Schule des Rades

Hermann Keyserling

Reise durch die Zeit

I. Ursprünge und Entfaltungen

VIII. Städter und Urnaturen - Leben auf dem Lande

Nie hat mich intellektuelle Ehrlichkeit so sehr von der Bahn meiner eigenen Neigung abgetrieben, wie in diesem Kapitel. Denn persönlich empfinde ich als mehr als Sechzigjähriger die Stadt als ein mir noch Fremderes, als ich’s in meiner Kindheit tat. Auf meine langen Jahre städtischer Existenz sehe ich ähnlich zurück, wie eine glücklich verheiratete Schlossfrau auf ihre Pensionatszeiten: sie waren zur Bildung unerlässlich, bieten der Erinnerung auch manches, woran sie gerne haftet, zumal es — für mich wenigstens — überhaupt keine wirklich unangenehme Erinnerung gibt: gerade das seinerzeit Schwere und Schmerzliche, ja Furchtbare erscheint mir später allemal, schon wegen des Überstandenseins, in positivem Licht. Aber fremd, völlig fremd ist und bleibt mir die Städterexistenz. Das hängt gewiss auch damit zusammen, dass jeder Mensch im Alter in seinen Jugendtypus zurückzuschlagen neigt — eine Parallelerscheinung zu der, dass frühere Erinnerungsbilder in hohen Jahren immer leuchtender werden, während spätere immer schneller verblassen, falls sie überhaupt richtig bildhaft werden. Ein ländliches Heim besitze ich seit dem Verlust von Rayküll nicht mehr: komme ich aber nach dem mir nicht gehörenden, einer ganz anderen Tradition geweihten Schönhausen an der Elbe, dem Geburtsort Bismarcks, das meinem Unbewussten aber ein zweites Rayküll ist, dann fühle ich mich dort vom ersten Tag an heimischer als je in Darmstadt. Einzig und allein Paris fühle ich mich innerlich verbunden; diese Stadt allein bedeutet meiner Erinnerung anderes und mehr als eine Stätte bald und gern verlassener Bildung und Ausbildung oder der Unterhaltung. Das hängt aber wohl damit zusammen, dass ich mich selber in Paris zum ersten Male fand, dort zuerst ein wirklich eigenes Leben führte, zum erstenmal tief liebte und andererseits so ganz für mich leben konnte, wie dieses sonst nur auf dem Lande möglich ist. Denn das ist eines der vielen Arkana dieser einzigartigen Stadt: nie wird man dort gestört. An einem Tage in London oder Berlin begegnet man mehr Bekannten als in einem Jahr in Paris, wofern man sie nicht sehen will. Paris ist von einer buchstäblich märchenhaften Diskretion. Überdies hatte die provinzielle rue de Seine, in welcher ich von 1903 bis 1905 hauste, viel von der bedeutsamen Buntheit abwechslungsarmen Landlebens, wo darum der geringste Eindruck zählt. Jeden Morgen sangen die vorbeiziehenden Gemüse- und Altkleiderhändler, die Messer- und Scherenschleifer das gleiche, jeweils besondere Lied. Die gleichen Fledermäuse schwärmten tagtäglich frühnachmittags aus. Die gleichen Ladenbesitzer traten feierabends auf die Straße, und von nicht zum quartier gehörigen Passanten merkte man wenig. Londons berühmte privacy bezog sich ausschließlich auf das, was innerhalb der Häuser vorging, in Berlin aber, dieser geistigen Vorstadt Chikagos, gibt es überhaupt keine. Hier fällt mir denn ein, dass ich meinen Gegensatz zur Stadt wahrscheinlich nie so stark empfunden hätte, wenn ich als Romane auf die Welt gekommen wäre. Diese sind von Hause aus dermaßen sozial veranlagt — Ortega hieß den Mittelmeeranrainer Markt-geboren — und ein Leben zu vielen dermaßen gewohnt, dass dort einer den anderen kaum stört. Eben darum kennt dort kaum einer das nordische Einsamkeitsbedürfnis. Kurz vor dem Weltkrieg, in Rayküll, lachte ich sehr, als ich in Bertrands Buch über den Heiligen Augustin von dessen italienischer Periode las: völlig abgeschieden habe er dort gelebt; nur zehn Verwandte und einige zwanzig Freunde hätten seine Einsamkeit geteilt. Aber Augustin empfand diese für meine Begriffe Hauptbahnhof-gemäße Menschenansammlung wahrscheinlich wirklich als Thebais: so schlossen sich ja auch die Einsiedler der ägyptischen Wüste sogleich zu Klöstern, das heißt zu Kolonien zusammen. Der Sinn für buchstäbliche Einsamkeit scheint in Europa Differenzialmerkmal des nordischen Menschen zu sein. Dieser muss tatsächlich einsam leben, um, wie es in der Bibel heißt, seine Gebärde nicht zu verstellen. Romanen lassen in der größten Gesellschaft ihren Trieben freien Lauf. Einerseits sind diese an sich von vorneherein mehr auf andere bezogen — Ortega behauptet, der Mediterrane sehe sich so, wie andere ihn ansehen, der Deutsche sehe die anderen nicht — andererseits gilt dort gelegentliches Explodieren als nötiges Sicherheitsventil. Romanen beschimpfen und versöhnen sich in schnellstem Umsatz, mittels der Szene dringt Urnatur ins raffinierteste Salonleben ein und sprengt doch nicht den Rahmen. Der typische hochgezüchtete Nordländer kann gerade Szenen niemals vertragen und weniges verzeiht er schwerer. Lebt er in der Stadt, dann verzichtet er auf Befriedigung seiner Elementartriebe. Eben darum haben die nordischsten unter den Nordländern, die Briten, um sie selbst zu bleiben, sogar in der Stadt ihren Landbewohnercharakter kultiviert und ist es aller Ideal, nicht in der Stadt zu leben. Während in Italien zum Beispiel sogar die Aristokratie wesentlich urban war. Hierher rührt wohl die von den alten Kulturvölkern des Mittelmeerraums in die Welt gesetzte und von deren Nachkommen noch heute festgehaltene Vorstellung, dass die Nordländer Barbaren seien. Viele von ihnen waren schon damals nichts dergleichen. Aber der Romane, wie vormals der alte Grieche und Römer, empfindet schon nichtstädtische, nichturbane, nichthöfliche Mentalität als barbarisch.

Ja, das einsame Leben auf dem Lande hat unbedingte Vorzüge. Nichtsdestoweniger ist offenbar — das scheint mir dieses Kapitel bewiesen zu haben — die Stadt und das Städtische des Menschen Schicksal, so wie der Termitenhügel das Schicksal der ursprünglich freibeweglichen Stammherrin desselben ist. Denn worauf es hier ankommt, ist nicht das Spezifikum der Stadt, sondern die Veränderung der Natur zum Zweck ausschließlich menschlicher Bedürfnisse und die Schaffung einer ausschließlich menschenbestimmten Atmosphäre. So ist schon der Garten städtischen Wesens. Will man die Bezeichnungen wirklich richtig stellen, was niemals ohne Stilisierung und damit nie ohne Übertreibung gelingt, dann muss man die Stadt unmittelbar der wilden Natur gegenüberstellen und Domestikation jeder Art der Zivilisierung gleichsetzen. In eben diesem Sinn bezeichnete ich im ersten Kapitel dieses Bandes die Hausgans, im Gegensatz zur stolzen freien Wildgans, als Prototyp der kleinstädtischen Klatschpastete. Ich nun ent-domestiziere mich mit fortschreitendem Alter ohne Frage, anstatt in irgendeiner Art von Domestizität meine Endlebensform zu finden. Wilde Tiere werden mir dementsprechend immer vertrauter, obschon ich sie selten mehr zu Gesicht bekomme, nur dass es jetzt aus irgendeinem Grunde Wassertiere sind, deren Anblick mich am tiefsten berührt; vom Anblick eines Fischmarktes am Meer kann ich mich kaum mehr losreißen. Und ich empfinde es beglückend, dass mich die Kinder, denen ich in fremder Umgebung begegne, immer häufiger als Naturgeist apostrophieren: im Winter als Weihnachtsmann oder Nikolaus oder Knecht Ruprecht, im Sommer in deutschen Berggegenden als Rübezahl, am Mittelmeergestade als Neptun. Auch die Ehre der Verwechslung mit dem Gotte Pan ist mir bereits zuteil geworden. Und wirklich: dem, was diese Wesen mir vorstellen (und wohl auch denen vorgestellt haben, die an sie glaubten), fühle ich mich fortschreitend verwandter und zivilisierten Menschen dementsprechend fremder. Immer geringer wird mein Verständnis, immer unwilliger meine Toleranz für jenes Zwischenreich, welches das exklusive Reich des Menschen ist und dessen Skelett die Stadt darstellt. Woran liegt das wohl? Offenbar daran, dass mein persönlicher Integrationsprozess immer mehr zu einem Rückzug auf das Elementare und damit den Ursprung wird — den Ursprung sowohl in der Richtung der Natur als in der des Geistes. Was den Rückzug auf erstere betrifft, so bedeutet er seelisch sozusagen Rückzug in meine Jugend. Kürzlich — diese, Jahre nach Niederschrift des Kapitels eingeschaltete Satzfolge, schreibe ich 1944 — las ich ein Buch über Patagonien: anstatt dass das dortige extrem unkultivierte und ungeistige Leben mich abgestoßen hätte, ergriff mich gerade wilde Sehnsucht nach ihm. Und damit fiel mir ein, dass ich als Kind und Jüngling mit besonderer Leidenschaft alle damaligen Schilderungen von Nordpol-Reisen las, meine Zukunft als Forschungsreisenden-Existenz in wilden Gegenden vorstellte, mich allen wilden Tieren verwandter fühlte als Menschen, ja insgeheim — damals durfte ich’s nicht sagen — rohes Fleisch zubereitetem vorzog. Zu schweigen von meiner noch heute fortlebenden Vorliebe für wilde Tiere und deren instinktiver Sympathie für mich…

Seit den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts gelangt die Silbe Ur in Deutschland immer mehr zu Ehren; es ist sogar ein neues Adjektivum urig gebildet worden. Allein noch sah ich keinen urigen Deutschen außer mir, und gerade um meiner Urigkeit willen werde ich, scheint mir, so häufig undeutsch gescholten. Der heutige Deutsche ist, in der Tat, typischerweise der domestizierteste aller Europäer, ganz unabhängig davon, in welchem Grade er jeweils zivilisiert ist. Der disziplinierte Soldat, dem Exerzieren wichtiger als Kämpfen dünkt, ist der domestizierte Krieger, woraus Ángel Ganivet, echt spanisch, den Schluss zog, dass Militarismus und echt kriegerischer Geist einander ausschlössen; der waidgerechte Jäger ist der domestizierte Waldmensch, ja, es ließe sich ein geborener Mörder vorstellen, der den Henkerberuf ergreift und dabei nur an saubere Arbeit denkt. Ein deutscher Bekannter erklärte mir die Antipathie für deutsche Härte und Grausamkeit, wo solche vorliegt, gegen der allgemein gedeckten russischen, nicht unrichtig folgendermaßen: dass ein wilder Bär reißt und mordet, findet jeder nur natürlich. Wenn jedoch ein erstklassig geschulter Tanzbär plötzlich ins Publikum ausbricht, dann ergreift die Welt Empörung.

Der Deutsche wäre der Zwischenreichsmensch par excellence, wenn er letzteres in allen Hinsichten wäre: jedoch ihm fehlt das unmittelbare Feingefühl für die Bedeutung des Menschlichen im Unterschied vom Sachlichen, ihm eignet bei höchster Begabung selten das, was der Amerikaner social intelligence heißt — eine Intelligenz ganz anderer Art als die abstrakte, ganz auf menschliche Beziehung eingestellt, die aber im Verkehr zwischen Menschen und Völkern die entscheidend wichtige ist; was man beim Deutschen Mangel an politischem Sinn heißt, ist in Wahrheit Mangel an social intelligence, denn gute Politik ist nur bei primärer Berücksichtigung des subjektiv Menschlichen zu machen. Aber so wenig ursprünglich höfisch der Deutsche sei — daher das Sprichwort, der Deutsche lüge, wenn er höflich ist — so wenig urban: Zwischenreichsmensch überhaupt ist er mehr als irgendein anderer. Darum spielt die Leidenschaft in der Struktur seiner Seele eine so geringe Rolle, darum liegt ihm dermaßen an Ordnung, dass ich mir einmal das Witzwort zu prägen erlaubte: mag sonst das Chaos das Ursprüngliche sein und der Kosmos das Letzte, beim Deutschen liegen die Dinge umgekehrt. Gerade die deutsche Urnatur ist ordnungsliebend. Während des zweiten Weltkrieges vernahm ich zur Melodie eines herrlich wilden alten Landsknechtliedes Worte des Sinnes: Wir ziehen in alle Lande, um dort Ordnung zu schaffen. Schon der Vandalenkönig Geiserich war dem modernen Deutschen als Organisator ebenbürtig. Die Vandalen waren ein berühmt wasserscheues Volk. Geiserich beschloss, sie zu einem Volk von Seefahrern umzuprägen, damit ihnen die Überquerung der damals für sehr gefährlich geltenden Syrte zwecks Eroberung Afrikas gelänge. Tatsächlich gelang diese Überquerung nach einigen Jahren systematischer Schulung so vorzüglich, dass sie überhaupt ohne Verluste abgegangen sein soll. Bei der ganzen Völkerwanderung, jedenfalls im Falle der Süditalien-Züge habe ich den Eindruck, dass sie nach einem genau ausgearbeiteten Plane erfolgte. Nein, der Deutsche ist längst schon alles eher als ein Naturmensch, und Urmensch war er zuletzt wohl in der Zeit, von der die germanischen Sagen künden. Daher die beispiellose Rolle, welche bei ihm Sollvorstellungen, sachliche Erwägungen, Weltanschauungen und Dogmen spielen. Spontaneität spielt bei ihm eine äußerst geringe Rolle und Instinkt überhaupt keine. Auch das große Naturverständnis des Deutschen ist nicht das des Naturzugehörigen, sondern das des Naturzähmers. Daher die Wunder des Tierparkes von Hellabrunn. Daher das einzigartig Vollkommene deutscher Tiergärten. Daher der so phantastisch kultivierte deutsche Wald, welcher mir, der ich einstmals gleichfalls viel Waldkulturen schuf, jahrelang der Greuel aller Greuel war, weil der deutsche Wald nicht das ist, was ich anstrebte. Ich, hierin dem Beispiel meines Vaters folgend, kultivierte den Wald im Sinne dessen, wie Alt-China die Moralität verstand: Moralität sei gebildete Natur. Und das will sagen, dass die Natur dem Menschen nicht zu bloßem Material für Kunst oder Kunstersatz geworden wäre oder zu werden hätte, sondern dass sich Natur als Natur in der Kultur erfüllte. So sind auch noch japanische Gärten gemeint, wenn auch schon selten tatsächlich angelegt. Die Domestikation, welche den deutschen Nutzwald erschuf, erfüllt die Natur nun nicht, sondern sie drillt sie zu Nutz und Frommen des ausbeutenden Menschen. Ebensowenig kann eine Kuh, welche das Siebenfache des normalen Milchvolumens gibt, als Erfüllung der Kuhidee gelten und schon gar nicht die Straßburger Gans, deren künstlich erzeugte Leberinflation die bekannte Pastete ermöglicht. Heute ist mir endgültig klar: der Sinn der Natur für den sich nun einmal schicksalsmäßig verstädternden Menschen — und lebe er in Gartenstädten, in denen hundert Kilometer Abstand von Haus zu Haus besteht — liegt einzig und allein in der wilden Natur. Dieser nun fühle ich mich, je näher ich meinem geistigen Ziele komme, desto näher und näher verwandt.

Es ist nicht leicht, sich in klaren und dabei richtigen, der Kritik standhaltenden Begriffen Rechenschaft darüber zu geben, wie sich die Stadt, des Menschen Schicksal, zur Urnatur verhält, aus welcher all sein Leben und all sein Schöpferisches hervorgeht. Aber vielleicht ist die folgende Parallele, die ich eben nur als Parallele hinzeichne, nicht ganz falsch. Sehr viele Geschöpfe, deren organisches Schicksal das Aufgehen in einem den einzelnen allseitig einschränkenden Kollektivum ist — das gilt vom Moos, von Korallenpolypen, ja vom menschlichen Spermatozoon —, beginnen ihre Laufbahn als freibewegliche Individuen. Bei den Termiten, deren Hügel offenbar dem menschlichen Gesamt­organismus entspricht, ist wenigstens die Königin, die später als des Hügels unbewegliches Gehirn und Mutterschoß zugleich fungiert, ursprünglich einer freien Persönlichkeit vergleichbar. Der Mensch wird nun als individualisiertes Naturwesen geboren. Ursprünglich sind alle Menschenkinder urig durch und durch und so schöpferisch, wie es nur der höchstbegabte Erwachsene bleibt. Erfüllen sie nun ihr organisches Schicksal, wie dies die ursprünglich freie Termitenkönigin tut, dann tun sie sich als ausschließlich-menschliche Gemeinschaft zusammen, differenzieren sich innerhalb derselben als Berufstypen, und je ausschließlicher menschlich sie werden, desto mehr verstädtern sie. Doch bei dem Menschen ist es nicht so, dass nun schicksalsmäßig ein Rückzug zur Urnatur erfolgte, wie solchen die unbefruchtete Termitenkönigin darstellt: es kann beim ausschließlich Städtischen bleiben. Daran ändert sogar die Liebe nichts — das Wichtigste unter den Naturphänomenen, da von ihr ja der Fortbestand des Menschengeschlechtes abhängt —, denn sogar hier lässt sich der Urwald in einen Garten umgestalten. Und das ausschließlich-Städtische trägt in sich den Keim des Aussterbens durch Sterilität. Daher jenes Ruinenfeld einstmals mächtigster und irgendeinmal vollkommen aus übereinandergetürmten Bestandteilen zusammengesetzter ausgestorbener Städte, als welche sich die Kulturgeschichte, je weiter wir sie zurückverfolgen können, desto eindrucksvoller offenbart. Daher die immer erneute Eroberung einstiger Kulturstätten durch Barbaren, welche zwar anfangs ausschließlich zerstörten, deren spätere Generationen jedoch im Fall begabter Völker von der zerstörten Kultur in eine andere Zeit hinüberretteten, was davon noch lebensfähig war. Denn das Wesentliche hierbei ist dies: das endgültig verstädterte Blut wird auf die Dauer steril. Hierdurch gewinnt dann das Urige beim Menschen einen sonderlichen, in der übrigen Natur nicht vorkommenden Aspekt. Um es extrem auszudrücken: nur im nicht-Zivilisierten erhält sich das Schöpferische. Denn es gibt auf Erden nichts Schöpferisches, das nicht eben durch schöpferische Natur in die Erscheinung hineingeboren würde. Mag der absolute Geist so unbedingt schöpferisch sein, wie dies von Gott vorgestellt wird — ohne natürlichen Mutterschoß gelangt er nicht zur Manifestation. Daher der polare Zusammenhang von Urnatur und höchster Geistigkeit. Die Mutter aller Religionen ist die Wüste. Stellt das Gestein der Stadt das Gerippe nur-menschlicher Kollektivexistenz dar auf empirischem Plan, so wie das Riff dasjenige der Korallen-bauenden Polypen, so atmet das sandverwehte Steinmeer der Wüste unmittelbar den Geist der Erde als Stern unter Sternen, so wie sie vor dem Anfang des Lebens war. Dieser Geist ist, vom Zwischenreich des Menschen aus beurteilt, ein Geist der Leere, und so ruft sie alles das im Menschen wach und zur Gestaltung, was jenseits des Menschlich-Natürlichen west. Im Reisetagebuch schrieb ich, da ich zum ersten Male den Geist der Wüste einsog:

Unglaubwürdig weit erscheint der Raum, fast ins Unräumliche hinübergesteigert. Eine Art horror vacui überkommt mich. Mir ist, als schriee diese tote Welt nach Leben: krampfhaft drängt es mich, wie den Dschinn aus der Flasche, die ihn einschloss, aus meinem Körpergehäuse hinaus, zu wachsen, mich auszudehnen, bis dass die Leere ausgefüllt wäre. Und siehe! Aus meinen Wehen heraus verdichtet sich, vor mir, über mir, zwischen Himmel und Erde, begrenzt und doch allerfüllend, eine ungeheure Gestalt. Die Gestalt Eines, dessen Leib einer Gewitterwolke gleicht, dessen Wesen die Gespanntheit verhaltener Gewalttätigkeit ist. Noch kürzlich war Er gar nicht da; und doch, so wie Er da ist, erscheint Er als Mittelpunkt der Welt. Er, der Allzupersönliche, als Seele dieses unpersönlichen Alls! Also bedeutet das große Schweigen nur das Anhalten des Atems vor dem Sturm, diese tiefe feierliche Stille nur das Aussetzen jähen Verhängnisses. Was geschieht, wenn Der da oben in Zorn entbrennt? — In der Wüste erhebt sich der Samum, fegt der Sandsturm die Dünen fort… Das ist der Gott, zu dem die Wüstenvölker beten. Überall, wo der phantasiebegabte Mensch sich hineinlebt in das ihn umgebende All, bringt dieses Götter und Geister hervor. Je nach der Sonderart der Eltern werden besondere Wesen geboren: bald überwiegt das mütterliche, bald das väterliche Blut. In Griechenland sind die Götter nach dem Vater geraten; bei ihnen treten die Züge der Mutter nur undeutlich hervor; fast scheint es, als hätte sie beliebig sein können. Im Falle der Wüstengottheiten hat die Mutter den Charakter bestimmt. Unaufhaltsam, wie naturnotwendig, strahlt die Sandfläche die Gebilde gewalttätiger Himmelsdespoten aus. Dieses tote Universum schreit nach Leben, dieses starre, ewige Gleichgewicht nach Willkür zur Ergänzung, diese Stille ankt nach dem Sturm. —

Wie oft sehne ich mich jetzt, wo ich alt werde und fühle, dass die letzten Offenbarungen, die mir beschieden sind, nun bald kommen müssten, nach dieser Atmosphäre, die wie keine andere die religiöse Tiefe an die Oberfläche beschwört! Auch die besten Teile des Reisetagebuches schrieb ich in ihrer Luft, und schadete mir Nordamerika so wenig vor allem dank wochenlanger Erholung in der kalifornischen Wüste… Ist so die Wüste die Mutterlandschaft der Religion, so ist jede wilde Natur der Hort des Elementaren; stellt alle Mythologie sie als von Göttern und Geistern bevölkert vor, so spricht sie in ihrer besonderen Sprache wahr. Denn die wilde Natur ist nichts als ein Kosmos von Elementarwesen und -trieben, und diese sind auch beim Menschen die einzig schöpferischen. Wenn die meisten, wenn nicht alle großen Offenbarungen aus warmen Gegenden stammen, so liegt das einfach daran, dass im Norden ein völlig unzivilisiertes Leben unmöglich ist. Es ist nicht möglich, von heute auf morgen, wenn einen der Geist gerade treibt, ohne Gepäck und Troß, welches die Römer so richtig impedimenta hießen, in die Wälder zu ziehen, in welchen es der Heizung nicht bedarf, Kleidung überflüssig ist und das, was ungepflegte Natur bietet, unter allen Umständen vor dem Verhungern sichert. Wer diese Zusammenhänge nicht verstehen will und von der Kultur alles erwartet und vom willentlichen Einsatz, der lese im Buch vom persönlichen Leben den Nachweis dessen nach, dass der Mensch in allen Hinsichten die Beziehung ist zwischen Ich und Nicht-Ich. Als Bewohner der Stadt ist er Interferenzprodukt aller dort wohnenden Menschengeister. In der wilden Natur hingegen finden seine Urtriebe Nahrung und Halt. So muss es den Menschen immer mehr, je mehr er sich verstädtert, als Kompensation zur wilden Natur ziehen, und ich könnte mir denken, dass aus unbewusstem, aber richtigem Instinkt heraus Kulturen von höchstem Wert von Menschen vernichtet würden, nur weil sie fühlen, dass deren Fortbestehen ihr Fortleben gefährden würde. Hier liegt wohl eine und wahrscheinlich die tiefste Ursache der beispiellosen Zerstörungswut der zivilisierten Menschheit während des zweiten Weltkriegs. Schon dieser eine Umstand spricht dafür, dass die Überlebenden (je jünger diese, desto mehr natürlich) in Regionen der Zerstörung nicht etwa deprimiert, sondern besonders zukunftsgewiss sind. Einen Ingenieur hörte ich einmal sagen:

Gott sei Dank, dass es so viel neu aufzubauen geben wird, so wird man endlich ohne Hindernis neue zeitgemäße Ideen verwirklichen können, und vor allem wird es in absehbarer Zeit keine Arbeitslosigkeit mehr geben. Überdies macht sich der Krieg unter den neuen Umständen gerade in Funktion seines Vernichtungswerks bezahlt.

Ein zufällig zuhörender Arbeiter nickte beifällig. Viele junge Mädchen meiner Bekanntschaft sahen im Löschen von Brandbomben eine Hetz und eine herrliche neue Gelegenheit zum Flirten. Von diesen Erfahrung her verstand ich die phantastische Zukunftsfreudigkeit der russischen Jugend, welche mir früher völlig grundlos erschien… Doch mit dem Gesagten ist das Verhältnis zwischen Städtertum und Urigkeit noch nicht erschöpft. Goethe pflegte, wie schon mehrfach gesagt, nicht zwischen Genie und Talent, sondern zwischen Natur und Talent zu unterscheiden. Auch hier traf er mit seinem wunderbaren Wortinstinkt das Wesentliche. Was den Schöpfer macht, und sei er sonst noch so zivilisiert, ist eben das Ur-Naturhafte in ihm. Nur wer den Müttern nahe ist, oder vielmehr wer selber potentielle Mutter ist, kann vom Geist befruchtet werden. So finden wir, dass alle großen Initiativen der Geschichte von letztlich — — Unzivilisierten herrühren. Alle großen Emporkömmlinge der Geschichte waren Machttrieb-besessen. Alle Religionsstifter waren Verächter des Gerechten als Hüter bestehender Menschenordnung. Alle Philosophen waren wenigstens als Geister Verneiner der Grenzen, welche Menschenordnung setzt, alle Künstler amoralisch und antibürgerlich. Aus allen Großen sprach irgendein Dämonisches. Was immer dieses war — es war allemal ambivalent, sowohl konstruktiv als destruktiv —: das unverkennbare Dasein dieses Dämonischen bedeutete, dass deren Träger zutiefst von Anderem gelenkt wurden als den Kräften, die in der Menschengemeinschaft normalerweise am Werke sind. Und man wähne ja nicht, dieses Dämonische sei je nur-geistigen Geblüts: noch über keinen kam Gottes Geist, dem nicht intakte und unverbildete Urtriebe Verkörperung im Erden-Leben ermöglichten. Das bedeutet die Sage, dass alle späteren Heiligen als schlechte oder böse Menschen geboren worden wären. Das bedeutet die Legende, dass Buddha und Christus mit dem Bösen zu kämpfen hatten, bevor sie ihre Erleuchtung erreichten. Das bedeutet das letztlich Amoralische, oft Kriminelle und unter allen Umständen Irrationale des jeweils Einleuchtenden des Bildes, das sich die Menschen von der Gottheit gemacht haben. Das bedeutet es, dass, je weiter ein Mensch in der Heiligung gelangt, desto stärker und drohender die in seinen Urtrieben verkörperten Dämonen werden. Urnatur und Urgeist hängen eben zusammen.

Ich bin von jeher immer wieder von Dämonen überfallen worden: schon in meiner frühesten Kindheit taten sie es, sobald es dunkel wurde, so dass ich mehrere Jahre nur bei Licht einschlafen konnte. Während der Jahre, wo ich alle meine Kräfte auf Bildung und damit Zwischenreichliches konzentrierte, zeigten sie sich selten, so dass ich im Reisetagebuch an einer Stelle (Auf dem Stillen Ozean) ehrlich schreiben konnte, sie behelligten mich nicht mehr. Seit meinem fünfzigsten Lebensjahr nun werden meine Dämonen immer mächtiger, meine angeborene Heftigkeit nimmt zu, und oft bedarf es ungeheurer Kraftanstrengung, um ein Überwältigtwerden zu verhindern. Möglicherweise hängt dies auch mit der seit den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts immer dräuender werdenden allgemeinen Revolte der Erdkräfte zusammen, die ich als Kosmopath natürlich ursprünglich miterlebe. Hauptsächlich aber liegt es sicherlich an meiner fortschreitenden Spiritualisierung. Ich bin begierig zu wissen, ob es auch für mich den kritischen Punkt gibt, wie es ihn für Jesus und Gautama offenbar gab, nach dessen Überschreitung die Dämonen endgültig besiegt erschienen.

Hermann Keyserling
Reise durch die Zeit · 1948
I. Ursprünge und Entfaltungen
© 1998- Schule des Rades
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