Schule des Rades

Hermann Keyserling

Reise durch die Zeit

I. Ursprünge und Entfaltungen

IX. Dichter und Zwischenreichs-Künstler - Künstlernatur

Mir werden häufig Gedichte, gedruckte wie ungedruckte, zugesandt, und da sich daraus oft Missverständnisse und Misshelligkeiten ergeben haben, so möchte ich einmal etwas Grundsätzliches über mein Verhältnis zu Vers und Reim sagen. Ich bin musikalisch durch und durch, aber der bloße Anblick eines Gedichtes ist mir von jeher — unsympathisch gewesen.

Zwar verschwindet die instinktive oder vorurteilsgeborene Antipathie sogleich, wenn ich entdecke, dass es sich um wirklich bedeutende und dazu mir verständliche Dichtung handelt (für viele für bedeutend geltende Dichtung, besonders lyrische, fehlt mir das Organ), aber ich für meine Person kann nur ganz wenige Gedichte der Weltliteratur als gut anerkennen; bei den allermeisten habe ich das unangenehme Gefühl, dass mir zugemutet wird, als Gereimtes zu bewundern, was in Prosa gesagt, wenn nicht ungereimt, so doch gänzlich belanglos klänge, wie dies von bloß privaten Gefühlen vom Standpunkt anderer immer gilt. Die aller-, allermeisten Gedichte stellen keine Wiedergeburten aus dem Geiste dar. Das ist nun wahrhaftig kein Wunder. Sehr wenige Worte reimen sich miteinander; nicht jedes Wort fügt sich zwanglos jedem Rhythmus ein: also muss der Vers-Künstler praktisch mit einem noch viel geringeren Wortschatze auskommen und in der Wortverknüpfung weit mehr Fertigware verwenden, als dies der sprachlich Unbegabte oder Ungebildete aus innerer Dürftigkeit tut. Man gedenke nur des Schauerlichen aller Librettos, einschließlich der Wort-Dichtungen Richard Wagners und der sehr unzulänglichen Texte der meisten Lieder — die der berühmtesten Volkslieder einbegriffen —: sie und nicht die so seltenen schönen Gedichte sind die Vorbilder der Gattung. Gewiss könnte ich hier auch die gereimten oder rhythmischen Dialoge der allermeisten Dramen nennen, von denen die meisten, vorurteilslos beurteilt, unerträglich sind — aber ich wähle absichtlich das Beispiel vertonter Dichtung: diese kann nämlich auch dann schön erscheinen, wenn die Musik gut, der Text jedoch miserabel ist und dieser mitgehört wird (was ich persönlich so selten als möglich tue): dann wirkt die allgemeine Stimmung der Dichtung oder ein einzelnes Wort als bereichernder Ober- oder Unterton der Melodie mit, und so kann die Gesamtwirkung größer und besser sein als bei reiner oder absoluter Musik. Auf diese Tatsache gründete Richard Wagner seine Konzeption des Wort-Ton-Dramas. Überschätzen nun so viele das Gedicht als solches gegenüber der Prosa, so liegt das daran, dass der bloße Rhythmus der Sprache das Erlebnis des Sinnes in ähnlichem Verstande durch das Mitschwingen von Unter- und Obertönen reicher macht, wie das Mitklingen eines an sich noch so minderwertigen Liedtextes den Gefühlsausdruck bereichert und vertieft. Hier nun bringt der Rhythmus an sich sehr tiefe Untertöne zum Mitschwingen, die bis zur Mineralität hinabreichen. Im Vortrag Erfindung und Form von Wiedergeburt habe ich mich ausführlich und von meinem Standpunkt abschließend mit diesem Problem befasst.

Es ist demnach kein Wunder, dass Gedichte als solche beliebt sind. Noch weniger verwunderlich ist es, dass die Dichtung der Prosa überall voran geht und dass Gedichte und Lieder desto mehr bedeuten, je weniger der Geist höchst-eigene Bedürfnisse hat und je weniger scharf das Wortgewissen ist. Dem Rhythmischen in mir entspricht die unbegleitete Musik am besten — so sollten wir sagen und nicht von Musikbegleitung zu Gedichten reden. Sobald ich jedoch Sinn aufnehmen soll, dann fordert meine Natur genaue Korrespondenz von Sinn und Ausdruck. Die nun kann bei Gedichten wegen der anfangs hervorgehobenen Beschränkungen (geringem Reimschatz, Angewiesensein auf bekannte Wendungen usw.) nur in einem Falle so genau sein wie bei guter Prosa: wenn ein höchstbegnadeter Dichter sich dieser Kunstform bedient. Von diesem gilt mutatis mutandis das gleiche wie vom ganz tiefen Sinneserfasser und -verwirklicher. Letzterer benötigt einen suprem geringen Wortschatz, weil jeder seiner Begriffe das Integral darstellt unzähliger möglicher Differentiale; indem er einen kurzen Satz ausspricht, verleiht er implizite ganzen Welten Ausdruck. Hierfür bietet die chinesische Weisheit den Prototyp. Gleichsinnig vermag der ganz große Dichter in den relativ sehr wenigen Wort- und Satzbildungen, welche bei vorgegebenem Rhythmus für ihn jeweils in Frage kommen, trotzdem nicht nur mehr zu sagen, als er in ausführlicher Prosa sagen könnte, sondern schlechthin alles, was in das Bereich der angeschlagenen Geist-Töne hineingehört. Daher die überwältigend große Wirkung der wirklich großen Gedichte der Weltliteratur. Diese genieße und verehre ich wie wohl wenige. Doch was soll einer, den die Natur nun einmal so veranlagt hat wie mich, mit nicht sehr großer Dichtung anfangen? — Darum urteile ich lieber gar nicht. Entweder sagen mir Gedichte nichts, oder aber ich finde sie schlechter als sie wahrscheinlich sind.

… Obiges schrieb ich einmal in der Bücherschau des Wegs zur Vollendung, jener geistigen Autobiographie, von welcher ich seit 1920 jedes Jahr eine Lieferung gleichsam dem Kreise der Schule der Weisheit vorgelegt und in der ich von Anfang an mehr Persönliches mitgeteilt und auf mehr Fragen, welche man mir stellte, geantwortet habe, als in meinen als selbständige Ganzheiten komponierten Büchern. Ich schrieb Obiges, um mich vor Ansprüchen zu schützen, denen ich keinesfalls gerecht werden konnte. Wie ich das vor Jahren Verlautbarte wieder las, nachdem ich im Buch vom Ursprung den Endausdruck für das Entscheidendste dessen, was mir von jeher unwillkürlicher Ausgangspunkt und geahntes Ziel gewesen war, gefunden hatte, da wurde mir klar, dass meine Abneigung gegen Vers und Reim überhaupt eine Manifestation unter anderen meiner Ablehnung des Zwischenreichs als letzter Instanz ist und meiner Inkompatibilität mit allen bestehenden. Diese Abneigung bezieht sich nämlich nicht allein auf Vers und Reim, sondern auf alle Kunst, die keinen reinen und unmittelbaren Geistesausdruck darstellt, welch letzteres von nicht allzuvieler gilt. Schon da ich zwanzig Jahre alt war, wunderte sich Onkel Eduard Keyserling über die seltsame Verbindung in mir von unverkennbarer Kunstbegabung und Kunstverständnis einerseits und andererseits einer gewissen Kunstfeindlichkeit. Damals, wo ich mich selbst noch gar nicht gefunden hatte, fiel weder ihm noch mir bei dieser Gelegenheit ein, dass von Plato und Tolstoi das gleiche galt und schon gar von den meisten Religionsstiftern und Reformatoren. Ich zog aus der Bemerkung meines Onkels, die ich als nicht unzutreffend anerkennen musste, lediglich die praktische Konsequenz, mich desto mehr in Kunst zu bilden, je weniger Neigung ich dazu verspürte. Bald darauf setzte meine Flaubert-Periode ein, von welcher das Kant-Kapitel berichtete; einen zweiten so überzeugten und überzeugenden Priester des Schreibens als reiner Kunst, behauptete der enzyklopädisch gebildete Chamberlain, der mich auf Flauberts Briefe hinwies, hätte es nie gegeben, und so gab ich mich seinem Einflusse ganz hin. Eben damals verbrachte ich täglich Stunden in Museen und Ausstellungen, versenkte ich mich überhaupt in alles, was für künstlerisch wertvoll galt. Es war dies eine in ihrer Art besonders puritanische Periode meines Lebens, denn Neigung war bei diesem Lernen wenig im Spiel, und die Freude, die ich dabei erlebte, hatte ihren Hauptgrund in der gelungenen Selbstüberwindung, die auf die Dauer meinen geistig-seelischen Organismus dahin umschuf, dass sich vormals unbewusste und unzugängliche Anlagen dem Bewusstsein einfügten. Dem Kinde und Jüngling hatte Dichtung gar nichts bedeutet, vom Schreiben als möglichem Kunstausdruck hatte ich vor Heidelberg nie auch nur gehört, und alle Versuche meiner Eltern, meine musikalischen und bildnerischen Talente auszubilden, von denen die letzteren gerade in meiner Kindheit erheblich schienen — mit drei Jahren war ich ein kleiner Meister im Scherenschnitt; eine alte Tante schrieb mir neulich (1943), dass ich beim Ausschneiden von Tieren immer mit dem Rücken anfing, dann die Beine umriss und ganz zuletzt den Kopf und dass die Proportionen immer gestimmt hätten —, sabotierte ich mit ebensoviel Geschick wie Konsequenz. Wie ich nun nach meiner schweren Duellverwundung im Spätherbst 1899 meine überschwengliche körperliche Vitalität zeitweilig einbüßte und mich daraufhin unwillkürlich auf den Geistigen umzentrierte, da dachte ich nur noch daran, Geolog zu werden — so stark bildete das Urige weiter den Grundton meiner Natur. Das wurde plötzlich anders, nachdem ich Chamberlain und Kassner begegnet war, aber meine Grundanlage verwandelte die veränderte Zielsetzung natürlich nicht. So sehr ich mich zeitweilig zum Ästheten stilisierte — wirklich stimmte diese Lebensform nie bei mir. Nur höchste Kunst, die ich allerdings auf allen Gebieten sogleich als solche erkannte, bedeutete mir ebensoviel und in seltenen Fällen mehr wie Natur, und alles zumal, was mit Kennertum zusammenhing, war mir schon damals in der Seele zuwider, recht eigentlich ein Greuel. Wie sehr verabscheute ich von jeher den Weinkenner, welcher nur nippt, um nachher richten und urteilen zu können, diesen voyeur auf dem Gebiete des Geschmacks, welcher durch Weingenuss weder lebendiger noch klüger wird! Der ganze Sinn des Weines liegt doch darin, dass er enthemmt und steigert… Nichtsdestoweniger galt ich in Paris und London, ja im letzten Jahre meines dortigen Aufenthaltes schon in Wien, für einen Kunstkenner, und wirklich besaß ich die meisten hierzu erforderlichen Gaben; gebrach es mir an Wissen, so ersetzte dieses in den Augen der Älteren, welche ja jungen begabten Menschen so gerne viel vorgeben, mein ursprünglicher Sinn für Qualität. Beim Qualitätssinn handelt es sich nämlich um ein Absolutes; wer ihn überhaupt hat, wird ihn in den meisten Fällen auf allen Gebieten manifestieren. Doch ich war nie ein Kenner, auf keinem Gebiet, sogar auf dem des Weines nicht, auf dem ich früh sehr gut Bescheid wusste, weil ich die bloße Einstellung des Kenners perhorreszierte. Das Fehlurteil der anderen erklärte der Umstand, dass ich in jenen Jahren körperlicher Schwächung reiner als je später als die Künstlernatur wirkte, die ich geistig-seelisch tatsächlich von jeher war — das hatte, wie aus seinen veröffentlichten Briefen hervorgeht, schon mein Großvater am kleinen Kinde bemerkt. Aber Künstlernatur und Künstlertum im üblichen Verstand sind zweierlei. Ersteres Wort ist die richtige Bezeichnung für den ursprünglich aus seinem Unbewussten lebenden, höchst beeindruckbaren und der geistig-seelischen Schöpfung fähigen Menschen überhaupt, und insofern sind auch die künstlerisch völlig uninteressierten, ja unbegabten Schöpfer physiologisch Künstlernaturen zu heißen; ich weiß von keinem, der nicht abnorm sensibel und dessen Werk nicht viel mehr der Eingebung als dem Denken und schon gar der Arbeit entsprossen wäre. Reizempfindlichkeit scheint unerlässlich zu sein, um Schöpferdrang auszulösen; keiner schafft geistig, der nicht irgend etwas in sich befreien oder loswerden will. Letzteres erklärt denn auch, warum keine große Schöpfernatur, von der ich weiß, sich für Dinge interessiert hat, die sie nicht innerlich angingen. Mich nun ging Kunst im üblichen Wortverstand so gut wie gar nichts an, außer im Sinne eines Bildungsmittels, und dessen bedurfte ich nur kurze Zeit. Dass mein Interesse für sie von Jahr zu Jahr immer mehr abnahm, lag im übrigen daran, dass ich auf allen Gebieten Genuss-unfähig war, auf denen ich Schöpferkräfte in mir walten oder wachsen fühlte. Kaum gewahrte ich etwas, was den Bereich meiner eigenen möglichen Produktivität noch so leicht berührte, so stellte ich mich unwillkürlich, aber blitzartig schnell so ein, als ob ich das Betreffende gemacht hätte oder machen könnte, arbeitete ich als Mitschöpfer für mich mit und verlor damit die psychologische Möglichkeit, das Gewahrte zu genießen. Darum verzichtete ich früh beinahe vollständig auf Theater, Konzerte und andere Abendveranstaltungen, weil mich das Mitarbeiten am Abend nach einem geistig-überwachen Tag — nie im Leben habe ich nach sieben Uhr abends Ernstes getrieben, bin aber dafür zeitlebens vom frühesten Morgen an und den ganzen Tag über zu jeder geistigen Betätigung fähig und bereit gewesen — so sehr überanstrengte, dass ich nachher nicht schlafen konnte; im übrigen aber kam nichts Bedeutsames für mich dabei heraus. Im ganzen bin ich wohl der Genuss-unfähigste Mensch, dem ich begegnet bin, und dies zwar durchaus nicht aus Prinzip oder Theorie, sondern aus ursprünglicher Anlage, trotz entgegengesetzter Gesinnung; sehr gern hätte ich von all dem Schönen und Interessanten, das mir im Lauf meines Lebens geboten wurde, so viel gehabt, dass es sich für mich gelohnt hätte, die Gelegenheit auszunutzen. Genossen habe ich zeitlebens eigentlich nur Elementares; wozu ich selbstverständlich nicht allein das Essen und Trinken rechne, sondern alles, was ein müheloses Ausströmen der eigenen Vitalität ermöglicht oder beschleunigt und damit Urtriebe und -strebungen befriedigt. In späteren Jahren ist mir übrigens klar geworden, dass ich in meiner Vorliebe für Elementares durchaus keine Anomalie darstelle, sondern im Gegenteil besonders normgerecht bin; nur hat sich diese Normgerechtheit in meinem Falle offener und ehrlicher und nicht selten auch rücksichtsloser geäußert als bei den meisten. Von jeher lag geistig Produktiven mehr als Gewinn-Strebern an materiellen Genüssen, wenigstens bedeuteten diese ihnen viel mehr, und hatten sie viel mehr von ihnen; den Extremausdruck des Gegentypus zum Menschen, welcher für den Geist lebt, den puritanischen Geschäftsmann, kennzeichnet ja gerade dies, dass er zwar reich werden, nicht jedoch seinen Reichtum genießen will; er ist eben auf seinem eigensten Schaffensgebiete ebenso normgerecht Genuss-unfähig wie der geistige Schöpfer auf dem seinen. (Hierbei gedenke man auch dessen, dass großen Köchen persönlich selten an gutem Essen liegt und dass es vor hundert Jahren mit zur Ausbildung eines Konditor-Gehilfen gehörte, dass er so lange soviel Süßigkeiten naschen durfte, bis sie ihm für immer widerwärtig wurden.) Überdies kompensiert beim Geistigen die Freude am Materiellen den körperlichen Abbauprozess, welcher immer die Erd-Grundlage geistigen Schaffens bildet. Wemgegenüber der Gewinnstreber aus den gleichen physiologischen Gründen bei genügender Allgemeinbegabung einen besonders ausgesprochenen Sinn für desinteressierte Geistigkeit hat; daher die Prädestiniertheit gerade seines Typus zum Mäzenaten. Wenn ich mich recht erinnere, so war Mäzenas ein Wucherer großen Stils, was damals nicht ebenso Häßliches wie heute bedeutete, weil die Römer eine andere Form des Leihgeschäftes nicht kannten; der Gerechte unter den Gerechten, Cato, soll bis zu vierzig Prozent Zinsen im Monat genommen haben. Noch eines, ehe ich mich von diesem kleinen, übrigens nur scheinbaren Exkurse dem eigentlichen Thema dieses Kapitels wieder zuwende; in einem überaus geistreichen Buche Vives y la gota hat Gregorio Marañón, der größte spanische Arzt, den Nachweis unternommen, dass Humor und Gicht intim zusammenhängen. Die Renaissance-Menschen waren besonders verfressen und versoffen, und die Geistigen unter ihnen — besonders häufig gichtisch. Aus dem Verzichtenmüssen auf Tafelfreuden sei laut Marañón der Humor entstanden, welcher bezeichnenderweise in unserer immer humorloser werdenden Welt nur in dem einen Land noch Nationaleigentümlichkeit ist, in welchem die anderweitig aussterbende Gicht noch häufig vorkommt: in England. Denkt man hier weiter daran, dass die Kunst des Stillebens in der Malerei in den Niederlanden zu der Zeit entstand, da die öffentliche Meinung den Genuss der guten Dinge streng missbilligte, deren Abbilder man so gern an der Wand aufhing, so gelangt man zu einer kuriosen Zusammenschau von Materiellem und Geistigem. Grundsätzlich ist der Verächter materieller Genüsse ein Geistfeind, was beinahe ausnahmslos vom Antialkoholiker aus prinzipiellen Gründen gilt; dieser hasst einfach die Ekstase als das mögliche Heraustreten aus dem Normenbereich solider Alltäglichkeit, er kasteit sich darum überhaupt nicht, indem er nicht trinkt. Bedeutet Enthaltsamkeit hingegen wirklichen Verzicht, dann kann sie zur Steigerung der Geistigkeit führen. Woraus, wenn diese Deutung richtig ist, folgen würde, dass der echte Asket ein invertierter Schlemmer ist…

Man unterscheide also wohl zwischen Künstlernatur und Sinn für eine bestimmte Art von Kunst. Man unterscheide ferner zwischen Künstlernatur und Sinn für bestimmte Kunst einerseits und Schönheitssinn andererseits. Letzterer ist ein völlig Selbständiges, wirkt und gestaltet und kontempliert unwillkürlich und unbefangen von innen heraus, sehr oft auch völlig unbewusst, so dass ein Mensch in der Schönheit und aus der Schönheit heraus und auf sie hin leben kann, ohne auch nur eine der Bedingungen zu erfüllen, welche der moderne Ästhetizismus als unerlässlich aufstellt. Der letztere Fall ist ähnlich demjenigen der Nachtigall und der natürlichen Grazie des Tiers, die Elefant und Elch in höherem Grade noch eignen kann, als Gazelle und Kolibri. Mir nun eignet, wie im Kapitel Zeitgenossen dargestellt, Schönheitssinn in so hohem Grade, dass ich nur von ihm her, alle Lebensäußerung zur Kunst formend, meine tiefsten Strebungen verwirklichen kann. Aber das geschieht eben völlig unwillkürlich bei mir. Ich kann nicht umhin, mein Leben sozusagen zu skandieren und in jeder Schrift und jeder Rede den Musiker und Plastiker in mir auszuleben. Vor allem kann ich mit anderen Menschen nur im Zeichen der Schönheit verkehren, nur schöne Geselligkeit, unter welcher ich hier natürlich geistreiche und festliche verstehe, ist mir nicht direkt lästig. Aber das ändert nichts an der vorhin besprochenen Kunstfeindlichkeit, welche sich, je näher ich meinem Ursprung komme, und je uriger ich insofern werde, immer mehr akzentuiert. — Man unterscheide endlich scharf, sehr scharf zwischen Künstlernatur und Kunstbegabung einerseits und andererseits Freude am Handwerk, am métier. Über letzteres Problem wird später mehr zu sagen sein. Hier nur soviel darüber: es ist psychologisch sehr wohl möglich, in höchstem Grade schöpferisch und ohne jede Freude am Handwerk zu sein und darum schlechte Arbeit zu leisten. Das Urbild des desinteressierten Künstlers ist nicht der Fachmann, sondern der Dilettant, der die Kunst Liebende. Wie denn auch der Begriff Fachphilosophie durch den Ursinn des griechischen Wortes (gleich Liebe zur Weisheit) als minderwertig gekennzeichnet wird. Andererseits gibt es meines Wissens keinen bedeutenden Fall, in welchem geistiges Schöpfertum nicht mit, extrem ausgedrückt, Star-Mentalität zusammengegangen wäre. Die anonymen Schöpfer unsichtbarer Bildwerke an düsteren Stellen gotischer Kathedralen fühlten sich vom Inbegriff des größten Publikums, von Gott, beachtet und schufen Ihm zur Freude; die Künstler jedoch, die sich von ihrer Mitwelt abschließen, liebäugeln desto mehr mit der Nachwelt. Es gibt keine reine Freude an der Sache, oder wo es sie gibt, bedeutet sie unmenschliche Gesinnung. Schlimm ist es um den bestellt, welcher dieses Problem mit der Feststellung von Eitelkeit gelöst sieht. In Wahrheit liegt ein ähnliches organisches Korrelationsverhältnis zwischen Künstler und Publikum und damit zwischen Schöpfern und Genießern vor, wie zwischen Bienen und Klee. Jeder geistige Schöpfer will veröffentlichen; will der Staatsmann öffentlich wirken, bedeutet ihm sein öffentliches Leben mehr als sein privates, so hat dies den genau gleichen Sinn. Aber andererseits lebt alles Publikum im weitesten Verstand von der Öffentlichkeitsfreudigkeit der geistigen Schöpfer. Womit denn die typische Genussunfähigkeit letzterer auf ihrem eigensten Gebiet einen tiefen und vollberechtigten Sinn erhält: die anderen sollen genießen.

Seitdem ich mir über dieses Grundverhältnis klar war — und in bezug auf meine eigene Natur wurde ich das, sobald ich meine erste ernstzunehmende Schöpfung, Das Gefüge der Welt, herauszustellen reif war — gab ich jegliches Bestreben auf, mich dafür zu interessieren, was mich nicht innerlich anging. Die Welt merkte wenig davon, da mich als wesentlich weltoffenen und weltfrommen Menschen von meinen Voraussetzungen her und auf meine Zielsetzungen hin schlechthin alles anging und angeht, doch um die Voraussetzungen und Zielsetzungen anderer kümmerte ich mich immer weniger. Immer weniger darum um alles fertig Herausgestellte, um welche Kunst immer es sich handelte, wogegen mich die Schöpfer selber allezeit brennend interessierten. Darum — aus den oben angeführten Erkenntnisgründen — schämte ich mich auch gar nicht meiner Neigung zum Star-Tum, so lange sie zu den Dominanten in mir gehörte — vor dem Zusammenbruch meiner baltischen Existenz war ich ausgesprochen zurückgezogen und bis zu einem gewissen Grade schüchtern gewesen, hatte ich äußerst ungern öffentlich geredet, nie nach Führertum in welcher Art auch immer gestrebt und war gar sehr erstaunt, als Isabella von Ungern-Sternberg, die bedeutendste direkte Schülerin Crépieux-Jamins und damalige Vizepräsidentin der Graphologischen Gesellschaft, schon 1903 aus meiner Handschrift ein ausgesprochenes Rednertalent herauslas; und nach 1933 starb die betreffende Neigung von selber langsam ab. Und ebensowenig schämte ich mich meiner wachsenden Desinteressiertheit fertiger Gestaltung gegenüber, denn ich wusste ja, dass diese durch die Genussunfähigkeit des Schöpfers bedingt ist; zumal diese Interesselosigkeit immer mehr auch mein eigenes Werk betraf. Am Gefüge der Welt hatte ich eine sehr große Freude gehabt. Von Jahr zu Jahr aber wurde mir meine vollendete Leistung immer gleichgültiger; immer schneller und vollständiger vergaß ich fortlaufend, was mir eingefallen war, ja ich vergaß es oft, bevor ich es ganz verstanden hatte. Sehr weit ging dieses nicht-Verstehen in meinem Falle freilich nie, weil ich eben ursprünglich Versteher war. Nie so weit zum Beispiel wie bei Rainer Maria Rilke, welcher immer wieder zugab, sein eigenes Tiefstes gar nicht fassen zu können und in aller Demut einen desto größeren Kult damit trieb; oder gar wie bei Heinrich Zimmer, dem vielversprechenden, leider lange bevor er sein Eigenstes geben konnte, verstorbenen Indologen, der im Gespräch ununterbrochen die herrlichsten echt-indischen Mythen als eigene Einfälle produzierte, gleichwie andere am Klavier phantasieren, und welchem diese Mythen persönlich gar nichts sagten. Wie ich bei einem Darmstädter Symposion, auf welchem Zimmer besonders brillant war, ein ganz herrliches Gleichnis, welches er mit seinem merkwürdigen, scheinbar zahnlosen karpfenartigen Munde nur so herausplapperte, begeistert festhalten wollte, rief er erstaunt:

Ach, dieses Gleichnis sagt Ihnen etwas? Wie interessant! Vielleicht ist wirklich etwas daran, mir fiel es nur so ein,

worauf er sich geschwind dem ehrlich geliebten Weine wieder zuwandte. — Wie gesagt, so verständnislos wie Rilke und Zimmer, die ich als nicht einmal besonders typische Beispiele einer überaus häufigen Erscheinung anführe, stand ich nie dem eigenen Werke gegenüber. Dafür habe ich ihm gegenüber besonders wenig Vater- und Muttergefühle aufgebracht. Und je näher ich dem kam, wem ich von Anbeginn meiner geistigen Laufbahn an als Anfang und Ende zugleich zustrebte, wofür ich zuerst den Terminus Sinn verwendete, dem aber der letztgeprägte Begriff Ursprung wohl am besten entsprechen dürfte, desto gleichgültiger und letztlich feindlicher stand ich allem Zwischenreichlichen gegenüber, zu welchem der weitaus größte Teil aller Kunst gehört. Womit ich beim Ausgangspunkt dieses Kapitels zurückgelangt bin.

Hermann Keyserling
Reise durch die Zeit · 1948
I. Ursprünge und Entfaltungen
© 1998- Schule des Rades
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