Schule des Rades

Hermann Keyserling

Reise durch die Zeit

I. Ursprünge und Entfaltungen

X. Mütter - Polarisation

Der Ur-Plan vorliegenden Erinnerungsbuches besonderer Art, der mir an einem schönen Junimorgen des Jahres 1936 einfiel, war der folgende: mich selbst in Polarisation mit den Zeitgenossen darzustellen, welche mir, solange sie noch lebten, etwas bedeutet haben, und dies zwar unabhängig davon, ob ich sie persönlich gekannt hatte und wie gut. Ein knappes Jahr später schrieb ich dann zur eigenen Orientierung eine (im ganzen überholte) Einführung in das damals noch nicht einmal begonnene Buch, dessen Titel zuerst Zeitgenossen heißen sollte, von der jedoch ein Teil noch jetzt die beste Einführung in den Sinn des Ganzen darstellt. Von dieser will ich jetzt, aber jetzt erst, zu Beginn des letzten Kapitels dieses ersten Bandes, die folgenden Gedankengänge übernehmen. Mir scheint es nämlich zweckmäßiger, von der Absicht dann erst Kenntnis zu nehmen, wenn sie zum Teil bereits ausgeführt worden ist:

Die Grundgedanken, welche vom Unbewussten her zu meinem Plane führten, waren die folgenden. Zum ersten: die bloße Qualität des noch-lebendig-Seins oder des persönlich-erlebt-Habens schafft eine sonderliche Situation, welche kein Nachfahre je rekonstruieren kann. Diese Situation besteht grundsätzlich unabhängig von der Nähe der Berührung und Berührtheit und schafft von sich aus eine ursprüngliche existentielle Beziehung, die sich naturnotwendig, ob in ihrer Eigenart erkannt oder unerkannt, schöpferisch auswirkt. Alle bedeutenden Mit-Lebenden sind darum für jeden, der überhaupt in das Bereich ihres natürlichen Wirkungskreises gehört, Elemente des ihn bedingenden Zeitgeists. Doch dieses gilt eben nur von den Mit-Lebenden: zu keinem vor der eigenen Geburt ins Leben Verstorbenen besteht die gleiche Beziehung, denn der Tod zerschneidet eben das Band der Zeitgenossenschaft. Mag dann erst die rein geistige Wirkung einsetzen — wer zu den Göttern abberufen ward, erleidet damit eine Apotheose, welche das Erd-Bild verwischt. Und dies hat nicht bloß den meist allein bemerkten guten Sinn, dass Allzumenschliches abfällt — es hat auch den, dass wesentliche Kräfte zu wirken aufhören. Das Problem von Jesu Gottmenschentum wäre längst richtiger gestellt und tiefer verstanden worden, wüßten wir mehr von ihm und Authentischeres aus dem Munde derer, die ihn bei Lebzeiten kannten, nicht anerkannten und hassen mussten.
Zum zweiten: die Person ist in keiner Hinsicht letzte Instanz, so dass derjenige notwendig ein falsches Bild gewinnt und vermittelt, welcher ausschließlich von ihr her oder auf sie hin die Geschichte sieht. Im Buch vom persönlichen Leben habe ich ausführlich gezeigt, inwiefern der Mensch keine Monade, sondern eine Beziehung ist, und brauche deshalb dieses Grundsätzliche hier nicht nochmals zu behandeln. Im besonderen historischen Zusammenhang gilt nun das Folgende, was von besagten grundsätzlichen Einsichten her über diese hinausführt. Persönlichkeit und Schicksal bilden sich allemal in Korrelation miteinander. Ludwig Klages schrieb einmal:
Den Charakter modelt von innen das organische Wachstum des Leibes; von außen, was immer ihm neue Gewohnheiten aufzudrängen imstande ist: ein körperlicher Unfall, Armut, Reichtum, ein Amt, eine Einsiedelei, am dauerndsten und mächtigsten vielleicht die Rechtsatmosphäre, die er atmet.
Der Charakter ist das vom Wesen her beurteilt Oberflächlichste an einem Menschen: trotzdem setze ich Klages’ Feststellung hierher, weil sie ob ihrer Nachkontrollierbarkeit durch jedermann ein gutes und breites Eingangstor zum Verständnis der wesentlichen Beziehung zwischen Ich und nicht-Ich darstellt. Allemal besteht zwischen diesen ein polarer Zusammenhang der Art, dass ein Pol den ihm entsprechenden Gegenpol weckt und bei genügender Eigenkraft sogar schafft. Nur unentrinnbares, durch keine Verstellung und Vorstellung zu eskamotierendes Schicksal zeitigt tiefe Wandlung. Umgekehrt kann übermächtiger Glaube Berge versetzen. Nie jedoch kann man ein gegebenes Ergebnis auf einen Pol allein als primus movens zurückbeziehen: der Mensch als Erscheinung ist so unaustrennbar verwoben in die Gesamtheit des Weltprozesses, dass auch der jeweils passiv erscheinende Pol seinem Sosein entsprechend gleichberechtigt bei der Persönlichkeitsbildung mitwirkt. Was nun schon auf der Ebene der Tatsachen gilt, gilt erst recht auf derjenigen des Sinnes: hier kann zwischen Ich und nicht-Ich kaum überhaupt geschieden werden, denn zu beiden besteht vom geistigen Selbst her die gleiche Distanz. Einem Menschen mag sein ausschließlich-Persönliches, und handle es sich um seinen Körper, alles bedeuten, einem anderen ein geliebtes Wesen, eine Aufgabe, eine Idee: sogar der erstgenannte ist nie buchstäblich egozentrisch; gerade dem, welcher seiner körperlichen Schönheit lebt, bedeutet das Ansehen am meisten. Allgemein gesprochen: es ist nicht nur so, wie Marc Aurel es sagte:
Sieh die Dinge von einer neuen Seite an, denn das heißt eben, ein neues Leben beginnen —
genau gleichsinnig bestimmt und verwandelt jeden die Art, wie andere ihn ansehen. So braucht der Religionsstifter den Glauben seiner Jünger, der Führer Gefolgschaft, um ganz er selbst zu werden. Unter diesen Umständen, über deren Grundsätzliches ich mich hier nicht weiter ausbreiten möchte, kann offenbar kein Mensch außer Beziehung mit seinem Gesamtschicksal richtig bestimmt werden. Keiner setzt sich je von seinem Ich aus durch, jeder ist als Erscheinung ein Konstellations- und Konjunkturprodukt und selbständig nur nicht allein proportional dem spezifischen Gewichte seines Selbstes, sondern auch proportional dem Umfang des nicht-Ich, das er in seinen persönlichen Bannkreis zieht und zu sich rechnet. Diese Unmöglichkeit, das nicht-Ich vom betrachteten Ich abzublenden, ohne dass letzteres dadurch verfälscht würde, nimmt nun zu und nicht ab proportional der Geistigkeit einer Persönlichkeit. Wie kein echter Staatsmann, abgesehen vom Völkerschicksal, welches er meistert, als Person richtig verstanden werden kann, so kann es kein Geist überhaupt außerhalb der Beziehung, zu der er zu anderen Geistern stand, die ihm etwas bedeuteten. Denn auch das Sachliche am Geist wirkt lebendig nur durch Persönliches hindurch. Von hier aus leuchtet denn die ausschlaggebende Bedeutung der Zeitgenossenschaft in ihrer ganzen Tiefe ein. Gleichzeitig jedoch wird klar, warum keiner sich selbst je wirklichkeitsgemäß dargestellt hat, welcher sich selber gleichsam zum Porträt saß: die entscheidenden Beziehungen, die seinen Ausdruck bestimmen, mussten ihm dabei entgehen. Léon Chestoff war es, glaube ich, der zuerst richtig bemerkt hat, dass jeder Roman mehr Wahrheit über den Verfasser aussagt, als eine Selbstbiographie. Allzuleicht, in der Tat, findet das Unbewusste im Falle solcher Mittel und Wege zur Beschönigung, oder aber, wo diese Gefahr erkannt und ihr absichtlich vorgebeugt wird, zu einer Selbst-Bloßstellung und Verhäßlichung, in der sich noch primitivere Eitelkeit auslebt; der früheste Exhibitionismus geht ja gerade auf das Schmutzige. Doch das hiermit Angedeutete betrifft wieder nur die charakterologische und damit die oberflächlichste Seite des Problems. Dessen wesentlicher und entscheidender Aspekt ist der, dass es schlechterdings unmöglich ist, sich selber bei ausschließlicher Zentrierung der Aufmerksamkeit auf das Ich richtig zu sehen, weil einem so Wichtigstes naturnotwendig entgeht. Man muss unmittelbar nicht auf sich, sondern auf anderes zielen, wenn man sich selber richtig bestimmen will. Dabei aber sollte man seinen Rahmen so weit spannen, als der Erlebnishorizont irgend gestattet, denn je mehr Welt und Schicksal mitberücksichtigt werden, desto sicherer wird gerade das Einzige bestimmt.
Das Kraftfeld meines ursprünglichen Erlebens wird nun in allen Fällen nicht nur tatsächlich, sondern auch für mein Bewusstsein durch die drei Koordinaten des kosmisch, des historisch und des persönlich Bedeutsamen auf einmal bestimmt. Nur-Persönliches, sogar wo es sich hochnotpeinlich um Leib und Leben meines Ich handelte, hat mir nie viel bedeutet; allzeit habe ich sogar das Intimste von überpersönlichem Zusammenhang her erlebt. Andererseits hat mich alles Historische und Kosmische durch Persönlichkeit, die es für mich vertrat, hindurch berührt, handele es sich dabei um fremde oder eigene. Unter diesen Umständen konnte ich, so wie ich einmal bin, rein theoretisch geurteilt, keinen besseren Weg zu wahrhaftiger Selbstdarstellung finden, als den rückschauender Polarisierung mit allen Zeitgenossen, die mir bedeutsam wurden im weiten Rahmen der sich folgenden kosmischen und historischen Konstellationen. Und konnte ich ihn gehen, so musste dies naturnotwendig zu einem Reisetagebuche durch die Zeit führen, das in anderer Dimension demjenigen durch den Raum, in welchem ich mich zum Zweck der Selbstverwirklichung mit fremden Kontinenten und Kulturen polarisierte, auf neuer Ebene genau entsprach. Und indem es mir die Beziehung zwischen meinem Selbst und meinem Schicksal bewusst machte, musste es, so glaubte ich fest, sobald mir der Plan zum ersten Male deutlich ward, für mich selber eine Basis schaffen für neuen Fortschritt.
Im Herbst 1936 schritt ich, zuerst tastend, versuchend, das meiste zuerst Niedergeschriebene verwerfend, an die Ausführung des Planes. Anfangs ging es nur sehr mühsam vorwärts, so sehr widerstrebte mir das Rückbeschwören von Vergangenem. Doch bald sah ich, dass gerade der Zwang, den ich mir auferlegen musste, heilsam wirkte: mir wurden Aus- und Einblicke allgemeiner Art zuteil, die sich mir sonst kaum eröffnet hätten, und vom Allgemeinen her verstand ich mein Besonderes tiefer als zuvor. Auf die Dauer schuf der Zwang eine neue Art Gelöstheit: insofern ich durch keinen früheren gewohnten Rahmen eingestellt, gerichtet und beengt wurde, konnte ich, ohne dass dies den Rahmen sprengte, zusammenbringen, was sich sonst ausgeschlossen hätte, und vor allein vieles überhaupt sagen, was ich früher verschweigen musste. Ich konnte Intimstes und Öffentlichstes, Weitestes und Engstes, Abstraktes und Konkretes in ihrer lebendigen Beziehung zueinander darstellen, so wie ich es für mich immer erlebt und zusammengeschaut habe, und so Korrelationen feststellen, von denen die meisten keine Ahnung haben. Ich konnte — bei meiner improvisatorischen und diskontinuierlichen Art des Schaffens ein wichtigstes Moment — jeden Gegenstand genau dann behandeln, wenn er mich am nächsten anging, und dabei in dem Zusammenhang, der die Herausarbeitung des für mich Bedeutsamen am besten gewährleistete; ich konnte dergestalt das Gesamtproblem meines Lebens in Form einer Folge in sich vollständiger und ausschließlicher Einzelansichten behandeln, die sich gegenseitig ergänzen. Alles in allem: ich konnte meinem Geist zum ersten Male nach dem Reisetagebuch, und dabei noch mehr als dazumal, den Spielraum und die Freiheit gewähren, die seiner Neigung entsprechen. —

Mich deucht, wer die vorhergehenden neun Kapitel offenen Geistes und mit empfänglicher Seele in sich aufnahm, dem wird, falls er vorher nicht vollständig verstand, aus obigem Zitat heraus der sonderliche Sinn der Vielfalt dessen, was jedes einzelne Kapitel in dennoch einheitlichem Zusammenhang umfasste, jetzt wohl einleuchten. Wohl habe ich bei der Endredaktion den Rahmen weiter gespannt, ja im ganzen überhaupt einen anderen gewählt, als er anfänglich vorgesehen war. Für die Kapitel jedoch, in denen wirklich Zeitgenossenschaft das eigentümliche Kraftfeld schafft, spricht die 1936 geschriebene erste Einführung durchaus wahr.

Es gibt nun in diesem Verstande keine wesentlichere Zeitgenossenschaft als die, welche Eltern und Kinder miteinander verbindet. Und zwar gilt dies in jedem Fall nach beiden Richtungen: auf die eigenen Eltern wie auf die eigenen Kinder hin. Im Kapitel Vorfahren habe ich im Ganzen mein Verhältnis zur Vater-Welt behandelt. Das normale Verhältnis zwischen Vater und Sohn ist ein wesentlich distanziertes; so ergab sich aus dem Gegenstand der damaligen Betrachtung ganz von selbst mythologisierende Darstellung. Demgegenüber steht das normale Verhältnis von Mutter und Sohn im Zeichen der Intimität. Darum ist das Mutter-Sohn-Verhältnis das wichtigste aller Zeitgenossenschaften und dringt keine Darstellung bis zu den Urtiefen eines Lebens vor, welche dieses Verhältnis nicht richtig erfasst und deutet. In meinem Fall nun hat mein Verhältnis zur Mutter mehr noch als bei allen mir bekannten Männern vom geistigen Rang der Gegenwart und Vergangenheit eine entscheidende Rolle gespielt, und dies zwar deshalb, weil es im Zeichen eines unlösbaren und tatsächlich nie gelösten Konfliktes stand. Das wichtigste Intimitätsverhältnis meines Lebens ist, in astrologischer Metapher ausgedrückt, rein negativ aspektiert gewesen. Andererseits aber ist das meiste spätere Positive aus diesem unabänderlich-Negativen hervorgewachsen.

Doch es fällt mir schwer, angemessen über diesen Problemkreis zu schreiben. Nicht weil ich mich scheute, Intimitäten ans Licht zu ziehen — wie ich hierüber denke, habe ich in der (diesem Bande vorgedruckten endgültigen) Einführung ein für allemal gesagt. Auch nicht, weil ich einerseits meiner Mutter, andererseits mir selbst durch Lüftung des Schleiers, welchen wenige jemals vom Privatesten, was es gibt, gelüftet haben, schaden könnte. Ich selber bin meiner Überzeugung nach vor allem dazu da, gerade die Produktivität des Unzulänglichen zu erweisen; was aber den anderen Teil betrifft, so stellt sich die Frage der Schädigung von Toten überhaupt nicht; die sind über alles, was auf Erden peinlich ist, hinaus, und können sich im übrigen, wo nötig, besser wehren als Lebende. Schwer fällt mir die Behandlung der Mutter-Sohn-Beziehung in meinem Fall darum, weil diese Beziehung, gerade weil sie der Ebene intimster Intimität angehört, noch mythologischer im Gegensatz zu wissenschaftlich exakter Empirie ist, als die Beziehung von Vater und Sohn. Da zwischen letzteren normalerweise ein vom Bewusstsein erkanntes und anerkanntes Distanzverhältnis obwaltet, so werden die wahren Verhältnisse zwar übersteigert, trotzdem aber ursprünglich Sinn-, wenn nicht Tatsachengerecht wahrgenommen; wozu man Distanz hat, sieht man eben außer sich und damit deutlich vor sich. Demgegenüber besteht die Urbindung zwischen Mutter und Kind von Unbewusstem zu Unbewusstem; die Tatsächlichkeit der Mutter als einer Frau unter anderen wird seitens eines normal eingestellten Kindes primär überhaupt nicht wahrgenommen, sondern einzig das geheimnisvolle Band dunkel und dumpf gefühlt zwischen der allmächtigen Gebärerin zu dem sich langsam von ihr ablösenden Geschöpf, welches geheimnisvolle und nie deutlich zu realisierende Band von sich aus Tatsachen-blind macht. Bevor ich an die Endfassung vorliegenden Kapitels schritt, bat ich die ausdrucksfähigsten unter den wenigen noch lebenden Verwandten, welche Zeugen meiner Kindheit und Jugend gewesen waren, mir möglichst viel Tatsächliches über Vater und Mutter und die späteren Familienkonflikte zu schreiben, wobei ich soweit, aber nur insoweit mithalf, dass ich bestimmte Fragen stellte hinsichtlich Situationen, von denen ich nicht sicher war, dass ich sie damals ganz erfasst hatte, und in bezug auf Einzelzüge, die ich vielleicht nicht richtig erinnerte: obgleich die Antworten nur Tatbestände offenbarten, die ich genau hätte kennen, nicht nur können, sondern müssen, war ich durch jene dennoch überrascht, denn auf die einfachen und dabei richtigen Deutungen, die meine alten Tanten mir gaben, war ich von selber nicht gekommen und hätte es ohne deren Hilfe wahrscheinlich nie getan: so groß und unbedingt ist der Primat des Mythischen und Archetypischen in der Mutter-Kind-Beziehung. Ich weiß, von Müttern und Kindern jüngster Fabrikmarke — von Vätern und Söhnen zu schweigen, darüber habe ich mich im Kapitel Eltern und Kinder der Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit ausführlich ausgelassen — gilt das Gesagte in hohem Grade nicht. Aber das bedeutet ein absolutes und unheilschwangeres Unglück: denn die Beziehung von Mutter und Kind ist wesentlich mysteriöser Art, von den äußerlich feststellbaren Tatsachen her überhaupt nicht wahrzunehmen und auf sie nicht zu begründen. Es ist und bleibt ein unauflösbares Mysterium, dass ein Wesen ein anderes in die Welt zaubern und seither eine irrationale Bindung einziger Art, welche stärker als alle Vernunft und zugleich blinder als alles Dunkel ist, bestehen kann. Sobald dieses seitens der Eltern oder der Kinder nicht wahrgenommen und nicht anerkannt wird, setzen für die Entwicklung der Seele wesentlichste Kräfte und Kausalreihen nicht ein; unweigerlich kommt es da zu pathologischen Verbildungen, deren mildeste vollkommene Veroberflächlichung ist. Gewöhnlich aber kommt es zu richtigen Zersetzungserscheinungen der Seele, welche leicht auch den Körper in Mitleidenschaft ziehen, da sie die Wurzel des Erd-Ursprungs des Menschen betreffen. So kann bloße objektive Kritik der Mutter seitens der Kinder diesen ihre Tiefeneinstellung zum Leben nehmen, denn die tiefsten Vitalzusammenhänge vertragen keine Belichtung und jede Distanzierung bedeutet hier Selbst-Abschnürung vom eigenen Ursprung. In diesem Zusammenhang ist jedes abergläubische Verhältnis besser als ein wissenschaftlich-objektives. Wie denn auch Ehen dort allein glücklich sind, wo in der Ehe ein Sakrament gesehen wird. — Aber noch furchtbarer, nur freilich nicht oberflächlicher, sondern abgrundtiefer Art sind die Folgen, wenn ein Mutter-Sohn-Verhältnis tief wurzelt und diese Tiefenbeziehung verbogen oder verdorben wird. Hiervon handeln so viele allbekannte Mythen, dass ich auf sie als Erläuterung dessen, was ich meine, nicht einmal hinweisen mag, zumal es hier darauf ankommt, das Wirkliche nicht durch Projektion auf mythische Gestalten und Zusammenhänge zu irrealisieren, sondern gerade der massiven Wirklichkeit innezuwerden, die den fraglichen Mythen zugrunde liegt. In meinem Falle nun bestand in meiner Kindheit die normale Mythos-gerechte Ur-Situation zwischen Eltern und Kindern aus einem besonderen Grunde besonders rein: weil in unserem Kreise alle Beziehung von Mensch zu Mensch im Zeichen der Ehrfurcht vor der Persönlichkeit stand. Mein Vater erlaubte grundsätzlich nicht, dass in seinem Hause an Bekannten Kritik geübt würde; alles hierher Gehörige beurteilte er als Klatsch, welchem zu frönen unvornehm sei. Aber auch abgesehen davon bedingte es die selbstverständlich wirkende Tradition unserer Familie, dass jeder einzelne gelten gelassen wurde, so wie er einmal war, gleichwie Achilleus und Hektor und Odysseus und Nausikaa einander selbstverständlich, so wie sie waren, als Sosein, Sein, Stellung gelten ließen, ob sie einander im übrigen Freund waren oder Feind. Jedem wurde seine Eigenart einfach zugestanden; Nichtbeachtung von Fehlern war kategorischer Imperativ. An Kindern wurde freilich weidlich herumerzogen, nie jedoch über die Grenze hinaus, wo das Sanktum der Persönlichkeit beginnt. So wurde auch Kindern ihre Eigenart unabhängig von ihrem Alter — wie blödsinnig sind doch die Älteren, die in jungen Menschen in erster Linie das Kind, den Schüler, den Studenten sehen; als ob ein genial Begabter nicht schon mit zehn Jahren interessanter und in all seinen Äußerungen beachtenswerter wäre, als ein sechzigjähriger Durchschnittsmensch höchster sozialer Bewährung! — selbstverständlich zugestanden; woraus allein sich schon der unvergleichliche Reichtum an vollausgeschlagenen Individualitäten und differenzierten Persönlichkeiten innerhalb der baltischen Herrenschicht erklärt. Ich war als Kind und Adoleszent für meine Jahre ganz unwahrscheinlich unentwickelt, und dennoch versuchten meine an sich von Anlage eher gewalttätigen und sehr ironischen Onkel nie, mich durch rohen oder auch nur rauhen Zugriff meinen Vettern und Altersgenossen gleichzuschalten. Diese selbstverständliche Atmosphäre der Ehrfurcht kam natürlich in erster Linie den Bereitschaften und Bindungen, die ich die mythologischen hieß, zugute; sie konnten sich trotz der Verstandeshelle, welche sonst bei uns herrschte, so auswirken, wie nur je in auf mythischer Grundlage hierarchisierten Familienverbänden. Damit war mein Kindheitsleben und -erleben viel reicher als das moderner Kinder. Bei mir nun, der ich auch von Anlage beobachtend und kritisch war und wenig autoritätsgläubig, ergab dies andererseits von Hause aus eine gewisse Spaltung und Diskrepanz. Ich kritisierte zwar nicht, aber ich diskriminierte von vorneherein. Und dort, wo ich richtig diskriminierte, stieß ich auf störende Widersprüche sowohl außer wie in mir. Doch im allgemeinen diskriminierte ich nicht richtig, weil die Ehrfurcht verbot, manches klar zu sehen. Sehr vieles war einfach tabu. Eben darum konnte es geschehen, dass mich Verwandte, wie ich schon 63 Jahre alt war, über den Sinn vieler Tatsachen, deren ich mich doch genau erinnerte, zum ersten Male aufklärten. Im Grunde habe ich noch heute ein schlechtes Gewissen, wenn ich an meinen Eltern, zumal an meiner Mutter, überhaupt Kritik übe: so tief sitzt der Orestes in jedem, der in vollem Bewusstsein der Sohnschaft überhaupt mit seiner Mutter in Konflikt geriet. Aber im ganzen kann ich für weniges so dankbar sein, als dafür, dass gerade ich mit meinem Bedürfnis nach restloser Klarheit und Belichtung alles Dunklen ein so tiefes Verhältnis zu den undurchdringlichen mythischen und archetypischen Bindungen gewonnen habe. Dank dem vor allem vermag ich das Sinnhafte und andererseits das nur-Erdhafte in meinen späteren Jahren so unbefangen zu sehen. Und dann kann ich nie dankbar genug dafür sein, dass ich das Mutter-Kind-Verhältnis überhaupt so tief erlebt habe. Die meisten Jüngsten, die ich neuerdings zusehen bekomme, reden über ihre Eltern nicht viel anders als über Pferdehändler, denen gegenüber sie ihren Vorteil zu wahren hätten. Solche haben das der Erde zu Tiefste in sich abgeblendet. Und werden einmal durch seelische Entleerung und Verödung furchtbar dafür büßen müssen.

Hermann Keyserling
Reise durch die Zeit · 1948
I. Ursprünge und Entfaltungen
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