Schule des Rades
Hermann Keyserling
Reise durch die Zeit
I. Ursprünge und Entfaltungen
V. Wolkoff - Sinneserfasser
Zur Erhärtung der Wirklichkeit dessen, was ich über die fördernde Bedeutung Wolkoffs für meine Entwicklung geschrieben habe, weise ich auf drei kritische Studien von mir hin, die zwar erst zwischen 1909 und 1911 entstanden, aber durchaus das Streben nach Verschmelzung des Intuitiven und des Kritikers in mir, welches das Sinnbild Wolkoffs, wie die Erfahrung beweist, in die richtige Bahn gelenkt hat, illustriert. Es sind dies die Aufsätze Zur Psychologie der Systeme
(geschrieben 1909, abgedruckt im Logos
), Die metaphysische Wirklichkeit
, Vortrag, gehalten auf dem III. internationalen Philosophenkongreß zu Bologna im März 1911 (abgedruckt in den Akten dieses Kongresses) und Das Wesen der Intuition und ihre Rolle in der Philosophie
(geschrieben 1911, abgedruckt 1912 im Logos
). Natürlich stellen diese Studien Vorläufigkeiten
dar — aber welche Erkenntnis ist nicht letzten Endes vorläufig? Es tut mir sehr leid, dass ich das Manuskript zu meinem zweiten Vortragszyklus an der Hamburger Universität (1911) Der Fortschritt der Metaphysik im Wandel ihrer Problemstellungen
im Wust meiner Papiere bisher nicht wiederfinden konnte; wenn ich mich recht erinnere, habe ich dort im ganzen wohl richtig den langsamen Weg zur denkgerechten Bestimmung des Gemeinten von Annäherung zu Annäherung skizziert. Im übrigen können vorläufige Erkenntnisausdrücke im selben Sinne dauerhaften Wert verkörpern wie Skizzen gegenüber ausgeführten Gemälden. Die drei Studien erweisen, wie mir scheint, mit besonderer Deutlichkeit, welche Auseinandersetzungen mir unterwegs zu meiner philosophischen Endgestalt des Sinneserfassers
zu Etappen wurden. Unter diesen Studien empfehle ich besonders diejenige über die Intuition, erstens aus Gründen, welche ich den verstehenden Lesern des Wolkoff-Kapitels nicht näher anzugeben brauche, dann aber auch darum, weil diese Studie gleichsam das Tor darstellt zu dem Gebäude, welches das Reisetagebuch vollendet; in der Tat schrieb ich sie kurz vor meiner Abreise nach Indien, und die Korrektur las ich unterwegs nach Genua, wo ich mich einschiffte, in Luzern, also nachdem ich die zwei ersten einführenden Abschnitte des Reisetagebuches schon niedergeschrieben hatte. Mit dem Vortrag Die metaphysische Wirklichkeit
hat es aber die folgende besondere Bewandtnis: mit ihm trat ich zuerst als Philosoph, im Wettbewerb mit anderen Philosophen, persönlich in die Arena. Dieses début bedeutete, obgleich ich als Redner völlig versagte, weil ich nur zu mir selber sprach und darum keinen Kontakt mit meinen Zuhörern fand, einen Erfolg insofern, als Benedetto Croce, der in Bologna als erster Philosoph Italiens die Hauptrolle spielte und der Sitzung präsidierte, mich, dem damals Fachkreisen beinahe Unbekannten, in seiner Einführungsrede betont als kommenden Mann
vorstellte, und Bergson, welcher sich sonst sehr zurückhielt, ostentativ gerade diesen Vortrag mit Interesse anhörte. Sonst aber erkannte ich in Bologna zum ersten Male abschließend deutlich, wie wenig ich in den Kreis irgendwelcher Fachleute hineinpasste. Sogar die Spezialität des Zimmerers allumfassendsein-sollender Systeme war mir zu spezialistisch. Ich erholte mich jeden Abend vom Übermaß des Ernstnehmens von Abstraktionen im Kreise geistreicher Italiener, unter denen ich vor allem den leider zu früh verstorbenen, sehr vielversprechenden und im besten Sinne alten Florentinertums ironischen toskanischen Philosophen Mario Calderoni und den erstaunlichen Lebenskünstler Carlo Placci nennen möchte. Seither habe ich nur noch zweimal ähnliche Veranstaltungen besucht: einmal in London, auf Veranlassung Bertrand Russells, wobei mich seine unbeschreiblich geistreich-ironischen Vorstellungen und Zusammenfassungen — er präsidierte der Tagung, die dem Problem des Gedächtnisses galt — freilich entzückten, die öde Fachsimpelei der übrigen aber entsetzte; während ich da wieder und wieder von vielen auf einmal das Wort memory ausgesprochen hörte, musste ich an das Rhabarber, Rhabarber der Chöre auf der Bühne denken, die durch dies Wort das sprechende Abbild von Volksgemurmel schaffen. Und für alle Zeit entmutigt war ich nach der Tagung der Kant-Gesellschaft zu Halle im Jahre 1920 oder 1921, da ich erlebte, wie sich die Professoren verschiedener Ansicht gegenseitig hanebüchen beschimpften — freilich, ohne dieses Geschimpfe sonderlich ernst zu nehmen — wie dies zu Zeiten Luthers üblich war, und die Komparsen, insonderheit die Zeitungskorrespondenten, mit einer blinden Leidenschaft für diese oder jene an sich belanglose erkenntnistheoretische Richtung Partei ergriffen, als handele es sich um Wettkämpfe zwischen Grünen und Blauen in Byzanz.