Schule des Rades
Hermann Keyserling
Reise durch die Zeit
III. Wandel der Reiche
V. Um das Individuum - Massen
Nach allem Vorhergehenden wird es nicht allein mich, sondern auch meine verstehenden Leser merkwürdig anmuten, dass die ökonomische Frage je in den Vordergrund des Bewusstseins gerückt worden ist. Absichtlich drücke ich mich so aus, denn von Natur aus steht sie nicht dort und nur der Intellekt konnte sie dorthin stellen. Marxens Welterfolg beruht denn auch gar nicht auf den praktischen Zustandsbesserungen, zu welchen er direkt oder indirekt den Anstoß gab, sondern auf dem Eschatologischen seiner Gesinnung. Marx’ Voraussagen haben nicht anders auf die Seelen der Unterschichten und von ihnen her durch Ansteckung auf alle gewirkt, wie die Jenseitsversprechungen Christi; im gleichen Sinne spielt der Kommunismus im noch immer tief religiösen Russland psychologisch keine andere Rolle, als vormals die Orthodoxie. Rabindranath Tagore schrieb einmal, — an anderer Stelle zitierte ich diesen Ausspruch schon — keinen Menschen bedaure er mehr als den, who is cursed with a literal mind
: wer da Tatsachen, von Worten im Sinn von Wortlaut zu schweigen, letztlich ernst nimmt, kann ganz unmöglich irgend etwas tief verstehen; das Wesentliche und letztlich Wirkliche ist in jedem Fall der schöpferische Sinn, welcher dahintersteht und sich mehr oder weniger eigentlich ausdrückt. So sehe ich im ganzen Ökonomismus dieser Zeit einen Ausdruck von Missverstehen; eben darum ist er, welcher ausgesprochener als irgendein früherer Ismus größeren irdischen Wohlstand herbeiführen will, in Massenmord nie dagewesenen Ausmaßes, in beispiellose Verarmung und an schlimmste Zustände des Altertums gemahnende Versklavung eingemündet. Auf der Ebene des realen Lebens entspricht das Missverstehen nämlich dem Tod. Ich stehe durchaus nicht auf dem urchristlichen Standpunkt, dass man nur Gott oder dem Mammon dienen kann. Erstens lehne ich jedes Dienstverhältnis ab; nur Schenken erkenne ich als menschenwürdig an und so bedeutet mir auch das Opfer an die Gottheit Beschenkung dieser. Dann aber ist eine Verbindung von Tiefsinn mit Reichtum genau so möglich, wie die von jenem mit Armut1 und zweifellos ist es in allen Hinsichten besser, die Erfahrung aller Geschichte beweist es, wenn die Menschenordnung eine solche ist, dass Neid, Missgunst und Hass, die Möglichkeit zu welchen negativen Regungen in schlechthin jedem lebt, möglichst wenig Nahrung finden. Darum waren zu aller Zeit die Schichten, welche sich nicht unterdrückt fühlten, die Träger edleren Seelentums, soweit Gewinnstreben oder Geld- und Machtgier nicht zu Haupttriebfedern ihrer Natur geworden waren. Letzteres hat im großen Ganzen von genau so wenig Völkern und Schichten gegolten, wie denn Erpresser und Geizhälse im großen Ganzen selten sind. Was tatsächlich immer wieder vorgekommen ist und Aufstände gegen die jeweiligen Oberschichten gerechtfertigt hat, ist die Tatsache, dass jede feste Form zur Verhärtung neigt und darum von einem kritischen Punkte ab ihre edelsten Eigenschaften verliert; daher die Hartherzigkeit und Phantasielosigkeit vieler überalterter oder an die Gottgewolltheit ihrer privilegierten Stellung blind glaubender Geschlechter und Schichten. Dass das Streben nach ökonomischer Besserung je ein Elementarstreben gewesen sein sollte, ist einfach nicht wahr. Kleine Leute sind ursprünglich darauf eingestellt, sich zu bescheiden und mit übermächtigem Schicksal zu rechnen. Besser- und vollends Hochgestellte wollen typischerweise standesgemäß leben; sie empfinden sogar instinktiv Verachtung für den, welchem mehr-Haben Lebensziel ist: daher die geringe soziale Stellung, welche der Kaufmannsstand in allen aristokratischen oder spirituell gesinnten Gesellschaftsordnungen genossen hat. Die mittelalterliche Auffassung, dass das ökonomische genau nur die Rolle spielen dürfe, dass ein Mensch einen Anspruch auf standesgemäße oder seiner Leistung entsprechende Nahrung
hat, ist die für die überwältigende Mehrheit aller Menschen aller Zeiten normale. Um nichts anderes handelt es sich ja beim Gehalte jedes Beamten und Angestellten, von denen nur ein winzig geringer Bruchteil darauf aus ist, durch seine Arbeit reich zu werden. So hält sich auch der Bolschewismus, welcher Privateigentum nicht anerkennt, vor allem darum, dass er doch jedem Bürger das Recht auf seine Nahrung
zugesteht und sichert. Nur weil dem in Russland also ist, sympathisieren auf der ganzen Welt so viele, von denen man es nie erwartet hätte, mit dem Kommunismus. Ich weiß in der Geschichte keinen Fall, wo der Hunger der Vater besserer Neuordnung gewesen wäre. Alle Hungerrevolten, von welchen ich gehört oder gelesen habe, sind mühelos niedergeschlagen worden, einfach weil die Angst vor dem Verhungern der Primärausdruck der Ur-Angst und darum weniger als alles geeignet ist, Mut zu wecken. Zu allen Zeiten waren es weitsichtige Regenten oder aber weitherzige Geistige, welche zu einer Besserung des Gesamtzustandes den Anstoß gaben und ihn durchführten. Wo immer die Unterschichten als solche zur Macht gelangten, haben sie ihren eigenen ökonomischen und sozialen Interessen entgegengewirkt; die Gana ist eben blind und auch wo Intellekt ihr hellste Lichter aufsteckt, bleibt sie kurzsichtig. Die Frage irdischer Zustandsbesserung stellt sich wirklich erst vom Geist und von der Seele her und auf sie hin; es besteht kein Zweifel, dass materielles Elend jenen nicht zuträglich ist, das Wie und Warum können aber nur in erheblichem Grade Begeistete und Beseelte im Zusammenhange richtig übersehen. Dieser eine Satz erledigt, wie mir scheint, allen nur möglichen Ökonomismus endgültig. Noch das Folgende sei in diesem Zusammenhang bemerkt. Das primäre Interesse des Menschen überhaupt, genau wie dasjenige der Kinder, gilt nicht dem Nützlichen, sondern dem, was Freude bereitet. Das Prototyp alles begehrten Privatbesitzes ist nicht das Einträgliche, sondern das Schmückende. Wie enttäuscht war ich als Kind und Jüngling, wenn ich zu meinem Geburtstag oder zu Weihnachten Nützliches
geschenkt bekam! Genau gleiches bedeutet es, wenn das Ziel alles Strebens nach äußerer Zustandsbesserung das Erringen der Möglichkeit ist, sich Überflüssiges
leisten zu können, wozu an erster Stelle die Muße als Bedingung des sich-frei-ausleben-Könnens gehört. Solche, welche ihr primäres Bedürfnis nach nicht-Nützlichem direkt nicht zu befriedigen vermögen, leben es, sofern sie nicht so engherzig und phantasielos sind, dass jedes nicht-selber-Haben als erste Reaktion Neid auslöst, in anderen aus: im Bilde verehrter oder bewunderter Persönlichkeiten oder Oberschichten, welchen darum ein höherer Lebensstandard gern gegönnt wird, im Theater oder im Kino. Das bisher tiefste aller den Sozialismus betreffenden Bücher ist in dieser Hinsicht der Jugendroman H. G. Wells’ A new Machiavelli, dessen Held, der als radikaler Sozialist und Todfeind aller Oberschichten seine Laufbahn begann, als Bejaher der Notwendigkeit einer Gesellschaft endet, welche es nicht nötig hat, sich mit Nützlichem zu befassen und in all ihrer Betätigung dem Geist der Schönheit dient. Es bedurfte einer sehr hohen Entwicklung des reinen
das heißt von allem Irrationalen und substantiell-Geistigen abgelösten Denkens, um eine Weltanschauung ob ihrer Fähigkeit, praktische Bedürfnisse zu befriedigen, plausibel zu empfinden. Keine Religion der Erde hat deswegen Werbekraft besessen.
In Wahrheit gehen praktische Probleme den Geist als das letzt Wirkliche im Menschen primär überhaupt nicht an. Sie können es gar nicht tun, weil der Geist seinem Wesen nach zwecklos ausstrahlend ist. Darum hat der Appell an den Opferwillen sogar im ökonomischen Zeitalter unvergleichlich viel mehr Werbekraft bewiesen, als das Versprechen höherer Bezahlung. Und gerade das unbelohnte Opfer wird bejaht. Eben darum hat das Versprechen ewiger Seligkeit nach dem Tode, welche kein Lebender hat nachprüfen können, von allen Versprechungen die größten Wirkungen erzielt. Von der gleichen Psychologie lebt der Bolschewismus: weil es den allermeisten dort schlechter als jemals früher geht, wird das ökonomische Ideal als Jenseitsversprechen empfunden. Von diesem besseren Jenseits her wird auch dort die trostlose Gegenwart bejaht, genau wie bei den Urchristen, welche offensichtlich positiv zu ihrem verfolgt-Werden standen. Die Dekadenz des echten, nur geistbestimmten Christentums begann mit dem Triumph der Kirche. Aus dem gleichen Grunde, aus welchem die ersten Christen die äußerlich mächtigen Heiden nicht beneideten, beneidet der Sowjetrusse die hochbezahlten fremden Instrukteure nicht. Ja, gleiches gilt mutatis mutandis im Falle aller Weltanschauung von Werbekraft, welche die Gemeinschaft oder das Volk über den Einzelnen stellt und letzteren von vornherein ersterer opfert. Kein Geist-bestimmter Mensch kann eine äußere Gemeinschaft wirklich als oberhalb seines einsamen Selbstes stehend erleben. Aber jene sind ihm Sinnbilder für Überempirisches; daher ist es richtig im Volk, der Menschheit usw. ein Mystisches zu sehen. Insofern ist das Selbstopfer zum besten des Volks genau so sinnvoll, wie jedes religiöse Opfer; der Mensch opfert um des Opferns willen. Im gleichen Sinne lehren die Heiligen Schriften der Inder, dass der Wohlhabende um seiner selbst willen den Armen geben soll, weswegen er gar nicht erwartet, für seine Wohltätigkeit Dank zu ernten; wenn ich recht berichtet bin, so wird das Wort Danke
noch im heutigen Indien in spirituellen Zusammenhängen nicht gebraucht.
Aus dem Gesagten leuchtet ohne weiteres ein, dass der wirklich Geistige unmöglich praktisch sein kann, und erweist sich die allgemeine Meinung als berechtigt, dass er es eigentlich nicht sein darf. Wo geistbestimmte Völker sich gleichzeitig als praktisch groß erwiesen haben, so war es, weil die Primärausdrücke des Geistes, Mut und Glaube, und nicht Geschäftsinteresse bei ihnen vorherrschten und weil der Opferwille oder wenigstens der Wille zum Risiko über allem nehmen-Wollen bei ihnen den Vorrang hatte. Von hier aus versteht man, warum Gehorsams-Kultur noch nie zu politischer Größe großen Stils geführt hat. (Preußen war wesentlich klein und kaum wurde es groß, da verflüchtigte sich das Preußentum auf dem Wege einer geistig-seelischen Inflation.) Nur auf religiösem Gebiete hat die Gehorsamsforderung je Großes bewirkt, weil innerhalb der Religion der einzige Einzelne primär als letzte Instanz anerkannt wird und das geforderte sacrificium intellectus ac voluntatis darum frei-williges Opfer bedeutet. Ich beeile mich hinzuzufügen, dass bis zu einem gewissen Grade auch im Zusammenhang der Kriegführung Gleiches gilt. So sehr der Soldat äußerlich bloß zu gehorchen hat: von innen her besehen, opfert er doch freiwillig sein Leben. Darum geht jeder echte Soldat aus jedem gefahrvollen Kriege be-geisteter hervor, als er vorher war. Hier liegt für mich der eine positive Sinn des Krieges. In zivilistischem Zusammenhang als letzte Instanz anerkannter Gehorsam erzeugt nur Mangel an Zivilcourage.
Genau umgekehrt, wie hier geschildert und begründet, steht es bei allen primär und letztlich auf äußeres besser-Ergehen gerichteten Bewegungen (dies gilt, wohlgemerkt, von den Begründern des modernen Kapitalismus, den Puritanern, nicht, als welche wesentlich und letztlich religiös bestimmt waren; auf deren weiter verwalteter spiritueller Erbschaft beruht gegebenenfalls alle Überlegenheit der kapitalistischen über den sozialistischen Völkern). Diese stellen das Äußerliche über das Innerliche, und darum müssen sie individualitäts- und persönlichkeitsfeindlich sein. Hiermit gelange ich denn zur Grundthese dieses Kapitels zurück, nämlich zu der, dass der tiefste Beweggrund der sozialen Bewegungen dieser Zeit, die ihre Erfüllung in einer sozialistischen Ordnung irgendwelcher Art suchen und finden, weder im Siegeswillen der Arbeiterklasse noch im Aufstehen der Massen noch im Streben nach größerer ökonomischer Sicherung für jedermann noch in Billigkeitserwägungen noch im Ressentiment der Schlechtweggekommenen liegt, sondern in einer allgemeinen Reaktion gegen die im Prozess der wachsenden Be-Geistung des fortschrittlichen Teils der Menschheit erfolgte Individualisierung und Persönlichkeit-Werdung, die für die träge Gana viel zu schnell verlaufen ist. Selbstverständlich wird kein an dieser Bewegung intensiv Beteiligter dieser These zustimmen wollen noch auch können, denn das Streben der blinden Gana sucht sich in dieser wachen Zeit mittels idealer Forderungen durchzusetzen. Nichtsdestoweniger genügt eine sehr einfache Überlegung zum Erweise dessen, dass dem wirklich nicht anders wie geschildert ist. Ortega hat gezeigt, dass das Streben nach Klarheit, welches seit Descartes zum Leitmotiv der kommenden Jahrhunderte ward, zutiefst eine Reaktion bedeutete gegen die unerträglich gewordene Komplikation aller mittelalterlichen Zustände. Genau so bedeutet die Anerkennung des Primats des Sachlichen als des Inbegriffes dessen, was der Intellekt erfassen und in der Herausstellung verwirklichen kann, zutiefst eine Absage an die Persönlichkeit. Diese ist bei der Überzahl der heute Bestimmenden viel weniger entwickelt, als bei in früheren Zuständen Vorherrschenden. Bei der Überzahl der heutigen Menschen erscheint die Gana nur in geringem Grade vom Geist durchdrungen, oder aber sie hat diesen verleugnet; der Geist steht immer in Spannung zu ihr, alte Kulturschichten werden irgend einmal physiologisch müde (was zu Unrecht Entartung geheißen wird, Geist gehört überhaupt keiner Art
an und die meisten entgeisteten Vertreter alter Geschlechter sind sogar besonders gesund), weswegen sie gern in den Nomos unbegeisteter Zustände zurückfallen, oder gar von sich aus einen Zustand der Ungeistigkeit verwirklichen, desgleichen es früher nie gab. Daher denn die Bereitschaft zum Verzicht auf Selbstbestimmung, zum Gehorchen und zum organisiert-Werden. Die Gana als solche ist träge und will gezwungen werden. Die moderne Form des von außen her bestimmt- und gezwungen-Werdens ergibt sich aus der Unzahl der dank der industriellen Revolution existierenden Menschen und der besonderen Mentalität, welche das Arbeiter-Massen-Dasein schafft. Freilich sieht die Masse im Volk ihr nächstliegendes Ideal, aber wo Völker nicht natürlich gewachsen sind, können sie nur so entstehen, dass die Massen sich auf schöpferische Einzelne einstellen und sich von diesen formen lassen, sodass jeder Einzelne ohne es zu wissen in erster Instanz danach strebt, Werte zu verwirklichen. Lenins Begriff einer schöpferischen Kraft der Massen
, welcher dazu diente, deren Minderwertigkeitsgefühl zu heilen, war eine reine aber sehr kluge Fiktion. In Wahrheit strebt der Ordnungssinn der Massen einer Organisation zu, welcher derjenigen des Körpers im Unterschied von Geist und Seele entspricht.
Es ist bedeutsam, welche Rolle in dieser Entwicklung der Raum gespielt hat und spielt. Hegel behauptete, Geist könne sich nur in Städten entfalten; in weiten leeren Räumen erfolge zwangsläufig Entgeistung, womit er in bezug auf Amerika, auf welches hin er auch diese Bemerkung machte, Recht behalten hat. Auch bei Höchstbegabten wird der Geist nicht notwendig seiner selbst bewusst und die Nähe anderer Geister kann Latentes am ehesten zur Manifestation beschwören. Aber andererseits verhindert Überzahl und allzu nahes beieinander-Wohnen Begeistung, weil dieser Zustand das praktisch-Notwendige in den Vordergrund rückt und dem nüchternen Verstande die Oberhand schafft. Keine moderne Masse könnte Mythen erfinden; für Götter und Halbgötter ist in der überfüllten Großstadt und der vollbesetzten Fabrik kein Raum. Die wirkliche Existenz des hier aufgezeichneten Zusammenhangs beweist von früheren Zeiten her China, das erste nüchterne, von Nützlichkeitserwägungen bestimmte Großvolk der Geschichte; dass die Chinesen überdies anderes und mehr waren, lag an ihrer großen emotionalen Begabung, die sich in ihrem Familiensinn äußerte und ihrem unerhörten Schönheitssinn. Eben dank diesen verstiegen sie sich nie zu einer Weltauffassung, gemäß welcher das Sachliche über dem Persönlichen stände; darum blieben ihnen die Familie, ein eminent persönlicher Zusammenhang, das spirituell verstandene Moralische
und die schöne Form oberste Instanzen. Sachlich im modernen Verstande waren zuerst die Römer und dies zwar nicht aus Notwendigkeit und Schicksal, sondern dank ihrer so nie dagewesenen und nie wieder vorgekommenen Begabung für Juristerei. Letztere ist eine durchaus ungeistige Angelegenheit; sie hat es von Hause aus überhaupt nicht mit Gerechtigkeit, sondern nur eben mit Recht zu tun, der vom Verstande vorgenommenen gegenseitigen Abgrenzung zwischen anzuerkennenden Ansprüchen und verlangten Opfern zum Zweck ersprießlichen Zusammenlebens vieler Menschen; so könnte auch das gegenseitige auf-einander-Abgestimmtsein der körperlichen Organe als Ergebnis eines Prozesses gedacht werden. Die ungeheure geschichtliche und trotz aller Unzulänglichkeiten positive Rolle der Römer im gesamten Entwicklungsprozess der Menschheit ergibt sich daraus, dass das Rechtsgefühl zum Allerprimitivsten gehört, es daher heute besonders für Neger charakteristisch ist; dank einer phänomenalen Spezialbegabung wurden sie so zu Erweckern und klassischen Ausgestaltern dessen, was unbewusst oder wenigstens unartikuliert bei allen vorhanden war und ist2. Doch die Sachlichkeit der Römer blieb zu deren Glück im großen und ganzen auf die Sphäre des Rechtlichen beschränkt.
So sehr der nüchterne Verstand bei ihnen dominierte — von ihrem Unbewussten her lebten die alten Römer ähnlich den heutigen Engländern aus der lebendigen Erfahrung heraus und vor allem waren sie auf ihre Sonderart tief religiös. Gleich wie die chinesische Nüchternheit durch Schönheitssinn und Universismus
kompensiert wurde, wurde es die römische durch ihren Glauben an die Auspizien als primäres Rechnen mit vom Verstande nicht aufzulösenden über den Menschen hinausreichenden Zusammenhängen. Seitdem unsere bisherige Religiosität sich bei der überwältigenden Mehrheit verflüchtigt hat — charakteristischerweise sind es heute die Massen, die an gar nichts nicht Greifbares glauben; im XVIII. Jahrhundert waren es die Aristokraten — ist sachliche Nüchternheit zur Dominante des ganzen Zeitgeists geworden. Der nüchterne Verstand kann aber keinen Werten und Erwägungen gerecht werden, die nicht terre à terre sind. Es liegt eigentlich eine Anomalie darin, dass auch in heutigen Gerichtsverhandlungen Eigensucht und Gewinnstreben als gravierend und strafverschärfend beurteilt werden; denn das gesamte heutige ökonomisch orientierte Leben ist ja, im Gegensatz zu allem früheren, auf bejahtem Eigennutz fundiert. Auf die Bejahung des Nützlichen kommt es hier nämlich an. Ob hierbei die Gemeinschaft oder der Einzelne im Vordergrunde steht, bedingt keinen wesentlichen Unterschied; alles, was für das Volk oder die Klasse geschieht, deswegen allein schon gutzuheißen, bedeutet nur eine Inflation des Ich-Interesses oder eine dem Zeitgeist entsprechende Tarnung des durchaus egozentrischen Sachverhalts (ich kenne keine egoistischeren Menschen als die Vertreter der Jugend, die im Geist der Voraussetzung erzogen wurden, dass der Einzelne nichts, die Gemeinschaft alles ist) oder endlich den anerkannten Primat der Sache, das heißt eines nicht-Lebendigen gegenüber dem Lebendigen; alles Überpersönliche, vom nüchternen Verstande erfasst und formuliert, wird dadurch nämlich zur toten Sache; eben darum wird heute Liebe zur Sache ganz offen höher bewertet als Menschenliebe; die Gemeinschaft als solche hat weder Seele noch Geist.
1 | Vgl. den Vortrag Seins- und Könnenskultur, den ich am Gründungstag der Schule der Weisheit, am 23. 11. 1920 zu deren Eröffnung hielt, abgedruckt in Schöpferische Erkenntnis. |
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2 | Ich möchte hier auf H. S. Chamberlains sachlich Bestes hinweisen: das Kapitel Das römische Rechtin seinen Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. |