Schule des Rades

Hermann Keyserling

Reise durch die Zeit

I. Ursprünge und Entfaltungen

IV. Rudolf Kassner - Entwicklungsjahre

Am 6. Dezember 1905 veröffentlichte ich in der Beilage zur Münchener Allgemeinen Zeitung, die mir zuerst ihre Spalten öffnete — welch’ herrlicher Augenblick war es, da ich 1902 zum erstenmal, anstatt wie ich’s auf Grund reichlicher Erfahrung mit Sicherheit erwartete, mein Manuskript zurückgeschickt zu erhalten, aus München die Korrektur zu meiner ersten Arbeit nicht-geologischen Inhalts Priorität und Originalität zugesandt erhielt! Ähnliches Hochgefühl habe ich als Schriftsteller nie wieder gekannt! — am 6. Dezember 1905 veröffentlichte ich die folgende Arbeit über das gerade erschienene Buch Rudolf Kassners Die Moral der Musik:

Ohne Berücksichtigung der technischen Seite des Problems und dennoch gegenständlich über Musik zu schreiben, ist wohl das schwierigste aller Unternehmen. Denn es bewegt sich notwendig zwischen zwei gleichen verhängnisvollen Alternativen: entweder man versucht das Unaussprechliche in Worte zu fassen, oder aber man redet in Gleichnissen, deren Evidenz über einen sehr geringen Grad niemals hinausgelangt. Die Evidenz ist aber das einzig objektive Kriterium für den Wert und die Wahrheit einer Metapher. Über Musik in diesem Sinne zu schreiben, wird sich daher nur der große Dichter, der das Unsägliche wagen kann, erlauben dürfen; dem sachlichen Kritiker steht es keinesfalls zu. Nun gibt es aber auch Menschen, von denen das über Musik Gesagte mit gleichem Recht behauptet werden darf: Menschen von hoher Originalität, von glänzenden Gaben und großem Scharfsinn, welche gleichwohl, wie Kant sich einmal ausdrückte, nur sympathetische Verständlichkeit besitzen; die zwar unmittelbar gehört und intuitiv verstanden, doch nie eigentlich erklärt und noch weniger kommentiert werden können. Nimmt man ihnen ihre wesentliche Form, sucht man sie umzugießen oder gar zu übersetzen, so vernichtet man sie überhaupt: gerade wie es bei der Musik der Fall ist. Und fehlt jemandem nur das Organ, um sie tels quels zu erfassen, so müssen sie ihm, wie dem Unmusikalischen die Musik, auf immer ein Rätsel bleiben. Ein Mensch dieser Art ist Rudolf Kassner.
Aus diesem Grunde kann ich sein letztes Werk — obschon ich’s sollte — gar nicht besprechen. Es wäre ein hoffnungsloses Unternehmen. Das einzige, was ich tun kann, ist, einen Standpunkt aufzuzeigen, von welchem aus derjenige, der die richtige Attitüde Kassner gegenüber ahnt und dem nur der letzte Anstoß fehlt, um sie tatsächlich einzunehmen, an ihn wird herantreten können. Und dabei darf ich nicht einmal hoffen, ein größeres Publikum hierzu zu bewegen: wenn Kassner selber nur für die Allerwenigsten schreibt, so kann ein Kritiker, der ihn nicht gerade verunstalten will, unmöglich popularisieren. Auch ich wende mich daher nur an wenige; diese aber bitte ich, die Moral der Musik möglichst bald persönlich zur Hand zu nehmen.

Die Moral der Musik! Der Titel ist wesentlich; es ist nicht die Moral des Musikers, wenngleich es diejenige eines bestimmten, sehr eigentümlichen Menschen ist; es ist auch nicht die Moral der Musik im gewöhnlichen Sinne — dann wäre der Titel absurd, sondern allenfalls — da ich nun einmal explizieren muss — die Moral eines Menschen, dessen Leben Musik ist, aus reinster Notwendigkeit von innen heraus erwächst. Es ist die Moral aller Mystiker, es ist diejenige William Blakes — ja es ist meinetwegen sogar die Nietzschesche Moral. Und doch ist sie es nicht — und zwar aus demselben Grunde nicht, aus welchem bisher kein Mystiker darauf verfallen ist, eine Moral der Musik zu schreiben. Es hat eben noch keinen Kassner gegeben. Alle Mystiker haben gewissermaßen dasselbe gesagt — darum glauben platte Geister nicht selten, aus dem Verlagsprospekte alles Nötige über die reiche Gedankenwelt jener Männer erfahren zu können. Und doch ist keiner dem anderen gleich, weil die Art, wie er sich fasste und ausdrückte, bei jedem eine einzigartige war. Nimmt man einem Goethe alles Individuelle, Persönliche, so bleibt nur mehr das Abstraktum Mensch übrig — und in dieser Hinsicht sind gewiss alle Menschen gleich. Aus diesem Gesichtswinkel heraus kann eben Goethe nicht verstanden werden; indem man ihn entkleidet, tötet man ihn. Bei Goethe wird’s auch keiner versuchen; doch tun es alle unbewusst den Mystikern gegenüber, wenn sie, den sogenannten Grund- und Leitgedanken nachspürend, von allem übrigen absehen zu können wähnen: die Wahrheit, dass alle Mystiker dasselbe gesagt, ist eben nur unter der Voraussetzung richtig, unter welcher auch die Behauptung, dass alle Menschen gleich sind, gerechtfertigt erscheint; nämlich dann, wenn man ihnen ihre Persönlichkeit nimmt. Denn die Mystiker verkünden nur insofern immer dasselbe, als sie alle nur dem Tiefsten der Menschenseele Ausdruck verleihen; und im Tiefsten gibt es nur ein ewig-Menschliches, kein zeitlich-Persönliches mehr. Der Mystiker ist nur in dem Sinne einfach, naiv oder gar primitiv in seinem Denken, wie die Liebe etwas Einfaches, Allgemeines, in den Grundzügen ewig Gleiches ist: die Liebe ist eine Elementargewalt. Des Mystikers Denken ist eine große Leidenschaft, eine Lebensform, die den ganzen Menschen einfasst, ein so Wesentliches, Innerstes, dass es unmöglich erscheint, das Ganze aus einem fiktiven Teil heraus zu begreifen; man muss es als Ganzes auf sich wirken lassen. Kassner sagt irgendwo: der Mystiker denkt, wie er atmet: das heißt auch: sein Denken ist sein Leben, und das innerste Erleben ist ein so großes und tiefes und umfassendes, dass es, auf Begriffe abgezogen, nicht anders denn unbegreiflich einfach erscheinen kann. Aus all diesen Gründen müssen die Mystiker, so viele ihrer auch sein mögen, in letzter Instanz stets das gleiche verkünden; und darum erscheinen auch die Leitgedanken der Moral der Musik so einfach und selbstverständlich, dass der unkritische Leser sich leicht die Frage stellen mag, wozu denn der ganze schillernde und komplexe Apparat überhaupt nötig war? — Doch dieser Apparat ist eben keiner; er ist ebenso wesentlich wie der Leib in bezug auf die Seele, die Gestalt in bezug auf den Menschen. Wer Kassner verstehen will, der darf gar nichts abstrahieren; sonst bleibt ihm allenfalls der Begriff des Mystikers, jedenfalls kein lebendiger Kassner übrig.

So kommt denn alles auf die Art an, wie Kassner jene Grundmotive verwendet und formt und instrumentiert, die er im wesentlichen mit allen Mystikern gemein hat. Diese Art ist aber wirklich nicht leicht zu fassen. Und da ich nun damit rechnen muss, dass Kassners Schriften vielen meiner Leser gänzlich unbekannt sind, und ich mir selber die Fähigkeit nicht zutraue, ihren Stil — das Wort im weitesten Sinne verstanden — wirklich anschaulich zu charakterisieren, so will ich mich auf eines beschränken: die Hauptgründe dafür anzugeben, warum Kassners Denkart den meisten befremdlich erscheinen muss. Den Tatbestand möge sich jeder durch eigene Lektüre vor Augen führen.
Ein Hauptgrund für die Schwerverständlichkeit des Kassnerschen Denkens scheint mir seine Kunst zu sein, seine Begriffe ganz individuell zu prägen — individuell in dem Sinne, dass ein Wort bei Kassner zunächst nie den Sinn besitzt, wie ihn die große Mehrzahl ein für allemal annimmt. Was Kassner zum Beispiel unter Musik, Maske, Vernunft, Kultur, Christentum und hundert anderen, jedermann geläufigen Begriffen verstehen mag, das lässt sich erst durch genaues Studium seiner Schriften ermitteln — a priori in keinem Falle vorauswissen. Diese Eigentümlichkeit ist freilich irreführend. Das Wichtige ist nun, zu begreifen, dass sie an sich keinen Fehler bedeutet: jeder Schriftsteller operiert mit Worten, die alle Welt gebraucht; nur sind sie für den Meister keine ein für allemal bestimmten und etikettierten Realitäten, keine Symbole für fertige, unwandelbare Gedanken, sondern bloß das Material, aus dem er seine persönliche Welt erbaut. Der Stil besteht darin, dem Allgemeinen eine besondere, persönliche Färbung zu geben. Eine Satzfolge, die Goethe ausspricht, klingt doch wesentlich anders, als die Prosa eines Müller oder Schulze, obwohl beide sich der gleichen Worte bedienen, beide den gleichen Erkenntnissen Ausdruck verleihen mögen. Bei Goethe gewinnen dieselben Worte eben eine besondere, einzige Bedeutung; er versteht es, bei aller Klarheit und Gemeinverständlichkeit seine Begriffe dennoch individuell zu prägen. Das gleiche gilt im Prinzip von Kassner; und wenn derselbe Umstand bei diesem irreführend und häufig geradezu abstoßend wirkt, der einen Goethe in jedermanns Augen erhebt oder gar so selbstverständlich wesentlich kennzeichnet, dass er den meisten gar nicht einmal ins Bewusstsein tritt, so liegt das daran, dass Kassner als Persönlichkeit eine so spezielle, ja paradoxe Erscheinung ist, dass dieselben Eigenschaften, die bei universelleren Geistern als höchste Tugenden erscheinen, bei ihm leicht als Verzerrungen anmuten können, sobald man sich überhaupt auf Vergleiche einlässt. So muss man denn Kassners Ausdrucksweise notwendig als Vorzug gelten lassen, wenn anders man seine Persönlichkeit überhaupt anerkennt: denn sie beweist Stil genau im gleichen Sinne, wie ihn die größten Meister besaßen. Natürlich steht es jedermann frei, Kassner zu ignorieren; wer aber Stellung zu ihm nehmen will, der wird sich wohl oder übel zur Einsicht bekehren müssen, dass er zu den Naturerscheinungen gehört, die weder recht noch unrecht haben, sondern einfach da sind. Ist nicht auch die Musik im selben Sinne unverständlich wie Rudolf Kassner? — Nur wenige vermögen sie wahrhaft zu verstehen, denn ihre Sprache ist eine sehr besondere. Doch kann dieser Umstand nur dem völlig Beschränkten einen Einwand gegen sie bedeuten.
Ein weiterer — vielleicht der Hauptumstand, der dem Verständnisse Kassners im Wege steht — ist die spezifische Art seiner Dialektik. Die Dialektik ist nur dort wahrhaft erfreulich, wo sie rein intellektuell ist — ich nenne als extreme Beispiele Oscar Wilde und Georg Simmel. Bei Kassner betrifft sie ebensowohl Gefühl; es ist sozusagen eine Dialektik des Herzens. Bei jedem Mystiker sind die Gedanken zugleich Gefühle, denn sie sind der Ausdruck seines innersten Erlebens, seiner größten Leidenschaft; das Tiefste kann aber stets nur empfunden werden und darum waren jene in sich gekehrten Geister fast nie besonders glänzende Wortfechter. Wenn nun wirklich ein Mystiker entsteht, dem überdies die Fähigkeit subtilster Dialektik innewohnt, so wird diese notwendig sehr paradox erscheinen müssen, weil ihre leichtbeschwingten und wechselvollen Antithesen sich auf Gebieten bewegen, wo das Gaukeln eigentlich ausgeschlossen erscheint: die tiefsten Wasser sind gemeiniglich nicht die bewegten oder überhaupt nur beweglichen. Darum hat Kassners Dialektik etwas Befremdliches, Schwerverständliches; selbst wo sie sich anscheinend am spielendsten ergeht, wo sie bloß witzig sein will, empfindet man unwillkürlich einen dunklen, schweren Hintergrund, von dem sich die leichtflüssigen Gestalten an der Rampe nie völlig trennen, nie ganz plastisch abheben können.
Diese eigenartige Konstellation bedingt auch in tieferem Sinne Verhältnisse, wie sie einem bei keinem einzigen antiken oder modernen Geiste mit gleicher Deutlichkeit entgegentreten. Sie hängen damit zusammen, dass Kassner seiner Anlage nach wesentlich Philosoph, mehr Denker als Dichter ist. Er will wirklich erkennen; er hat die spezifische Gebärde des Weltanschauers, und alle die Probleme, die einen Kant bewegten, beanspruchen auch Kassners größtes Interesse. Nur bedingt seine eigentümliche Geistesrichtung eine Umformung der alten Erkenntnisprobleme, dank welcher sie völlig unkenntlich werden: jedes kritische Verhältnis wird ihm zu einem dramatischen. Was ein Kant in kühlstem Gleichmut, ohne die geringste persönliche Färbung durch Abgrenzung bestimmen und kritisch erkennen würde, das empfindet Kassner als Erlebnis, als dramatischen, oft tragischen Zusammenhang. Ein Beispiel: auf den letzten Seiten seiner Moral der Musik spricht Kassner in getragener Sprache von dem einzigen Erlebnis des Musikers. Es ist die Tragik, die darin liegen soll, dass der Künstler nie zugleich das sein kann, was er schafft. Darum sei jeder Stein im Grunde größer als er, denn der Stein ist alles das, was er überhaupt tun könnte. In diesem Sinne hätte Michelangelo den finsteren Savonarola beneidet, dieses Schicksal durchschüttere die ganze Wagnersche Musik; der Bruch zwischen Künstler und Werk, die niemals eins werden könnten, auf immer getrennt bleiben müssen, sei das ewig neue, unsägliche, namenlose Erlebnis des Musikers. — Gar viele haben sich über dieser Stelle gewiss den Kopf zerbrochen: von kleinlichem Neide kann doch nicht die Rede sein; es muss sich um etwas ganz Großes und Allgemeines handeln; und doch sind gewiss die wenigsten in der Lage zu begreifen, inwiefern die eigentlich selbstverständliche Tatsache, dass Mensch und Werk nicht ein und dasselbe sind, ein oder sogar das einzig tragische Erlebnis des Musikers bedeuten könne. — Ich will denselben Zusammenhang nun in Kants Denkart und in Kants Sprache transponieren: das Denken steht dem Sein gegenüber exzentrisch; Denken und Sein sind nicht eins, sondern sie stehen in einem solchen Wechselverhältnis zueinander, das jede Identifizierung ausschließt. Das Denken kann das Sein weder erschöpfen noch umschließen, sondern es bleibt stets außerhalb, an einem gleichsam exzentrischen Punkte, dergestalt, dass unsere Begriffe sich nie mit den Gegenständen, unsere Ideen sich niemals mit der Realität decken können und jedes konkret Erlebte oder Erschaute im Spiegel der Erkenntnis zu einem Abstrakten, also gänzlich Verschiedenen wird. Das ist eine kritische Erkenntnis. Für Kassner ist nun das gleiche ein dramatisches Erlebnis. Ich lege meine Hand ins Feuer dafür — sogar auf die Gefahr hin, dass Kassner selbst mir widersprechen sollte —, dass sein einziges Erlebnis nichts anderes besagt als die genannte kritische Erkenntnis. Für Kassner ist das Abstrakte eben ein Konkretes, das für Kant nur zu Denkende ein persönlich Empfundenes, die Kritik der reinen Vernunft ein Drama, ja eine Tragödie; und infolgedessen gewinnt der gleiche Zusammenhang in beiden Fällen so grundverschiedenen Ausdruck, dass die bloße Möglichkeit einer prinzipiellen Identität absurd erscheint. Und dennoch glaube man ja nicht, dass es sich hierbei um etwas Gewolltes, Willkürliches, um eine Pose handelt; es ist Kassners eigenste Natur. Dass jenes Verhältnis von Künstler und Werk oder Denken und Sein für ihn zu einem dramatischen werden konnte, beweist im Gegenteil, dass Kassner wirklich Philosoph ist: nur den Nicht-Philosophen lässt jenes Verhältnis kalt, nur ihm erscheint es selbstverständlich; einen Kant beunruhigte es im höchsten Grade. Und wenn Kant gleichwohl in größter Gemütsruhe über ein Problem reflektiert, an welchem Kassner geradezu leidet, so liegt das daran, dass Kant Kritiker ist; wogegen Kassner als Mystiker, dem überdies die ganze Sensibilität des modernen Künstlers innewohnt, nicht umhinkann, in allen kritischen Problemen ebenso viele Dramen zu empfinden und zu erleben. Das ist die wesentliche Paradoxie, die Kassner als Persönlichkeit kennzeichnet, dank welcher jede, auch die klarste Seite dieses Mannes in irgendeiner Hinsicht doch Kopfschütteln erregen muss. Künstler, die mit Gefühlen jonglieren, an Gedanken leiden und das Unaussprechliche dialektisch zu behandeln wissen, sind ja heute nicht gerade selten. Doch sie sind meist gänzlich uninteressant, weil der scheinbare Glanz ihrer Gaben nur von der Schwäche herrührt und die Nervosität und Hypersensibilität an sich ebensowenig dauernden Wert besitzt wie die Fieberphantasie oder der Opiumrausch. Kassner dagegen ist eine lebensprühende Persönlichkeit, bei allem Geist zugleich von großer Intensität — ein Mann, der alles eher denn dekadent ist. Und darum gehört seine Veranlagung, die aus den eigentümlichsten Kontrasten zusammengewebt ist, welche sich überhaupt vorstellen lassen, die den indischen Weisen und den Bajazzo, das Tiefreligiöse und das äußerst Frivole, den mittelalterlichen Mönch und den modernen Ästheten organisch in sich vereinigt, entschieden zu den interessantesten Phänomenen. welche unsere Zeit für sich anzuführen hat.

Das wären, dächte ich, die Hauptzüge, welche Kassners geistige Persönlichkeit von jeder anderen unterscheiden; zugleich diejenigen, die ihrem Verständnis am meisten im Wege stehen. Wen sie abstoßen, der lese Kassner lieber gar nicht; jedenfalls tut er besser daran, als wenn er die genannten Eigentümlichkeiten als Fehler objektiv kritisieren will: Naturerscheinungen spotten jeder Moral. Nur eines will ich in diesem Zusammenhang noch bemerken: wie speziell Kassners Veranlagung immer sein mag — seine Unnatur — ein Prädikat, das ihm häufig zuteil ward — steht der Natur jedenfalls näher als die billige Natürlichkeit mittelmäßiger Geister. Der ganz große Geist ist freilich immer Natur und insofern gemeinverständlich:

Geist und Kunst auf ihrem höchsten Gipfel
Muten alle Menschen an.

So spricht ein Goethe zu jedermann; Kassner nur zu den allerwenigsten. Und doch steht Kassners Exklusivität der Universalität Goethes näher als die sogenannte Klarheit des literarischen Mittelstandes: denn nach einem Gesetz, welches alles Lebendige beherrscht, sind es nur die Extreme, die sich berühren können. Allerdings bringt es die genannte Exklusivität mit sich, dass Kassners Denken zu keinen nützlichen Ergebnissen führt; es verhilft selten zu Einsichten, die jedermann zugute kommen, spricht nie das erlösende Wort, welches die Nacht in lichten Tag verwandelt, gibt einem keine Leitsprüche mit auf den Weg. Kassner erschaut die Welt in zu besonderer Perspektive, als dass er wirklich aufklärend wirken könnte; das, was ihm selbst am klarsten erscheint, wird doch nur den Wenigsten unmittelbar einleuchten. Die große Leidenschaft, die seinen Stil kennzeichnet, strömt aus und dahin wie Musik, nur augenblicklich rastend, nirgends verweilend, kraftvoll betonend und doch nichts eigentlich begründend. Von Kassner mehr als von irgendeinem an deren gilt das Wort Oscar Wildes: The artist never tries to prove anything. Wo er beweisen sollte, kann er doch nur wiederholen — ebenso wie der Musiker ein Thema nicht anders zu begründen vermag, als indem er es wieder und wieder anschlägt. Keine vielleicht von Kassners lebendigsten Einsichten darf als nützliche Wahrheit betrachtet werden; aber jedes, auch das schreiendste seiner Paradoxe wirkt anregend, befruchtet den empfänglichen Geist. Und in dieser Form wird Kassner auch in Zukunft weiterleben: nicht als Fundament oder Baustein einer späteren Kultur, sondern als Kunstwerk, welches, von vielen unbemerkt und den meisten unzugänglich, dennoch stets da ist, um den Wenigen, denen es wahlverwandt ist, wahre Freude und vielfältige Anregung zu gewähren.

Ich suchte diesen längst vergessenen Aufsatz wieder heraus, um darin bestätigt zu finden, dass ich Kassner nie wirklich verstanden hätte: dabei entdeckte ich jedoch, dass ich ihn damals jedenfalls sehr viel besser verstand als über fünfunddreißig Jahre später. Von 1901 ab, bis auf die Zeit von 1907 bis 1923, da wir offen verfeindet waren, sind wir stets, so oder anders, unmittelbar oder mittelbar, durch Freunde usw. in lebendiger Beziehung gewesen. Aber geistig sagten wir einander niemals viel. Was Kassner einmal in der Europäischen Revue über mich veröffentlichte, war richtig und gut, jedoch unwesentlich. Ich aber konnte ihn das letztemal, da ich ein Buch von ihm (es war das Buch der Gleichnisse) im Weg zur Vollendung anzeigte, 1934, nur mehr, wie Kassner selber sich ausdrückte, apostrophieren. Da schrieb ich:

Klages-Schüler pflegen Kassner und mich gern als Gegensätze zu behandeln: denen zu Nutz und Frommen sei gesagt, dass wir älteste Freunde sind und über die Bedeutung von Klages und seiner Schule nahezu identisch denken. Doch das nur nebenbei. Was ich hier sagen will, ist dies: Rudolf Kassner steht heute als einer der ganz großen Einsamen dieser Zeit da. Und so wird er weiter dastehen, von sehr wenigen verstanden, von wenigen gelesen, in alle Zeit. Das nahezu einzig Schwere und Tragische seines Lebensschicksals ist ihm jetzt, da er die Sechziger überschritten hat, zur Ausdrucksform einer ganz limpiden, herbstlich luziden Serenität geworden. Alles steht bei ihm am rechten Ort; Leben und Werk; der Schriftsteller, der glänzende Causeur, der klagelose Dulder sind jetzt eine einzige überaus eindrucksvolle Einheit. Kürzlich hörte ich ihn wieder einmal vorlesen: auch diese Kunst, welche er wie wenige meistert, gehört absolut zu ihm. — Aber freilich: vielen Menschen wird er nie verständlich sein. Ich nannte einmal den Buddha einen überlebensgroßen Exzentrik: exzentrisch steht auch Kassner zur normalen Menschenwelt. Worte, Begriffe, Sätze, Sprache überhaupt bedeuten ihm anderes als anderen. Seine Erkenntnisse sind nicht im üblichen Sinne übertragbar. Seine Sprache verhält sich zu derjenigen anderer ähnlich wie musikalischer Ausdruck metaphysischen Erlebens zu philosophischem. So muss man gleichsam musikalisch sein, um Kassner zu verstehen. Wohl dem, welchem die Gabe zuteil ward. —

Da ich wohl dem schrieb, meinte ich bedauernd mich selbst. Immerhin: 1905 verstand ich Kassner, möchte ich meinen, verhältnismäßig doch noch gut. Das lag daran, dass ich mich von 1901 bis 1905, jenen entscheidenden Entwicklungsjahren des Schriftstellers und Künstlers in mir, Rudolf Kassner vollkommen öffnete; damals tat ich alles, um mein Wesen am seinigen zu bereichern. Wie ich aber dann meinen eigenen Weg gefunden hatte, da erfolgte das, was ich im Falle jener Frauen, die ganz in ihrem Manne aufgegangen waren und diesen nun verloren, als das typische Phänomen des réveil de la veuve (nachgebildet der Wendung réveil du lion) bezeichnet habe: ich wurde desto mehr ich selbst allein und mein Unbewusstes lehnte fortan die Aufnahme des Fremden, welches einmal so tief auf mich gewirkt hatte, besonders energisch ab. So sah mein inneres Auge Kassner das letztemal, da ich mit ihm in Wien zusammentraf, 1937, nur mehr von ferne, und zwar wie einen, der seine Lebenskreise schon vollendet hat. Da schaute ich die sechsunddreißig Jahre, die ich innerlich mit ihm gelebt hatte, als unteilbare Einheit, und zwar als desto einheitlichere Einheit, als sein äußeres Leben in dieser ganzen langen Zeit kaum eine Änderung erfahren hatte. 1937 wie 1901 spazierte er täglich stundenlang, mehr mittels seiner mächtigen Schultern, die durch zwei Stöcke, welche die Arme verlängerten, direkten Kontakt mit der Erde suchten und fanden, als auf seinen leblosen geschienten Beinen durch die Straßen Wiens. 1937 wie 1901 wohnte er außerhalb seines eigentlichen Lebenskreises, doch in allen Salons war er zu treffen und in allen führte er das große Wort. Und noch zuletzt waren die ihm nächststehenden Häuser, soweit nicht durch Sterben aufgelöst, eben die, welche ihn zuerst empfingen. An allen Familienfeiern nahm er teil, alle neue Jugend aus altem Stamm zog er an sich heran. Im ganzen glich sein äußeres Leben dem eines geistreichen Abbés des 18. Jahrhunderts. Seine innere Distanz zu diesem Leben aber war so groß, dass es mit zu seinem Stil gehörte, dass die wenigsten der vielen, mit denen er umging, auch nur darauf kamen, anderes in ihm wahrzunehmen, als was er öffentlich zeigte; es waren nur seltene Einzelne. Und nicht zuletzt diese Vereinsamung war es, die seinen Geist von Jahr zu Jahr immer markanter erscheinen ließ. Das letztemal wirkte er auf mich, wie ein aus der ihm gemäßen Mythenwelt in eine Großstadt verschickter Faun.

So war mir Kassner eigentlich von jeher fremd, und mit den Jahren ist er mir immer fremder geworden. Nichtsdestoweniger führt mich rückblickende Zusammenschau meines Lebens auf dessen Persönlichstes hin mehr denn je zu dem Ergebnis, dass Rudolf Kassner nächst Chamberlain und Wolkoff die wichtigste Rolle in meiner geistigen Entwicklung gespielt hat. Nur war diese dermaßen anders gewesen, als üblicher literaturhistorischer Konstruktion entspricht, und trotzdem wahrscheinlich typischer hinsichtlich möglicher produktiver Einwirkung eines lebendigen Geistes auf einen anderen, dass ich dieses Sinnbild aus meiner Erinnerung besonders sorgsam zu behandeln mich verpflichtet fühle. Denn wahrscheinlich lassen sich die meisten wirklich wesentlichen Beziehungen geistiger Menschen untereinander eher in das aus meiner Beziehung zu Kassner abstrahierte Schema einordnen, als in die üblichen, die nur direkte Filiation oder persönliche Abhängigkeit oder sachliche Beeinflusstheit berücksichtigen. Doch um vollständig deutlich zu machen, was ich hier meine, muss ich sehr weit ausholen.

Hermann Keyserling
Reise durch die Zeit · 1948
I. Ursprünge und Entfaltungen
© 1998- Schule des Rades
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