier verwenden. Kaum aber sind jene erfolgt, so setzt eine radartig sich fortwälzende, immer eindeutiger in bestimmter Richtung sich festfahrende Kausalreihe ein, von deren dichtem Zusammenhang die indische Karmalehre ein besseres Bild gibt als unser fadenscheiniger Satz vom zureichenden Grund. Zwar bieten sich fortlaufend neue Entschlussmöglichkeiten dar, allein der Ablauf des einmal aus dem Reich des Möglichen in das des Wirklichen Hinabgestiegenen ist nie mehr aufzuhalten. Deshalb ist es buchstäblich wahr, dass sich in jedem Augenblick ein Weltenschicksal entscheidet… Da wir Heutigen, in der überwältigenden Mehrheit, persönlich überhaupt nicht gewählt haben, so wirken sich im Großen bis auf weiteres, unter der Maske beliebiger neuer Programme nur alte Kräfte aus… Es ist, auf indisch gesprochen, durchaus noch altes Karma, das sich in Europas Geschichte amortisiert. Was heute neu aufzubauen wähnt, betreibt in Wahrheit Abbau; die überstürzten Reformen der letzten Jahre werden nicht mehr vermögen, als die Welt von gestern endgültig zu Grabe zu tragen. Wohl nimmt der Verstand mehr Möglichkeiten als je vorweg; es regnet Utopien. Aber zu Wirklichkeiten werden jene nicht früher gerinnen, als bis innerhalb des Webens der Geistesmächte eine Stillstandsgebärde gleichsam eintritt, dank der ein unter anderem Mögliches auf einmal vollkommen wirklich wird. Ist dieses geschehen, dann erst tritt ein wesenhaft Neues als Macht ins Leben ein.
Diese Verwirklichung kann nun ausschließlich im Körper der Persönlichkeit geschehen. Auf das Sein des Menschen, nicht das, was er vertritt, kommt es letztlich an, denn nur der persönlich lebendige Mensch ist möglicher unmittelbarer Wesensausdruck. Da der Sinn sich von innen nach außen zu, und nur so realisiert, was in jedem Fall persönliche Initiative verlangt, so versteht es sich recht eigentlich von selbst, dass die erforderliche Stillstandsgebärde durch nichts Unpersönliches bewirkt werden kann. Nur was persönlich der Ebene des Wesens angehört, ist der Natur überlegen, kann sie verändern, schließlich Schicksal schaffen. Nichts Äußerliches vermag dies, keine Einzelkraft, keine Vorstellung, kein Programm, denn diese alle gehören, als Gestaltungen, in jene hinein. Wo Wesen jedoch im Körper des Erscheinenden entsprechenden Ausdruck fand, beseelt diesen eine metaphysische Macht. Deren Exponent ist eben die Persönlichkeit. Aus dieser einen Erwägung erklärt sich deren überall letztlich den Ausschlag gebende Bedeutung, die Hoffnungslosigkeit aller Versuche, sie durch Einrichtungen oder Massenwirkungen zu ersetzen; diese eine Erwägung erklärt die Möglichkeit, die Kurven des Völkerwerdens zu aller Zeit, auch zu solcher angeblicher Massenherrschaft, durch wenige Persönlichkeitskoordinaten zu bestimmen… Somit liegt nicht allein das historisch sondern auch das geistig-seelisch Wichtigste in dem Umstand beschlossen, nicht allein dass eine Stillstandsgebärde innerhalb des Webens der Möglichkeiten eintritt, sondern welche erfolgt. In gutem Sinne bedeutsam wird nur die, welche die realen Kräfte der Zeit zu neuem entwickelterem Sinneskörper zusammenfasst. Nun können wir aber eine weitere Frage stellen: wann bedeutet die Erneuerung einen echten Fortschritt? Dann, und dann allein, wenn die neue Gestalt weitere und tiefere Erkenntnis zum Ausdruck bringt. Alle anderen Wandlungen bereichern das Leben nur; diese führt aufwärts.

Hiermit gelange ich zum Persönlichsten, was die Schule der Weisheit mir bedeutet hat. Von jeher sah ich die größte Gefahr für alles Menschliche und Menschenwürdige, für allen Geist, alle Seele und alle Kultur in der unaufhaltsam zunehmenden Sachlichkeit. Die Gefahr rührt daher, und ist darum wirklich Gefahr für Geist und Seele, weil Versachlichung einem Überhandnehmen der Welt der Künstlichkeit gegenüber dem ursprünglich-schöpferischen Leben zuführt, dieses Überhandnehmen zum Schicksal des Menschentiers gehört und darum, einmal begonnen, schwer aufzuhalten ist, wie zur Zeit am deutlichsten an der amerikanischen Unterordnung alles Organischen unter das Anorganische zu erkennen ist. Daher führt Versachlichung selbst bei bester und freundlichster Absicht und beim Weiterbekennen christlicher Ideale schicksalsmäßig der Entmenschung zu. Dies erklärt, warum Völker und Schichten proportional ihrer Primitivität einerseits, und ihrer Verhärtung andererseits, der Bolschewisierung oder Amerikanisierung zugänglich sind und hierin noch einen Fortschritt gegenüber dem Alt-Europäertum sehen. Die Sachlichkeit der Deutschen, in vielen Hinsichten der sachlichsten Europäer, wurde bisher durch geistige Interessen und letztentscheidende Gemütswerte balanciert. Andererseits übersteigerte sich deutsche Sachlichkeit schon lange an den groteskesten Ausdrucksformen. Zwei Beispiele dessen, pour fixer les idées. Einen Verleger hatte ich in ein Haus mit berühmt künstlerischer Küche eingeführt. Wie ich ihn nachher fragte, ob er das Mahl genossen hätte, erwiderte er: Ja, es war ein sachliches Essen. Und ein hoher protestantischer Kirchenwürdenträger baute eine Karfreitagspredigt auf dem Gedanken auf, dass man daraus, dass Gott Seinen eingeborenen Sohn hergab, seine grandiose Sachlichkeit spüre. Die unmissverständlichste Quittung auf die Höherwertung des Sachlichen gegenüber dem Persönlichen haben neuerdings die Terrorangriffe aus der Luft präsentiert, welche sachlich natürlich gerechtfertigt waren, denn Krieg ist Krieg, und der totale Krieg fordert logisch totale Vernichtung des Gegners. Demgegenüber hielt und halte ich es für die allerwichtigste Angelegenheit dieser Wendezeit, das Supremat des Menschlichen zu restaurieren, das z. B. die sonst so grausame Inquisition noch anerkannte, als welche mit größter Gewissenhaftigkeit um jede Seele rang, ehe sie deren sterblichen Leib — nicht etwa aus sachlichen Gründen, sondern zwecks Rettung jener — dem Henker überantwortete. (Hierüber wird im Kapitel Um das Individuum mehr und in einigen Hinsichten Abschließendes gesagt werden.) Wie ich das Darmstädter Zentrum gründete, tat ich es aus eigenster Initiative vor allem um der mir dort und damit gebotenen Möglichkeit willen, einen Mittelpunkt rein persönlichen Lebens und Wirkens zu bilden3 und diesen unabhängig von allen geltenden Vorurteilen auszugestalten. Polarisierung von Mensch zu Mensch, nicht Belehrung oder gar Erziehung wurde dort zum Hauptbildungsmittel; Ehrfurcht vor der Persönlichkeit und die Erkenntnis dessen, dass es letztlich überall auf das Wer und nicht auf das Was ankommt, zur Seele des Darmstädter Stils. Die Frage persönlichen Niveaus, nicht sachlicher Richtigkeit des Vertretenen war dort in allem letztentscheidend, der Wert des Zwischenreichlichen als solchen wurde grundsätzlich nicht anerkannt. Auf Spontaneität und innere Unabhängigkeit und Wahrhaftigkeit im Unterschied von sachlicher Wahrheit wurde von vornherein der Hauptnachdruck gelegt. Hauptsächlich deswegen folgte ich unbedenklich, obwohl ich ihn damals noch gar nicht kannte, dem Ruf des hochherzigen Fürsten, der mir die neue Heimstatt vorbereitete und später seine noch vorhandene sehr erhebliche moralische Macht zur Stützung meines Wirkens einsetzte; als echtem Fürsten standen Großherzog Ernst Ludwig von Hessen Ursprünglichkeit, innere Unabhängigkeit und Mut zu sich selbst hoch über allen Werten. Es ist kein Zufall, dass in der deutschen Geschichte das allermeiste Große und Großzügige Fürsten zu verdanken ist. Den rechten Sinn dieses Titels versteht man am besten, wenn man ihn auf das englische first zurückführt. In diesem Kasten- und Spezialistenvolk können Großzügigkeit, Überlegenheit und Weite nur so gedeihen, dass es Spezialisten und Fachleute eben dieser Eigenschaften gibt, und diese Facharbeiter haben sich von jeher als dermaßen tüchtig erwiesen, dass Deutsche in beinahe allen europäischen Ländern die Fürsten gestellt haben. — Doch dies nur nebenbei. Um dem Impuls zur Ursprünglichkeit und inneren Wahrhaftigkeit einen möglichst konkreten Körper zu schaffen — denn nur Bilder und Vorbilder wirken lebendig, nicht abstrakte Lehren — lebte ich mich selber denn in Darmstadt und von Darmstadt aus unbefangen in allen Hinsichten als das konkrete Wesen aus, das ich nun einmal war.

Überzeugt, dass alles und jedes zum Ausdrucksmittel substantiellen Geists gemacht werden kann und dass das sachlich Bestimmbare überhaupt keinen Eigenwert hat, so dass der Sinn aller Erscheinung von der Substanz der geistigen Persönlichkeit abhängt, die sich durch dieselbe manifestiert; überzeugt, dass der substantielle Geist das Letztentscheidende im Menschenleben ist und sein soll, richtete ich meinen ganzen Lebensstil so ein, dass alles gleich bedeutsam wirken konnte, ob ich nun schrieb oder schwieg, Versenkung trieb oder Reden hielt, höchsten Ernst bewies oder lachte und Witze machte, Bücher studierte und empfahl oder edle Geselligkeit pflegte. Mitten im Lärm der von engsten Motiven beseelten Parteikämpfe und Völkerkriege zweifelte ich keine Sekunde daran, dass wir am Beginn des Zeitalters des ökumenischen Menschen, also des weitsichtigsten und -herzigsten aller bisherigen Zeiten leben, zu dessen Machtergreifung jene furchtbaren Kämpfe eben die Schwelle bedeuten. Einseitigkeiten können nie mehr Gutem zuführen. Wer für weitere Zukunft leben will, muss auch schon über die Daseinsebene der meisten die heutigen Menschen spaltenden Polaritäten hinausgelangt sein, wie Geist und Fleisch oder allgemeine Materie, Mann und Weib, Oberfläche und Tiefe, sogar Krieg und Frieden — denn vom Standpunkt des Krieges gibt es kein besseres jenseits des Krieges und von demjenigen des Pazifisten kein jenseits des gerade erwünschten statischen Zustandes. Alle Probleme der letzten Jahrtausende, soweit sie einseitiger Fragestellung entsprangen, haben sich zu erledigen. Sogar die ökonomischen. Auch die Polarität Reich — Arm hat als bestimmendes Moment zu verschwinden, obgleich es natürlich immer Reichere und Ärmere geben wird. Im gleichen Sinne wird der Mensch, welcher in einer besseren Zukunft bestimmen will, polyphon zu sein haben im Sinne des Begriffs, den ich im Kapitel Polyphonie in Sur l’art de la Vie fundiert habe. Jeder Exklusivismus führt fortan dem Tode zu. Eben darum gilt es reichste Ausdrucksmittel für jedermann zu fordern und im Einzelfalle auszuwirken. In der Tat: je reicher die Ausdrucksmittel eines Geists, je freier und unbefangener er sich betätigt, desto tiefer kann er im Guten wirken. Denn unter solchen Voraussetzungen erweisen sich Fehler als ebenso fruchtbar wie Tugenden, Niederlagen als ebenso zukunftsträchtig wie Siege, denn alles steht im Dienste menschlichen Höherstrebens. Darum hat auch mein jahrelanges nicht-sichtbarwirken-Können, mein schweigen-Müssen, die Unmöglichkeit zu veröffentlichen genau so positiv, ja noch positiver im Sinne des ursprünglichen Impulses der Schule der Weisheit gewirkt, wie meine zeitweilige weltumfassende, weithin sicht- und vernehmbare Tätigkeit. Nur im Voll-Ausgeschlagensein, in der plénitude im absoluten Sinn des Wortes konnte und kann ich den Körper wahrer Weisheit anerkennen, ganz einerlei, was früher darüber gedacht und gelehrt worden ist; nur in der Weltüberlegenheit, wie sie in Schöpferische Erkenntnis geschildert steht. So habe ich mir nach und nach aus einer mir fremden Umwelt, ohne dass diese es merkte, die erschaffen, welche ich selber brauchte — in welchem Prozess ich mich freilich in Korrelation zu ihr selber äußerlich veränderte; in einer kleinen süddeutschen Residenzstadt und in sehr engen Verhältnissen lebend, konnte ich mich nur transponiert als baltischer Grandseigneur offenbaren. Dass ich mich im Ganzen doch sehr wenig zu verändern brauchte, erreichte ich dadurch, dass ich hauptsächlich mit Zugereisten verkehrte, für welche Darmstadt eben Keyserling war; hauptsächlich dank dem entwickelte sich Darmstadt immer mehr zu einem mir passenden Rahmen. Die Schwierigkeiten jedoch, welche ich dabei zu meistern hatte, und dies zwar auf allen nur möglichen Ebenen, verhalfen mir zur Realisierung eben dessen, was ich in Darmstadt an erster Stelle vor-leben wollte: zur Neuverknüpfung von Seele und Geist, dem Grundziel der Programmschrift Was uns not tut. In diesem Falle wurde die Schrift wirklich erfüllt.

Zum Abschluss der orientierenden Torso-artigen Zitate, deren alleiniger Zweck, noch einmal, der ist, den Leser zur Lektüre des Gesamtwerkes der Schule der Weisheit anzuregen — an sich könnte ich in diesem Kapitel ganze Werke von mir in extenso zitieren, insonderheit Die neuentstehende Welt —, sei aus dem gleichen programmatischen Aufsatz noch das Folgende angeführt, weil es erklärt, warum mir von vornherein so gar nichts daran lag, eine Dauerinstitution bestimmten Charakters zu schaffen4:

Der Fortschritt geht überall von Einzelnen, nicht von Vielen oder Massen aus, schon aus dem einfachen Grund, weil irgendeiner in jedem Fall der erste war. Wo es sich nun um Persönlichkeitsbildung handelt, da kann das Weiterwirken des zunächst einmalig-Einzigen nur darin liegen, dass eine immer größere Zahl sich auf ihn abstimmt, sich dem Einfluss seiner Seins-Art hingibt. Bei dieser Abstimmung spielt nun die Zeit die geringste Rolle. Dies gilt nicht allein in dem Verstand, dass die inneren Entscheidungen, auf die es ankommt, aus dem Zeitlosen stammen und deswegen aus keiner Zeit- noch Kausalreihe zu begreifen sind — im Fall der religiösen Bekehrung ist dies allbekannt —: bei den Typusänderungen, die allen Menschheitsfortschritt in musikalische Sätze abteilen, verschlägt es wenig, wie lange sie herausgestellt wurden. Erscheinungen von entscheidender Kulturbedeutung haben nie lange bestanden. Die griechische Höchstkultur hatte sich in wenigen Jahrhunderten überlebt und ist doch heute noch typusbestimmend für den halben Erdball; die Höhepunkte aller waren in großen Einzelnen verkörpert, und kein Leben währt lang. Aber dieser Gedankengang führt zu einer die Zeitbedeutung noch stärker einschränkenden Feststellung: innerhalb des Einzellebens sind es nur kurze Perioden, oft nur Augenblicke gewesen, auf die es für die Menschheit wirklich ankommt. Jesus soll drei Jahre gelehrt haben, sein Vorleben kommt nicht in Betracht. Das Wirken der langlebigsten Großen ging in der Regel auf Augenblicke der Inspiration zurück. Im übrigen aber haben kurze Anregungen zu aller Zeit die nachhaltigsten Wirkungen ausgelöst. Was bedeutet das? Es bedeutet, dass nur der Augenblick der Freiheit wesensschöpferisch ist, in welchem ein Mögliches gerade wirklich wird, also der Übergangszustand zwischen dem Noch nicht der Möglichkeit und der Routine, in welcher die Freiheit stirbt. Nur während der Mensch sich entscheidet, ist er frei; sobald er sich entschieden hat, ist er gebunden. Da Gleiches allein auf Gleiches wirkt, so vermag nur der Moment oder die Periode der Freiheit, die als solche Bewegtheit ist, eine Bewegung einzuleiten und als Beschleunigungsantrieb fortzuwirken. So hat es einen tiefen Sinn, wenn die Mythologie die Wirksamkeit aller entscheidend Großen auf Einzelszenen zurückführt. Aus dem gleichen Grunde kann kein Entscheidendes als solches zur Routine werden. Deshalb ist es ganz in der Ordnung und nicht als tragisch zu beurteilen, dass keine Kirche ihren Entstehungsimpuls festgehalten hat, dass jede Bewegung in ihrer Urform bald verjährt, dass jeder Neuerer, der nicht bald stirbt, sich überlebt oder gar ad absurdum führt. Bei jener Stillstandsbewegung inmitten des Werdens der geistig-seelischen Mächte, deren Eintreten den Fortschritt macht, kommt es letztlich nur darauf an, dass sie überhaupt statthatte. Alles Weitere bedeutet wenig. Deshalb kommt es bei der Erschaffung des neuen Menschentypus, die unsere wichtigste Zeitaufgabe ist, zunächst weder auf die Zahl seiner Träger an, noch auf deren Dauerhaftigkeit. Ihre Wirkung wird in ihrer inneren Bewegtheit bestehen, im Rhythmus ihres Seins. Dieser wird sich naturnotwendig fortpflanzen, in immer mehr Seelen anklingen. Ist ein neuer tieferer Grundton angeschlagen, so wird es bald kein Ohr mehr vertragen, dass die Melodien des Lebens auf alte abgestimmt bleiben. Aber der Augenblick seines Anschlagens ist wichtiger als die Zeit seines Klingens. Nur Bewegtheit zeugt fort. Die Routine erzeugt nichts. Deshalb kann man von allem Wesentlichen sagen: der zeitliche Tod zur rechten Stunde ist recht eigentlich der Unsterblichkeit Gewähr.
1 Jetzt in Schöpferische Erkenntnis, S. 162.
2 Jetzt in Schöpferische Erkenntnis, S. 90 ff.
3
An dieser Stelle bekenne ich gern, dass ich die ausschlaggebende Bedeutung ursprünglichen und persönlichen Lebens nicht so früh erkannt hätte, wenn ich nicht, dank einem Schwarm von mir in Heidelberg, schon im Jahre 1900 mit den Büchern und Zielen von Johannes Müller-Elmau (damals Mainberg) bekannt geworden wäre. Natürlich hätten wir beide nie zusammen arbeiten können und für meine Ziele hat er nie das geringste Verständnis bewiesen. Aber Johannes Müller war wirklich ein ursprünglicher Mensch, als solcher vollkommen echt, und wirklich ganz im persönlichen Leben zentriert; daher sein meiner Erfahrung nach durchaus segensreicher Einfluss. Nur war Johannes Müller nicht allein ursprünglich — er war ein richtiger Urmensch, als Typus noch älterer Prähistorie zugehörig als Frobenius; erschien dieser seelisch als nachgeborener Vertreter des Zeitalters des Sonnengotts und körperlich als Faun, so war jener als äußere Erscheinung geradezu Vor-Mensch. Und diesem Äußeren entsprach das Innere. Johannes Müller war von erstaunlicher Primitivität in allen Hinsichten — außer vielleicht in geschäftlicher — aber auch der Urmensch war wahrscheinlich schon ein guter Geschäftsmann. Er war von phantastischer Unsicherheit in der Beurteilung weiterer Zusammenhänge.
Dann ein recht eigentlich grotesker Übersteigerer der lutherischen Neigung, alles Geschehen als von Gott gesandten Lebensanspruch aufzufassen und passiv hinzunehmen — auch ein Zeichen geringer Be-Geistung. Ich wüßte nicht, zu welchem deutschen Schicksal er im Laufe seines langen Lebens nicht Ja gesagt hätte. Aber Johannes Müller war wirklich und tief religiös, sozusagen ein kleiner Religionsstifter im Sinne dessen, wie man von kleinen Propheten spricht. Und mit seinem Aufruf zum ursprünglichen und persönlichen Leben hat er gerade wegen seiner Primitivität zuerst das in mir anklingen lassen, was schließlich im Buch vom Ursprung seine von meinem Standpunkt vollendete Form gefunden hat. Abgesehen davon verdanke ich Johannes Müller (außer dem schon mitgeteilten Rat, meine Existenz auf Reden zu begründen) so manche Anregung hinsichtlich der Ausgestaltung meiner Darmstädter Pläne, und sei es auch nur in dem Verstand, dass mir in Elmau klar wurde, was in Darmstadt nicht geschehen dürfe. Es fehlte Johannes Müller z. B. jeder Sinn für Niveau, Rang, Haltung, sinnbildliches Leben, für Leben als Kunst und Meisterung desselben durch durchschauende Einsicht.
4 siehe Schöpferische Erkenntnis, S. 113 ff.
Hermann Keyserling
Reise durch die Zeit · 1948
II. Abenteuer der Seele
© 1998- Schule des Rades
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