Schule des Rades

Hermann Keyserling

Reise durch die Zeit

I. Ursprünge und Entfaltungen

V. Wolkoff - Wer war Wolkoff?

Wer war Wolkoff? — Ich habe keinen gekannt, der ihm wirklich gerecht geworden wäre. Und wahrscheinlich haben die Gegenbewegungen, die er nicht bloß unwillkürlich, sondern sehr oft auch absichtlich hervorrief, dies zu aller Zeit gehindert. Gar zu herausfordernd wirkte er mit seinen schonungslos offenen, meist beißend kritischen und immer paradoxalen Behauptungen und Urteilen. Er war innerlich unabhängig wie keiner, ohne jede Menschenfurcht, und was die anderen über ihn dachten, hat er wohl nie berücksichtigt. Zwar kannte er die meisten bedeutenden Menschen Europas seiner und der nächstjüngeren Generation; wirklich befreundet unter diesen war er mit den meisten großen Frauen seines Lebenskreises, so vor allem mit Eleonora Duse, und unter Männern, mehr oder weniger, mit Richard Wagner, Franz Liszt, Rubinstein, Paderewski, den Malern Whistler und Pettenkofen, den Dichtern Leo Tolstoi und Robert Browning. Doch wenn ich mich an die Urteile von deren überlebenden Freunden, welche ich selber gekannt habe, halte, so habe ich den bestimmten Eindruck, dass auch diese ihn nicht erkannt haben. Insbesondere gilt dies von den Wagners, welche sehr schlecht über Wolkoff sprachen, obgleich er in den letzten Lebensjahren Richard Wagners mit dessen Familie so intim war, dass er als erster zur Leiche vordrang und die Abnahme der Totenmaske durchsetzte. Wolkoff war als Grundsynthese, wie schon gesagt, ein extrem ausgeprägter russischer Grandseigneur von — was ich noch nicht gesagt habe — überdies leonardesker Begabung. Ich meine genau das, was ich sage: von keinem weiß ich seit der Renaissance, bei dem Zusammenhang von Künstler-, Forscher- und Kritikeranlage derjenigen, welche Leonardo da Vinci charakterisierte, so ähnlich gewesen wäre. Äußerlich stellte er geradezu den Idealtypus eines vornehmen Malers dar; wer da ein Auge hat für spezifisch slawisch-tatarische Schönheit, der musste ihn direkt schön finden. Wolkoff begann seine Laufbahn als Naturforscher. Sein außerordentliches Beobachtungsvermögen, gepaart mit einer gleich großen Fähigkeit zum analytischen Denken, stellte ihn schon als Zwanziger in die vorderste Reihe der Botaniker seiner Zeit. Allein äußere Umstände verhinderten ihn dann, seine so glänzende Laufbahn fortzusetzen. Er musste zurück nach Russland, um sich praktischen Aufgaben zuzuwenden. Einige Jahre wirkte er als Mirowoi Possriednik, als friedlicher Vermittler von Regierungsseite bei der Durchführung der von Alexander II. befohlenen Bauernbefreiung, und scheint damals seine menschliche Glanzzeit gehabt zu haben; denn sein Ruhm klang noch damals, wie ich Wolkoff kennenlernte, sowohl unter den Herren wie den Bauern nach. Nie wirkte er auch überzeugender, als wenn er von jener Zeit erzählte. So habe ich einen langjährigen Freund Wolkoffs, der ihn jedoch, wie die meisten, nie wirklich verstanden, ja nicht einmal je ganz ernstgenommen hatte, zur ersten Anerkennung seiner ungewöhnlichen Bedeutung bekehrt, da ich ihn einmal in einer römischen Osteria bei Fischgerichten und Frascatiwein stundenlang ausschließlich über die Jahre reden ließ, da er Mirowoi Possriednik war. Überhaupt führte ich Wolkoff gern, wie es ironische Freunde hießen, in Freiheit dressiert vor, das heißt, ich dirigierte sein Reden nach der Art eines Orchesterdirigenten wie später die Darmstädter Tagungsredner, und als Einzelpersönlichkeit vor allem Leo Frobenius, und wie besonders letzterer ließ Wolkoff es sich gern gefallen; er fühlte, dass ich ihm sein Bestes herauszustellen half und ihn vor Festfahren in der Wiederholung, vor Ausbrechen aus dem Zusammenhang und Entgleisungen ins unnötig Schockierende bewahrte. Wie Wolkoff nun, nach Beendigung seiner Tätigkeit unter Russlands Bauern, wieder nach dem Westen kam, um sich dort niederzulassen, da tat er’s als Maler. Er hatte, unbemittelt, eine Familie gegründet. Dazu war er auf nicht gewöhnliche Weise gekommen. Als Student hatte er einmal in Heidelberg eine Engländerin kennengelernt und sich mit dieser leichtfertig verlobt; bald darauf vergaß er sie. Sie aber vergaß ihn nicht, und wie er wieder in die Erscheinung trat, machte sie ihre Rechte geltend. Er erkannte die Verpflichtung an. Und wurde nun Maler, weil er gefunden hatte, dass unter seinen vielen Talenten das zur bildenden Kunst ihm zum anständigen Unterhalt der Seinen die meisten Möglichkeiten in Aussicht stellte. So legte er sich mit seiner ganzen eisernen Energie auf die Malerei und war bald einer der geschätztesten Aquarellisten seiner Zeit (die meisten seiner Bilder befinden sich, mit dem Pseudonym Russow gezeichnet, in englischem Privatbesitz). Er selbst freilich hielt niemals viel von seiner Kunst. Er behauptete immer, eigentlich hätte er gar kein Talent zur Malerei; was er darin leistete, verdanke er ausschließlich seiner kritischen Befähigung. Er liebte die Kunst der Alten viel mehr als seine eigene und gab das Malen (weit über ein Menschenalter später freilich!) leichten Herzens in dem Augenblicke auf, da eine Erbschaft ihn der materiellen Sorgen enthob. Wirklich ernst nahm er in sich nur den kritischen Analytiker; ihn beseelte eine echte und wahre Leidenschaft für die Feststellung des Wie und Warum; wie in allen Fragen, so auch in denen der Kunst. Diese Leidenschaft besonders ließ ihn Leonardo da Vinci nahe verwandt erscheinen, und überhaupt dem Renaissancemenschen als Forscher und Kritiker; wahrscheinlich bedingte hier sein Russentum — da ja des Russen Unbewusstes die Erfahrungen von Mittelalter, Renaissance und erster Aufklärung nicht als Erbschaft in sich trägt — eine Naivität und Frische des Interesses, die ein heutiger West- und Mitteleuropäer in bezug auf die Kausalität kaum aufbringen könnte. In der Zeit, da ich Wolkoff kennenlernte, ging er ganz auf in der Arbeit an einem monumentalen Werk, das er 1913 seitens der Officine del Istituto Italiano d’Arti Grafiche in Bergamo auf seine eigenen Kosten drucken ließ und welches, da er keinem Verleger die Verbreitung übergab und sich selber gar nicht um sie kümmerte, nie weiter bekannt geworden ist: L’à peu près dans la critique et le vrai sense de l’imitation dans l’art; dessen Hauptgegenstand betraf den Nachweis dessen, dass kaum ein Kunstkritiker je genau beobachtet, richtig gesehen, noch mit Begriffen gearbeitet hätte, die er auf Grund ihrer Gegenständlichkeit verantworten konnte. In den letzten Jahren vor seinem Tode schrieb oder diktierte er vielmehr — zum Schluss litt er an der typischen Alterskrankheit des Malers: einer so zitterigen Hand, dass er sie kaum überhaupt gebrauchen konnte — Memoiren, die eine Freundin ins Englische übertrug und 1928 bei John Murray in London unter dem Titel Memoirs of Alexander Wolkoff-Mouromtzoff herausbrachte. Über letztere will ich in diesem Zusammenhang, da sie durchaus zum Thema des im Tolstoi-Kapitel dieses Buches geschilderten russischen Barstwo gehören, nur soviel sagen, dass sie klarer als irgendwelche mir bekannte Erinnerungen eines Russen verdeutlichen, dass ohne Unstetigkeitsmoment kein Übergang auch nur denkbar war von der Höchstkultur der wenigen, welche das aristokratische Russland des 19. Jahrhunderts bestimmten, zu einer Kultivierung aller Russen. Die höchste Schicht gehörte nämlich dem Geiste nach noch ganz dem 18. Jahrhundert an; sie hätte also seelisch ein ganzes Jahrhundert überspringen können müssen, um sich Aufgaben des zwanzigsten gewachsen zu erweisen. Daher das schlechthinnige Ende der russischen Aristokratie. Dessen Unvermeidlichkeit erkannte Wolkoffs Geist denn auch sofort, wie dies ein in seinen Memoiren abgedruckter Brief an seine Kinder aus dem Jahre 1905 erweist, in welchem er begründete, warum er an der Liberalisierung Russlands persönlich nicht teilnehmen wolle: sie sei unter allen Umständen aussichtslos. Im gleichen Sinn beeindruckte es mich tief, wie er, der extreme Aristokrat des Ancien régime, noch 1927, wenige Monate vor seinem Tode, ruhig zu mir sagte, es sei doch wohl sehr möglich, dass das nächste Zeitalter kommunistisch sein werde. So ignorierte er, soweit sein persönliches Leben in Frage kam, die Nachweltkriegszeit. Er tat dies keineswegs in dem Sinn, wie dies zum Beispiel Goethe tat, aus Angst vor unangenehmen Eindrücken, sondern aus jener Härte heraus, die den imperialen Menschen positiv-russischer Artung nicht minder kennzeichnet wie Stalin. Die Schönheit des russischen Barstwo (näheres darüber wird der Leser im Tolstoi-Kapitel finden) konnte ja, so wie sie war, nur bestehen, weil die barbarischen Unterschichten unten gehalten wurden, gleich wie die griechische Kultur undenkbar ist ohne als selbstverständlich empfundene Sklaverei. So hielt Wolkoff auch nach dem Verlust fast seines ganzen Vermögens in Venedig seinen schönen Lebensstil bis zu seinem Tode durch und sah darin Wichtigeres als in der Unterstützung seiner Söhne: Die gehören der neuen Zeit an und sollen sich selber helfen! Sogar gegen seine Tochter, die ihm von allen Menschen am nächsten stand, welche allezeit um ihn war und der allein er beim Tode alles vermachte, war er aus gleicher Gesinnung hart. Sie musste den Plan einer Liebesheirat aufgeben, ganz seinen Zielen leben. Und es berührte mich pathetisch, als mir erzählt wurde, dass sie zuletzt, selber alt geworden, nachdem sie, vereinsamt, doch noch eine befriedigende Ehe eingegangen war, gleichsam verbissen Liebeslied auf Liebeslied komponierte. Doch hier sei schnell hinzugefügt, dass dieser harte Mann sehr tiefer Gefühle fähig war. Er liebte nicht nur seine Tochter auf seine Weise tief, er war nicht nur ein treuester Freund seiner alten Freundinnen, die er alljährlich in Zug-Vogelähnlichem sich gleichbleibendem Turnus aufsuchte, er war grandioser Liebe fähig. Das lebendigste Kapitel von Wolkoffs Lebenserinnerungen ist Eleonora Duse gewidmet. Doch da er das Wesentlichste an seiner Beziehung zu ihr verschweigt, so will ich den Schleier lüften, denn nur wer den wahren Tatbestand kennt, kann dem Menschen Wolkoff gerecht werden. Eleonora Duse ist von Wolkoff recht eigentlich gemacht worden. Er liebte sie leidenschaftlich, aus reiner Liebe ward er ihr erster Impresario, führte sie überall ein, beschützte sie, lehrte sie, die ursprünglich Unbändige und Unvorsichtige, Menschenkenntnis, Menschenbehandlung und geschäftliche Umsicht. Doch die Duse liebte ihn nicht wieder. Mit jener einzigartigen Selbstlosigkeit, welche vornehme Russen so oft in der Liebe beweisen, machte er sein bei-ihr-Bleiben und für-sie-Arbeiten nicht davon abhängig, dass sie ihn erhörte; doch es soll vorgekommen sein, dass er vor ihrer Türe schlafend gefunden wurde. So ging es lange Zeit, jedenfalls mehrere Jahre. Wie die Duse dann aber D’Annunzio verfiel, den Wolkoff nicht umhin konnte, aufs tiefste zu verachten, da zog er sich still und vornehm zurück, ohne ein einziges Wort zu sagen. Bis zu ihrem Tode lehnte er ein Wiedersehen ab. Dann jedoch erwies er ihr die letzte Ehre.

Auf Wolkoffs kunstkritisches Buch wird weiter unten etwas näher eingegangen werden. Tatsächlich aber kommt es bei ihm auf die Bücher als solche am wenigsten an. An sich sind sie nämlich nicht gut. Wolkoff war schriftstellerisch recht eigentlich unbegabt, und um das letzte zu sagen: keine Sprache sprach er wirklich gut, auch die französische nicht, die ihm die geläufigste war. Das hinderte aber nicht, dass er zu den glänzendsten Causeurs gehörte, die ich je gesehen; er war ein wunderbarer Florettfechter des Geistes. Doch um sein mir teures Bild wirklich lebendig zu evozieren, muss ich, auf Grund des bisher Gesagten, seine Persönlichkeit im Zusammenhang mit meiner eigenen Entwicklung evozieren.

Hermann Keyserling
Reise durch die Zeit · 1948
I. Ursprünge und Entfaltungen
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